Einsam und Allein

Liebesbrief zum Thema Existenz

von  Terminator

Lange Zeit war ich allein, aber nicht einsam. Seit kurzer Zeit bin ich einsam und es fühlt sich gut an. Besonders erhaben, wenn ich allein bin. Ich will nur noch allein sein, zu keinem Wir gehören. Es hat ja schon einmal funktioniert: wir waren ein Freundeskreis aus Individuen, keine Gruppe, jeder für sich. Wir sprachen über Philosophie und Religion, später über Männer und Frauen, waren uns einig in der Kritik des Gynozentrismus und der linksliberalen Politik. Dabei hatte jeder völlig unterschiedliche Ansichten über Gesellschaft, Technologie, die richtige Lebensart. Der Vorteil war: es gab keine gemeinsame Sache, die jemand von uns hätte verraten können. Jeder war allein. Wir tauschten Meinungen aus, oft die gleichen, und hatten sogar einen einem Philosophen gewidmeten Philosophenkreis. Und doch waren wir keine Gruppe, die gemeinsame Ziele oder Werte hätte, sondern Individuen, die in vielem übereinstimmten, sodass nur dann einer den anderen hätte verraten können, wenn er ihn privat und persönlich angegriffen hätte. Aber aus welchem Grund denn? Zum Teufel, es waren nicht einmal zu einem bestimmten Zeitpunkt zwei von uns in dieselbe Frau verknallt!


Ich bin nicht allein genug, das muss sich wieder ändern. Ich habe gute, sehr gute Freunde. In letzter Zeit war ich oft weder allein noch einsam, so als würde ich mein inneres Wesen verraten. Ich will ja, dass alle Lebewesen glücklich sind, nur sollen sie halt Abstand zu mir halten. Eine Maske muss nicht sein, ein Pokerface genügt. Ich will kein Zusammen, kein Beisammen, kein Gemeinsam, ich will einfach nur Gutes tun. Ein trauriges Danke hören von jemandem, der auf keine Hilfe mehr gehofft hat, bis kein Danke mehr traurig sein muss. Glückliche Menschen sehe ich gern. Als Panorama. Wie glückliche Kaninchen auf der Wiese, verspielt und sorglos. Ich will zu einer besseren Welt beitragen, aber dabei in keiner noch so sympathischen Uniform marschieren. Die Welt zu einem besseren Ort machen für die, die Beziehungen eingehen können. Das Gute ist mir keineswegs nur Mittel zum Zweck, um mein Karma zu verbessern, ich will das Gute auch an und für sich. Eine Gesellschaft, in der nicht das soziopathische "cool" der erstrebenswerteste Charakterzug ist, wäre auch etwas für mich; eine Gesellschaft, die den Idealismus nicht auslacht und sich vor dem Zynismus nicht verbeugt.


Ich strebe eine Welt an, die mich nicht braucht, in der sich der gute Wille endlich verwirklicht hat. Keineswegs will ich die Welt verändern, nur verbessern. Sie soll gut genug werden vor allem für Kinder, egal wo sie aufwachsen. Dann gäbe es keine Themen, bei denen sich lose Individuen einig sein könnten. Keine Freundschaft würde von Leidensgenossen geschlossen werden; nein, nur die sollen Freunde werden, die sich gegenseitig mögen. Und ich will einsam sein, ohne dass meine Einsamkeit als das Bedürfnis, mit jemandem zusammen zu sein, oder irgendwo dazuzugehören, missdeutet wird. Einsam und traurig, und allein gelassen. Und all das ist weder prätentiös noch pathetisch, sondern ein einfaches, fast schon sinnliches Gefühl, mehr auf der Haut als im Herzen. Genug zu sein, sich selbst zu genügen: das sind Selbstschutzbehauptungen, die nicht stimmen. Ich will die Einsamkeit fühlen. Einsam sein, und mich überraschen lassen, ob nicht vielleicht doch – als offene Frage verstanden, so redlich wie nur geht, nicht als ein manipulatives Verlangen nach einem kitschigen "Happy End".


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Kommentare zu diesem Text

Taina (39)
(17.07.23, 05:56)
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 Terminator meinte dazu am 17.07.23 um 06:49:
Beim Denken ist Widerspruchsfreiheit Trumpf. Aber Gefühle sind widersprüchlich. So wie dieser Liebesbrief an die Einsamkeit.
Taina (39) antwortete darauf am 17.07.23 um 07:25:
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 Augustus (17.07.23, 12:36)
Bei 8 Milliarden Menschen und ständiger Berieselung von außen ist jemand sehr selten einsam. Selbst dann kann man sich die Frage noch stellen, ob jemand wirklich einsam ist, wenn ein Gedanke im Kopf gefragt oder ungefragt, das Selbst der Einsamkeit entzieht.

 Terminator schrieb daraufhin am 17.07.23 um 19:11:
Gerade in der Menge sind die meisten einsam. Es gibt eine Einsamkeitspandemie. Einsamkeit ist gesundheitsschädlicher als Rauchen. Das ist die bedürftige Einsamkeit. Die erhabene Einsamkeit ist anders. Voraussetzungsreich. Kein bitteres, verschlossenes Sich-selbst-nicht-Genügen, sondern ein offenes für neue Gedanken, Gefühle und Begegnungen.
Taina (39) äußerte darauf am 17.07.23 um 23:34:
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 Terminator ergänzte dazu am 17.07.23 um 23:44:
Ja, die ENFJs und ENFPs. Kannst du sie identifizieren, einfach weiträumig umfahren. Offen in der Einsamkeit für Begenungen mit introverted intuitives meinte ich, nicht mit solchen, die einen, wie junge spielfreudige Hunde, anspringen.
Taina (39) meinte dazu am 18.07.23 um 06:21:
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 FRP (17.07.23, 12:49)
Finnland, ländliche Gegenden. Dort gilt es als unhöflich, den zufällig in Sichtweite geratenen Nachbarn oder Fremden gar noch zu grüßen. Man würde sich eher lieber dafür entschuldigen, überhaupt Sichtweite hergestellt zu haben, aber ... das würde ja Kontakt bedeuten, den man gerade vermeiden will. Die Finnen verstehen sich auf "einsam" und "allein". Ich kann vieles im Text oben nachvollziehen. Wir Menschen sind soziale Tiere, leider. Darum leiden wir wohl irgendwann mit Notwendigkeit, wenn wir allein sind, so sehr wir auch nichtleidend wenigstens daran sein wollen.

 Terminator meinte dazu am 17.07.23 um 19:15:
Finnland ist wohl eine intronormative Kultur. Ich habe aber auch die Vermutung, dass den Deutschen die Extranormativität gewaltsam oktroyiert wurde (Amerikanisierung).

Soziale Tiere sind wir nicht nur leider, auch zum Glück: zu unserem und dem anderer. Es ist wie bei Empedokles: sind wir zu dicht zusammen, führt das zu Hass. Sind wir weit genug auseinander, entsteht die Bereitschaft zur Liebe, in jeder Form.

 Dieter Wal (17.07.23, 20:46)
Der kleine Kreis absolut sympathischer Mitglieder, die miteinander über Philosophie diskutierten, war, außer unserer Tochter, das Beste in diesen zehn Berliner Jahren. Danke, es ist unbezahlbar wertvoll, Euch alle wirklich kennenzulernen.

Sehr schöne Meditation über Einsamkeit und Sinn im Leben.

Kommentar geändert am 17.07.2023 um 20:48 Uhr

 Terminator meinte dazu am 17.07.23 um 23:28:
Stimmt, unser Berliner Halbkreis war Teil des lose zusammenhängenden Kreises. Seit zwei Jahren suche ich mir Freunde nach der Jungianischen Typologie aus, bevorzugt INFPs; INFJs habe ich bis vor einer Woche gemieden, seitdem hat sich die Einstellung zu euch um 180 Grad gedreht. Ihr seid der seltenste und zugleich für die Menschheit wohl wichtigste Typ (Beispiele: Jesus, David Lynch, Novak Djokovic).

 Saira (18.07.23, 07:45)
Ich strebe eine Welt an, die mich nicht braucht, in der sich der gute Wille endlich verwirklicht hat. Keineswegs will ich die Welt verändern, nur verbessern. Sie soll gut genug werden vor allem für Kinder, egal wo sie aufwachsen. Dann gäbe es keine Themen, bei denen sich lose Individuen einig sein könnten. Keine Freundschaft würde von Leidensgenossen geschlossen werden; nein, nur die sollen Freunde werden, die sich gegenseitig mögen. Und ich will einsam sein, ohne dass meine Einsamkeit als das Bedürfnis, mit jemandem zusammen zu sein, oder irgendwo dazuzugehören, missdeutet wird. Einsam und traurig, und allein gelassen. Und all das ist weder prätentiös noch pathetisch, sondern ein einfaches, fast schon sinnliches Gefühl, mehr auf der Haut als im Herzen. Genug zu sein, sich selbst zu genügen: das sind Selbstschutzbehauptungen, die nicht stimmen. Ich will die Einsamkeit fühlen. Einsam sein, und mich überraschen lassen, ob nicht vielleicht doch – als offene Frage verstanden, so redlich wie nur geht, nicht als ein manipulatives Verlangen nach einem kitschigen "Happy End".

Wer alleine ist, wird nicht so leicht verletzt, aber Einsamkeit schmerzt.

Du hast deine Gedanken und Wünsche auf nachvollziehbare Weise ausgedrückt.

Liebe Grüße
Sigrun

 harzgebirgler (18.07.23, 09:17)
"Wer die Luft meiner Schriften zu atmen weiß, weiß, daß es eine Luft der Höhe ist, eine starke Luft. Man muß für sie geschaffen sein, sonst ist die Gefahr keine kleine, sich in ihr zu erkälten. Das Eis ist nahe, die Einsamkeit ist ungeheuer – aber wie ruhig alle Dinge im Lichte liegen! wie frei man atmet! wieviel man unter sich fühlt! – Philosophie, wie ich sie bisher verstanden und gelebt habe, ist das freiwillige Leben in Eis und Hochgebirge – das Aufsuchen alles Fremden und Fragwürdigen im Dasein, alles dessen, was durch die Moral bisher in Bann getan war. Aus einer langen Erfahrung, welche eine solche Wanderung im Verbotenen gab, lernte ich die Ursachen, aus denen bisher moralisiert und idealisiert wurde, sehr anders ansehn, als es erwünscht sein mag: die verborgene Geschichte der Philosophen, die Psychologie ihrer großen Namen kam für mich ans Licht. – Wieviel Wahrheit erträgt, wieviel Wahrheit wagt ein Geist? das wurde für mich immer mehr der eigentliche Wertmesser." (Nietzsche, Ecce Homo - Vorwort - Warum ich so weise bin)
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