Die matten Momente dazwischen - (Berliner StattPläne)

Tagebuch zum Thema Politik

von  Gabyi

Ich liebe diese Momente.
Diese matten Momente dazwischen.
Diese unscheinbaren Augenblicke, wenn etwas Altes verging und das Neue noch nicht begonnen hat. Diese fahlen, blassen, auf seltsam graue Weise filigranen Zeiten und Orte des sich selbst genügenden Untergangs, wo jeder merkt, dass bald etwas Anderes sein wird, aber die Zeit still zu stehen scheint.
Zum Beispiel: Ost-Berlin nach dem Mauerfall aber vor der Wende.
Keine Rede von der neuen Mitte oder kein Hype um den Bezirk Prenzlauer Berg. 
Noch nicht. 
Kurz darauf dann Szene-Bezirk. Die Zeit, als man noch seinen Ausweis vorlegen musste an der innerberliner Grenze, weil noch kein verbindliches Abkommen getroffen war und der Status offen so wie die Grenze. Besucher traf man wenige in Ost-Berlin und bezahlt wurde noch in Ostmark, die man am Bahnhof Zoo schwarz getauscht hatte.
Und dann sitzt man zur Mittagszeit mutterseelenallein im Grand Hotel Unter den Linden - noch hinreißend unbelebt - und bestellt ein Käsebaguette mit Gürkchen für X Ostmark - umgerechnet Y DM - und kauft im Buchladen "Militärchemie" für Anfänger.
Am Übergang Friedrichstraße hat man seinen provisorischen Westberliner Personalausweis vergessen und zeigt notgedrungen stattdessen seine rosa Jahreskarte vom Zoologischen Garten vor, die mit dem Affen drauf. Von der Stasibraut nicht akzeptiert, wendet man sich dem parallelen Schalter mit einem etwas alkoholisierten Grenzer zu. Mit Erfolg.
Es ist die Ruhe vor dem Sturm.
Dann werden die Banken gestürmt. Begrüßungsgeld. Geschenkt. Geldumtausch 1:1. Ist ja genug da.
In diesen matten Momenten, da ahnte man noch nichts von einer bevorstehenden Rezession, ausgelöst durch Zwangabgaben und Arbeitslosigkeit.


aus: "Berliner StattPläne"


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Kommentare zu diesem Text


 Reliwette (01.10.23, 09:40)
Als Berlingeborener, in Kleinmachnow aufgewachsener Bursch - damals zeichneten sich schon die Absichten eines Fünfjahreplanes ab, mit 8 Jahren nach Essen verzogen - merkte ich schon den Unterschied der Lebensweisen der Erwachsenen in Ost und West. Ich befand mich dazwischen: Momente dazwischen - aber keine Gedanken an das was kommen könnte - total passiv, verunsichert. Die Umstände heute, oder besser: Zustände - bahnten sich rechtzeitig an, über die eigenen Verhältnisse leben, auf Kosten nachfolgender Generationen, von Menschen verursachte Umweltkatastrophen, Ressourcenverschwendung, Klimaerwärmung, militärische Einmischung trotz Kriegsbrandstiftung zur Hitlerära, Inflation und von vielen noch nicht erkannt: Massenparanoia und Depressionen.
Mich hat Dein Text sehr beeindruckt! Chapeau!  Gruß Hartmut T.R.

 Gabyi meinte dazu am 01.10.23 um 10:23:
Danke, lieber Hartmut, dass du meinen Text gelesen hast. Ich wollte in dieser Skizze das Gefühl schildern, das ich hatte, als ich im Ostberliner Grandhotel saß und einen Kaffee trank (Kaffee Komplett). Es freut mich, dass Jemand Anteil nimmt. Es war wirklich ein komisches Gefühl und eine besondere Zeit damals (in Ostberlin).
LG Gabyi


Antwort geändert am 01.10.2023 um 13:31 Uhr

 Gabyi antwortete darauf am 01.10.23 um 10:24:
danke, minimum, für die Empfehlung :)

 Gabyi schrieb daraufhin am 03.10.23 um 16:24:
danke, Dieter, für deine Empfehlung :) am Tag der Deutschen Einheit.
LG Gabyi
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