Inhalt 
2 

1

Parodie zum Thema Fiktion

von  Dart

1.

  Rod schaute wieder um die Ecke. Noch immer strömte die Masse aus Lebewesen die Hauptstraße entlang. Eine Mischung der verschiedensten Typen war vertreten: Bärtige Riesen, die vor Haaren strotzten; insektoide Wesen mit dürren Armen und Beinen; fette, speckige, ein Meter große Schweineähnliche. Ab und zu sah man auch mal eine klapprige, zahnlose Kreatur, die ungefähr wie ein weiblicher Organismus aussah. Und natürlich ein paar Nichtmenschen. Also nur das Übliche aus Lebewesen der gesamten bekannten Galaxis – bisher vier Planeten.
  Immer noch nichts von dem Informanten! Rod fluchte leise vor sich hin. Mit der rechten Hand strich er sich über das Gesicht. Kleine Bartstoppeln kratzten an seiner Handfläche. Seit er wartete, hatte er sich nicht rasieren können. Dazu kam der schwarze Ledermantel, den er trug. Besonders hier, in Kairo, schwitzte er, als ob er gerade mit einem Eimer Wasser übergossen worden war. Seine kurzen braunen Haare glänzten vor Schweißperlen, ebenso wie sein Gesicht und sonstige sichtbare Körperteile.
  Rod schaute noch einmal auf seinen Uhr. Es war erst kurz nach Mittag. Er überlegte kurz, wie lange er eigentlich schon an dieser Ecke stand und auf die Zielperson wartete. Noch einmal schaute er auf seine Armbanduhr. Vier Tage. Vier Tage stand er schon an dieser verdammten Ecke, schwitzte unter der Sonne vor sich hin und wartete. Wartete auf einen Alien wegen einem verfluchten Stück Papier!
  Rod griff in die Tasche seines schwarzen Ledermantels, der ihn so gut tarnte, wie ein Kieselstein einen Elefanten. Nach einem kurzen Augenblick fand Rod, was er suchte: Seinen Kommunikator. Er drückte ein paar Tasten und hielt ihn an sein Ohr. Nach ein paar Sekundenbruchteilen kamen das Freizeichen und das elektronische Klingeln am anderen Ende der Leitung. Bevor jedoch das zweite Klingeln erklang, brüllte schon eine hohe schrille Stimme durch den Äther:
    „SCHATZIPUTZIMAUSILEIN?“
    „Hallo, Mama. Du, ich hätte mal eine Fra…“
    „MENSCH IST DAS SCHÖN, MAL WIEDER VON DIR ZU HÖREN. DAS IST JA SOLANGE HER, DASS DU UNS MAL WIEDER ANRUFST.“
    „Mama, ich habe gestern bei dir angerufen.“
    „ECHT? NA, DEIN VATER ERZÄHLT MIR JA AUCH NIE WAS!“
    „Ich hatte mit dir gesprochen.“
    „JA JA, DAS VERGISST MAN SCHON MAL ÜBER DEN TAG. HAST DU SCHON VON TANTE BARBARA DAS NEUESTE GEHÖRT? SIE IST SCHON WIEDER SCHWANGER.“
    „Hast du mir alles gestern schon erzählt.“
    „WIRKLICH? HACH GOTT, DAS KOMMT HALT IM ALTER, NICHT WAHR? ABER WEM ERZÄHL ICH DAS EIGENTLICH?“
    „Ich bin 23, Mama.“
    „STIMMT, MEIN SCHATZIPUTZI…“
    „Mama, du weißt, dass ich das hasse. Also, lass es bitte sei …“
    „BUHÄHÄHÄHÄHÄHÄHÄHÄHÄHÄ…“
  Entsetzt blickte Rod die Straße lang, ob vielleicht irgendjemand das Schreien seiner Mutter hörte. Und das war bei der Lautstärke ziemlich schwer.
    „Mama …"
    „BUHÄHÄHÄHÄHÄHÄHÄHÄHÄHÄ…“
    „Mama …"
    „BUHÄHÄHÄHÄHÄHÄHÄHÄHÄHÄ…“
  „Es tut mir Leid …"
  „BUHÄHÄHÄ… EHRLICH? DU MEINST ES EHRLICH?“
  „Natürlich … Mamilein." (Hilft immer, wenn eure Mutter weint.)
  „OH GOTT, DAS IST ABER LIEB VON DIHIR - . DU BIST UND BLEIBST HALT MEIN LIEBLINGSKIND, SCHATZIPUTZIMAUSILEIN.“
  „Mama, ich bin ein Einzelkind.“
  Er verfluchte sich schon jetzt dafür.
  „BUHÄHÄHÄHÄ…MUSST DU MICH SCHON WIEDER DARAN ERINNERN? DAS TUT SO WEH, DU HERZLOSES MISTSTÜCK EINER HURE!“
  „Mama?“
  „BUHÄHÄHÄHÄHÄHÄHÄHÄHÄHÄ…“
  „Mama, darf ich mal mit Papa sprechen?“
  „BUHÄHÄHÄHÄHÄHÄHÄHÄHÄHÄ…“
  „MAMA!“
  „HUCH …  … NA GUT. CHARLIIIIIIIE!!! DEIN SOHN WILL DICH SPRECHEN!!!"
  Rod zuckte kurz zusammen - ein Wunder, dass er bei Lautstärke überhaupt noch stehen konnte – fing sich aber sehr schnell wieder. Es knisterte in der Leitung, als Rod's Mutter den Hörer an seinen Vater weitergab:
    „HALLO?“
    „Dad, ich bin nicht taub!“
    „WAS?“
    „Dad, sag Mum bitte, dass es mir Leid tut.“
    „WER IST DA?“
    „Ich bin’s: Rodney.“
    „NEIN DANKE, WIR KAUFEN NIX!“
    „Dad, ich …"
  Da war es! Das Alien mit dem Zettel! Der Grund dafür, dass Rod vier Tage lang an einer Ecke stehen musste! Der Typ, der sich vier Tage verspätet hatte! Aber egal, er hatte die Information! Die lebenswichtige Information für Rod!
    „WER ZUR HÖLLE IST DENN DA?“
  Rod blickte kurz auf den Kommunikator und legte dann auf – das Gespräch konnte warten, die Information nicht! Mit einem elektronischen Knistern wurde die Verbindung getrennt und er steckte den Kommunikator zurück in die Manteltasche. Lässig setzte sich Rod eine verspiegelte Sonnenbrille auf – der Anfang der Erkennungsprozedur. Sein Informant, ein kleiner, schuppiger Xylat, bemerkte ihn nicht. Er durchsuchte mit seinen drei Augen einen anderen Teil der Menge. Seufzend nahm Rodney die Brille wieder ab und wartete, bis der Xylat in seine Richtung schaute. Rod setzte noch einmal seine Sonnenbrille auf – vergebens, der kleine Alien sah ihn nicht. Selbst nach dem fünften Versuch registrierte ihn sein Gegenüber nicht. Dafür hatte ihn eine kleine Menge von Passanten bemerkt, die glaubten, dass er eine kleine Show zur Unterhaltung bieten würde. Schließlich hob Rod einen Kieselstein auf und warf ihn dem Nichtmenschen an den Kopf, zumindest glaubte Rod, dass es einer war. Der Xylat wurde getroffen und holte ein Fläschchen Augentropfen aus seinem Overall.
  Xylaten sind in der Lage, sowohl an Land, als auch im Wasser zu überleben. Allerdings sind ihre Augen nicht an das Leben an frischer Luft gewöhnt und deswegen sind sie ohne gewisse Augentropfen oder eine Brille stockblind.
  Als der kleine Außerirdische seine Prozedur beendet hatte, wiederholte Rod noch einmal das Erkennungszeichen. Zufrieden blickte der Xylat auf und watschelte zu Rod herüber, der noch einmal kurz in Gedanken den Erkennungsdialog wiederholte. Nur ein Fehler – und die Information löste sich in Nichts auf! Als der kleine Xylat Rod erreichte, jubelte die ihn umgebende Menge auf – offensichtlich wurde ein Sketch aufgeführt.
    „Schicke Sonnenbrille haben sie da auf," blubberte der Xylat hervor, als er Rod erreicht hatte.
Rod nickte. Der Xylat musste den Zettel haben. Jetzt musste alles glatt gehen:
    „Ja, ein echtes Modestück von %kjh-&/$, der letzte Schrei dieses Jahr!“
Beeindruckt glotzte ihn der Xylat an:
    „Wow! Dann war die bestimmt richtig teuer, was?“
    „Ach was, ich habe sie von einem Freund geschenkt gekriegt. Keine Ahnung, wo der die her hat."
    „Da haben sie ja richtig Glück gehabt, was? Und wo haben sie den tollen Ledermantel her?“
  Rod dachte kurz nach. Er wusste nicht, wer sich solche Erkennungstexte ausdachte. Vielleicht gab es irgendwo da draußen einen Menschen oder Außerirdischen, der den ganzen Tag nichts als bekloppte Erkennungstexte schrieb. Wer weiß. Tatsache war jedoch, dass sie der komplette Blödsinn waren! Jeder normale Mensch oder Nichtmensch würde sofort erkennen, dass es sich hierbei um etwas völlig anderes handeln würde, als um eine zufällige Begegnung. Jedenfalls ist es ziemlich dumm, in einer Wüstenstadt in einem schwarzen Lederanzug rumzurennen und sich dann freiwillig mit einem Xylat zu unterhalten.
  Schließlich weiß jeder, dass Xylaten die am übelriechendsten Viecher des gesamten Universums sind. Warum sollte man also ein Gespräch mit ihnen eingehen? Dazu scheinbar freiwillig? Während Rod auf die Frage antwortete, schaute er auf die Masse aus Lebewesen, die ihn und den Xylaten umringte und immer noch auf die Pointe des vermeintlichen Sketchs wartete.
  Insgesamt waren es 25 Sätze für jeden von beiden, bis der Xylat ihm den Zettel überreichen würde und Rod damit endlich das Geld, das er durch die Information erhalten würde, einstreichen konnte. 100.000 §§. Damit wären alle Schulden beseitigt. Er konnte endlich zu Hause ausziehen! Er wäre frei … Frei! FREI!!!
 
  Entsetzt riss Rod die Augen auf – ein Anruf! Sein Kommunikator war immer noch an! Wenn er ans Telefon gehen würde, müsste er die Prozedur abbrechen. Dann wäre das Geld weg … Aber vielleicht war es ein wichtiger Anruf? Verzweifelt blickte er in die Menge und dann auf den Xylaten. Was sollte er tun?
  Den Anruf entgegennehmen? Schweiß brach auf seiner Stirn auf und nicht nur wegen seines Anzuges. Die Traube aus Organismen wartete gespannt. Kam jetzt die Pointe? Langsam kamen Schwindelgefühle in Rod auf, sein Leben zog an ihm vorbei, er sah seine Kindheit, seine Zeit des Erwachsenwerdens, seine Enkel … Seine Enkel? Verwirrt blickte sich Rod um. Seit wann hatte er Enkel? Er schüttelte den Kopf, nahm den Kommunikator aus der Tasche und zögerte. Der Xylat stutzte. Irgendwo in dessen Kopf fing er an zu überlegen. Das gehörte doch überhaupt nicht zum Erkennungsritual. Rod seufzte, drückte kurz auf eine Taste und sah sich die Nummer seines Anrufers an, was ihm in einen zusätzlichen Schock warf.
  Gewöhnlich hofft man in solchen Situationen, dass es nicht schlimmer werden kann. Trotzdem wird es immer schlimmer! Vielleicht ist es ein Naturgesetz, das der gute Newton nicht entdeckt hat. Oder Einstein. Oder Galileo. Warum hat keiner dieser so brillanten Köpfe dieses Gesetz entdeckt? Nein, da muss erst so ein Quarkkopf namens Murphy kommen und sagen: Es könnte schlimmer kommen. Aber was rede ich denn da? Es gibt so viele Sachen, die keiner dieser Typen jemals rausgefunden hat! Zum Beispiel, dass immer nur mir der Toast runterfällt! Oder, dass immer nur ich Gegenstände verliere! Oder … Oder … Oder, dass ich gerade vergessen habe, was gerade in dieser Story passiert. Mal sehen … Aha … Gut, ich weiß wieder Bescheid! Rod beglotzte seinen Kommunikator.
  Noch einmal las sich Rod die Nummer auf dem Display durch. Er atmete tief ein und entschied sich schließlich, abzuheben. Vielleicht hatte der Xylat einen freundlichen Tag, vielleicht würde es heute Gold vom Himmel regnen. Alles ist möglich.
    „Was ist?“, fragte Rod und wappnete sich innerlich auf das Unvermeidliche.
    „BUHÄHÄHÄHÄHÄHÄHÄHÄHÄHÄ…“
    „Mama, was ist denn, verflucht noch eins?“ Irgendwo hoffte er, dass niemand mitbekam, wie ihn seine Mutter gleich zur Schnecke machen würde.
    „WARUM HAST DU KLEINER SCHEIßER EINFACH AUFGELEGT?
    „Ich bin 1,82 Meter groß!“
    „HÄ?“
    „Ich bin nicht klein!“
    „TROTZDEM! WAS FÄLLT DIR EIGENTLICH EIN? WESHALB HABE ICH MICH BLOß DAZU ENTSCHLOSSEN, DICH NICHT ABTREIBEN ZU LASSEN? WENN ICH DARAN DENKE, DASS ICH WEGEN DIR NEUN MONATE QUALEN DURCHLEBT HABE! WARUM HABE ICH BLOß DAZU ÜBERREDEN LASSEN, DICH NICHT ZUR ADOPTION FREIGEBEN ZU LASSEN? SAG MIR DAS!!!“
  Wehmütig schaute er in die Menge, die sich vor Lachen krümmte, auf den Xylaten, der keine Ahnung hatte, was überhaupt gerade passierte. Dementsprechend sah auch sein gesichtsähnliches Körperteil so aus. Rod entschied sich dafür, sein letztes Stück Würde den Wölfen zum Fraß vorzuwerfen:
    „Mami, ich liebe dich doch!“
  Die Menge war sich einig, dass hier wohl die Pointe kam und fing an zu johlen. Bis auf den Xylaten, der mittlerweise vollends dachte, das sein Gesprächspartner vollends am Durchdrehen war. Vergebens hoffte Rodney, dass die immer größer werdende Meute seine Mutter nicht hören konnte. Aber wie gesagt, vergebens!
    „BIST DU AUCH MEIN SCHATZIPUTZIMAUSILEIN?“
  Entsetzt starrte Rod das Telefon an. Er musste antworten. Aber vor all diesen Leuten?
    „Ja, Mami. Ich bin dein Schatziputzimausilein!“
  Die Menge tobte vor Lachen. Die Sanitäter kamen, um den ersten Ohnmächtigen Sauerstoff zuzuführen, da diese vor Lachen nicht mehr atmen konnten. Und es ist gar nicht so leicht zu helfen, wenn man selbst vor Lachen keine Luft mehr bekommt.
    „IST DAS WAHR, SCHNURZELHÄSCHEN?“
    „Ja, dein Schnurzelhäschen würde dich doch nie belügen!" jammerte Rod in den Kommunikator. Dann:
    „Ich habe dich schließlich ganz, ganz doll lieb, Mamilein!"
  Mittlerweise war auch das Fernsehen angekommen und Rod erhielt bereits Angebote für eine eigene Comedysendung mit dem Titel: Der Straßenidiot. Trotzdem war ihm irgendwie nicht zum Lachen zumute.
    „HACH, DU BIST WIRKLICH EIN SO LIEBES KINDCHEN! SOLL ICH DIR HEUTE ABEND WIEDER EIN GUTENACHTLIED VORSINGEN? DU SCHLÄFST JA IMMER SO SCHLECHT EIN, WENN ES DUNKEL WIRD. WANN KOMMST DU DENN?"
    „Sofort, Mamilein! Ich muss nur noch etwas erledigen, dann bin ich sofort da!" Rod war zum Schreien zumute.
    „SOLL ICH DIR AUCH WIEDER EINE SCHÖNE GESCHICHTE VORLESEN? ZUM BEISPIEL DIE VON DER KLEINEN DAMPFLOK, DIE DEN BERG HINAUF WILL?“
  Flucht war keine Schande mehr! Rod überlegte auszuwandern. Beta II sollte um diese Jahreszeit sehr schön sein, hatte er gehört. Wäre Mord auch eine Lösung? Was sollte er tun?
    „Ja, Mamilein! Ich komme dann zum Abendessen, ja?“
    „…“
  Der Gipfel! Das Ende jeglicher Würde war erreicht! Er würde zum Trottel der Nation werden, wenn er jetzt sagen würde, was seine Mutter von ihm verlangte. Sein Triumph als Mega-Comedian der Straße wäre nicht mehr zu toppen.
    „Ichliebedichmamilein,“ haspelte er herunter.
    „WAS?“
    „Ich liebe dich, Mamilein.“
    „WIE BITTE?“
    „ICH LIEBE DICH, MAMILEIN!!!“ brüllte er in den Kommunikator.
  An dieser Stelle erklärte Rodney McCoy sein Leben für beendet.

 Inhalt 
2 
Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram