Vom Entscheiden

Kurzgeschichte

von  Traumreisende

Der Mann vor ihr blieb gefasst. Er strahlte Ruhe aus. Ruhe! Ein Leben in Bruchteile zerlegt und in Frage gestellt. Alle Pläne, alle Wünsche flossen durch die Hand und auch wenn gleich wieder eine andere Hand darunter war und darunter wieder eine, in die letzte kam kein Tropfen.
„Der Krebs hat sich ausgebreitet, er ist in den Hüften, im Schultergelenk…“, Sie sah den Mann den Mund öffnen, sie hörte seine Aufzählung und hörte sie nicht mehr, der erste Satz war schon über die Grenze der Hoffnung gesprungen.
Seltsamerweise versuchte sie sich vorzustellen, wie diese Krebsgestalten hinter ihren Schulterblättern hockten. Von diesem Gedanken konnte sie sich nicht lösen, immer wieder kam sie auf diese „Verstecke“.
Es war, als würde sie die Statik einer Brücke untersuchen und die Roststellen analysieren. Ja, es war alles völlig technisch in ihren Gedanken. Wo war die Panik, wo war die Angst, wo die Verzweiflung???
Nichts! Alles, was bis zu diesem Gespräch noch rasend in ihr war, verstummte. Sie ertappte sich dabei, wie sie mit der Hand über die Schulter tastete, als wollte sie diese Geister wenigstens einmal berühren.
„Eine Operation ist nicht mehr möglich, auch eine Bestrahlung können wir nicht mehr verantworten, es wären zu viele Körperteile betroffen.“

Bestrahlung. Abrupt ließen ihre Gedanken von den Schultern ab und rutschten in eine Röhre. Dort wo sie in Atemlosigkeit das Unfühlbare zu fühlen vermeinte und der Sonne ähnliche Strahlen in sich kriechen sah, suchend, kämpfend, hinter alle Verstecke leuchtend.

Wieder starrte sie auf den sich öffnenden Mund des Arztes, versuchte zu verstehen und ahnte, dass sie bereits verstanden hatte.

Es bliebe noch die Möglichkeit einer Chemotherapie, sickerte an ihr Ohr. Sie versuchte sich zu konzentrierten, suchte Hoffnung und konnte sie nicht greifen.
Die Chemo würde nicht heilen, sondern ihr Leben verlängern. Dazu müsste sie 18 Wochen Krankenhaus auf sich nehmen.

Und wieder fühlte sie sich in pure Logik gezogen.

‚Wie lange würde ihr Leben verlängert?
Mehr als 18 Wochen?
Und wie würde es ihr gehen, ob mit oder ohne diesen Eingriff?
Was macht das eine oder das andere mit ihr?
Was für ein Leben wäre es, so der so?
Wie lange dauert eine Sekunde?’

‚Sie solle sich entscheiden, nicht gleich, aber bis übermorgen.’

Ein Leben in Bruchteile zerlegt und in Frage gestellt. Ein Leben, das jetzt eine Uhr hat, eine mechanische, oder hatte das Leben diese Uhr schon immer und es wurde nur nicht auf die Zeit gesehen??

Sie sollte jetzt entscheiden, ob SIE sie noch einmal aufzieht.


.


Anmerkung von Traumreisende:

Dieses Thema beschäftigt mich sehr, aber ich möchte gern darauf hinweisen, keinen zusammenhang zu meiner Gesundheit zu sehen. Nicht um mich zu verstecken, sondern weil solche Themen zu ernst sind, als dass man auch nur für sekunden anderen einen Schreck einjagt.
DANKE
Silvi

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Kommentare zu diesem Text


 lilly-rose (18.09.06)
Oft,viel zu oft warten wir mit unseren Entscheidungen den entscheidenden Moment zu lange...

Eine sehr bewegende, sehr traurige, fesselnde Geschichte, an der man am Ende den Wunsch hat, dass Sie die Uhr noch einmal aufzieht, und jede Sekunde nutzt. Aber das ist eine schwere Entscheidung.
lg
Thomas

 Traumreisende meinte dazu am 18.09.06:
ja WIR angehörige oder Freunde würden uns das wünschen...WIR deren zeit noch nicht so offensichtlich begrenzt ist, aber was wünscht sich der andere, der die tage und nächte an den geräten hängt, die ihm das leben verlängern, welches...? WIR wünschen es uns, weil wir den anderen nicht in diesem fernen land wissen wollen...

es ist so ungeheuer schwer den wirklichen weg zu finden .....

ich danke dir,
dir liebe grüße in deinen tag
silvi

 apocalyptica (18.09.06)
"Abrupt ließen ihre Gedanken von den Schultern ab und rutschten in eine Röhre"
"...suchte Hoffnung und konnte sie nicht greifen"
"Wie lange dauert eine Sekunde?"
Liebe Silvi, dies sind für mich die Kernsätze deiner "Geschichte", die ja eigentlich keine Geschichte ist, sondern in so vielen Fällen grausame Relaität. Wie geht man damit um, wenn man selbst betroffen ist? Wenn die Gedanken nur noch in einer Röhre stecken und kein Ausschweifen zur Seite hin zulassen? Wie kann man dann selbst noch Hoffnung gewinnen? Nutzt man dann jede Sekunde, die noch bleibt? Wie lang kann eine Sekunde erscheinen?
Ich weiß es nicht, kenne nicht die Antwort auf die Fragen, kenne nur viel zu viele Menschen, die darauf auch keine Antwort (mehr) gefunden haben oder die Antworten mitgenommen haben...
Ich danke dir für diesen Text, der uns allen einmal mehr unsere doch letzten Endes Schwäche vor Augen führt, die dennoch so viel Stärke verlangt, nämlich dann, wenn wir die Entscheidung treffen, die Uhr noch einmal aufzuziehen...oder eben nicht....
Sehr, sehr nachdenkliche Grüße von der -bea

 Martina (18.09.06)
Oh man, auch ich habe mich das schon oft gefragt- was ich in so einem Fall tun würde. Mein Stiefvater hat ja auch Knochenkrebs und bekommt Chemo...Ich bin persönlich nicht so dafür, aber wie würde man sich wirklich entscheiden? Wie oft liest man: Man stirbt an der Chemo, nicht am Krebs. Würde man vielleichtohne Chemo am Ende doch noch länger leben. Und all die Nebenwirkungen...Ich weiß nicht, ob ich nicht einfach alles lassen würde wie es ist. Meine Bekannten haben die Chemo nie überlebt...und das macht schon Angst. Mag jetzt nicht unbedingt daran gelegen haben, aber nach ein paar Wochen oder ein paar Chemos, sind sie dann doch verstorben. Ich hab auf jeden Fall mich mit beiden Seiten befasst- mit Neue Medizin oder Schulmedzin. Lg Tina

 mondenkind (18.09.06)
aufwühlend, empathisch, hart.
Herzwärmegefühl (53)
(18.09.06)
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Nunny (73)
(18.09.06)
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 michelle (18.09.06)
eine schwere und einsame entscheidung, für jeden, der einmal mit solch einer situation konfrontiert ist. und doch liegt das schicksal nicht in unserer hand. eine bewegende und aufwühlende geschichte. lg michelle

 Traumreisende antwortete darauf am 19.09.06:
ich glaub du hast sehr gut hingefühlt... einsam und auch wenn freunde und partner neben einem stehen, es wir unsere entscheidung bleiben, die anderen wollen in erster linie, dass der betroffene kämpft...

danke dir sehr
glg silvi

 Néniel (22.09.06)
eine solche entscheidung zu treffen, hart! deine geschichte reißt mit und man fängt an nachzudenken. ich selbst habe schon menschen sterben sehen, welche krebs hatten und kann sehr gut nachfühlen. wielange eine sekunde da dauerte kann ich auch nicht sagen, denn ich die zurück blieb starrte unentwegt auf einen sekundenzeiger. wie muss es erst sein solch eine entscheidung zu fällen? puh - bewegend geschrieben! lg dir, ive.

 Traumreisende schrieb daraufhin am 22.09.06:
auch das kann ich vor mir sehen!!
danke du
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