Warten auf die Straßenbahn

Erzählung zum Thema Behinderung

von  tulpenrot

Es sah nicht sehr geschickt aus, wie sie sich bewegte, eher mühsam, schwerfällig. Wenn ich gewusst hätte, wie schwer ein Rollstuhl ist – dazu ein handbetriebener - hätte ich sie nicht so verständnislos beobachtet. So aber dachte ich daran, dass sie wohl besser zu hause geblieben wäre. Auf diese Art kann man doch die Straßenbahnschienen nicht überqueren!

Aber ihr blieb offensichtlich kein anderer Weg übrig, als eben genau diese Straße genau an einem Straßenbahnknotenpunkt zu überqueren. Von rechts von links – natürlich! – zogen die Schienen ihr Band, von der Kurve und von der Unterführung her kamen sie und gruben Unebenheiten in die Straße.

Die Dame sah gepflegt aus, gut angezogen. War es ihrem Geldbeutel oder dem ihrer Krankenkasse nicht möglich, einen anderen Rollstuhl zu finanzieren als einen, den sie mit ihren Händen und Armen antreiben musste? Warum hatte sie keine Begleitung?
Es kam, wie es kommen musste. der Rollstuhl blieb mit den Rädern in den Schienen hängen. Immer wieder nahm sie mit etwas hilflos wirkendem Einsatz ihres Oberkörpers und der Kraft ihrer Hände ruckartig Anlauf, die Räder ihres Rollstuhles frei zu bekommen, es gelang nicht. Ängstlich besorgt beobachtete ich sie, innerlich jederzeit auf dem Sprung. Wann kam die nächste Bahn?

Ein neuer Versuch – und ihre Handtasche rutschte vom Schoß zu Boden. Sie sah hilflos zu ihr hinunter. Aufstehen und sie aufheben konnte sie offensichtlich nicht. Kein Mensch war in der Nähe – die einen saßen vergnügt im Straßencafe meterweit entfernt, die anderen schlenderten gedankenverloren auf den Bahnsteigen herum, und noch andere überquerten ebenso weit entfernt die Straße.

Warum musste sie ausgerechnet hier in meiner Nähe hängen bleiben und ihre Tasche verlieren? Natürlich musste sie nicht, sie hätte in dieser großen Stadt sonst wo hängen bleiben können … natürlich würde ich ihr helfen, helfen müssen. Ich fühlte mich stark und beschwingt. Ein gutes Gefühl durchzog mich. „Darf ich Ihnen helfen?“ Ich erinnerte mich, dass es manchmal ja nicht leicht ist, Hilfe annehmen zu müssen, ja manche sich gedemütigt fühlen, wenn man zu eilfertig und hilfsbereit da steht. Ich wollte alles richtig machen. Korrekt sein. Wenn ich nur gewusst hätte, wie schwer ein Rollstuhl ist und wie leicht man jemanden aus einem solchen Stuhl verlieren kann, nicht nur die Handtasche.

Es ist nichts passiert, wir haben das Hindernis überwunden, die Straßenbahn kam nicht zu früh, die Dame konnte ihren mühsamen Weg fortsetzen, ohne mich. Nur ich, ich trage sie in mir, diese Erfahrung.

Sommer 2006

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Kommentare zu diesem Text

steinkopf73 (34)
(19.02.07)
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 tulpenrot meinte dazu am 20.02.07:
Das ist ja auch gut so, wenn dein Onkel slebständig sien will - denn das hebt ja auch das Selbstbewusstsein, Wer ist schon gerne abhängig von anderen Menschen?
LG
tulpenrot
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