Karlauers Wien.

Text

von  Elén

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Wie viele Dichter haben auf Wien das Hohelied geschrieben, haben sich Jahre später umgebracht, wie viele haben die Stadt mit dem Genie von Musik und Architektur bekleidet, sind wahnsinnig geworden, wie viel Politik hat das Land ertragen, wie viele Kriege, zwei mal die Türken überstanden, später Hitler, später sämtliche entartete Versuche Demokratie, nicht zuletzt den Katholizismus; August Aichhorn der erste öffentliche Erziehungsbeauftragte, das Kind befreit aus Arbeitslagern, Bürgerrechtsbewegungen, Gewerkschaften, Psychoanalyse, Märchen, Mythen, Kaiser, Humanisten, die Geschichten schreiben, Geschichten, die man nie wird müde werden, sie zu wiederholen, mundwarm zu halten, sie zu erzählen, vom Milchzahn bis zur Prothese erzählen wird, bis das letzte Ohr ertaubt. Wie viele Menschen haben dort gelebt, um sich letzten Endes in Rom oder in Paris oder in Stockholm, sagen wir, umzubringen, obwohl sie im Grunde dieser Stadt schon seit Jahren zum Tode Verurteilte waren, beobachten kann man das, sagt der alte Karlauer und, Wien, sagt der alte Karlauer, der in der Ringstraße wohnt, der in der Kärntnerstraße ein Uhrengeschäft besitzt, dort Tag für Tag hingeht, um die Zeit, von der in dieser Stadt alle zu wenig haben, um diese Zeit zu verkaufen, dessen Name, Karlauers, für Qualität bürgt und dessen Uhren und dessen Zeit unbestechlich, sagt Karlauer, während er zum tausendsten Mal die Zeit aufzieht, sagt, dass Wien eine niederträchtige, eine hundige, eine hundsverlotterte Gegend, eine Hochburg der Kultur, eine kulturelle Hochzeit, eine Metropole der Kunst, eine Krypta Historie, eingetaucht ins visionäre Licht der Zukunft ist, diese Stadt. Beschienene Gesichter, überall, erhellte Augen, wo der Mensch geht, wo er steht. Eine Kunst, ein Geist, eine Verkünstelung, eine Kunst des künstlichen Wachwerdens, ein künstliches Wachkoma, ein verkünstelter Kunstgeist. Eine Verkrüppelung. Eine Erscheinung, im Näheren ein Heiligenschein und im Konkreten eine Scheinheiligkeit, dieses Wien, sagt er, der schließlich Zeitzeuge im ferneren Sinn ist und der hier seit siebenundachtzig Jahren lebt und seit vierunddreißig Jahren keine Kontakte mehr pflegt zur Wiener Gesellschaft und nur deshalb noch bei Verstand ist und für sein fortgeschrittenes Alter doch noch in relativ gesunder Verfassung. In Wien kannst du nur Gast sein, im besten Fall Durchreisender, sagt der alte Karlauer in seinem Uhrengeschäft in der Kärntnerstraße zu jedem Kunden, der den Laden betritt, um dort beim Einheimischen, der’s schließlich wissen muss, Zeit zu finden für sich oder zumindest den gebräuchlichsten Ausdruck dafür, sagt er, und wer also was auf sich hält, der ist übers Wochenende aus Stuttgart oder aus Bern oder aus Salzburg oder aus Ungarn angereist, nur übers Wochenende, um am Samstag Abend im österreichischen Stil Essen zu gehen mit Stoffservietten und Porzellan, zuvor möglicherweise in Karlauers Uhrengeschäft die Auslagen und Glasvitrinen einzusehen, um, wenn schon keine Zeit kaufen zu wollen, sie zumindest wenn auch grundlos somit ohnehin umsonst und vergeblich aber zumindest!, einzusehen, um zum Überfluss der Zeit möglicherweise noch in die Oper zu gehen, sich Nabucco oder Tosca oder La Boheme, Aida, Rigoletto, Otello, Lohengrin oder sonst was Dramatisches anzusehen, im schlechteren Fall anzuhören, um dann spätestens um Gottes Willen aber am Sonntag Morgen zur ehest möglichen Tageszeit wieder abzureisen, sagt der alte Karlauer, der nun, weil es bereits zehn Uhr vormittags und Zeit für seinen Kaffee ohne Zucker und ohne Milch, der alte Widerstand im Untergrund, weil es nun des Zeugen Zeit ist, nach hinten zu gehen hinter die vergilbten und verstaubten Vorhänge, aus der Gegend zu gehen, nach hinten in die Werkstatt, um dort sich ein bisschen im Ohrensessel, diesem Ohrensessel der auf jeden Fall mehr ist, das möchte er noch betonen, um sich dort ein wenig auszuruhen ..



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Kommentare zu diesem Text

LudwigJanssen (54)
(28.10.08)
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 Bergmann (28.10.08)
Der Stil ist neu bei dir - und der ganze Text gefällt mir außerordentlich! (Zumal ich selbst Ostern in Wien war, immerhin eine ganze Woche, und auch, natürlich, in der Oper, und was?, Parsifal, nichts Geringeres als diese Oper, die schlimm inszeniert war, so entsetzlich stadttheatermäßig, dass ich sie mir tatsächlich anhören musste, aber die Wiener Würstl im Café Landtmann am Taf darauf haben alles wieder wettgemacht!)
shadowhunter (28)
(28.10.08)
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Elias† (63)
(29.10.08)
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criSis (37)
(14.11.08)
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