Ich schenk dir ein Los

Kurzprosa zum Thema Glück

von  tulpenrot

möchtest du ein Los?
fragt die Verkäuferin den fremden Kunden im Supermarkt
ich schenk dir eines
einer von hier hat schon einmal gewonnen
ergänzt sie

er sei neu im Ort und habe keine Frau
sagt er
er wolle nur zuhören
er wolle kein Los
und geht

man weiß, dass er in der alten Schule wohnt
vor seinem Fenster reden zwei
einer trägt ein Gewehr
er ist der Pfarrer
ihm gehört das Gewehr
dem anderen gehört der Hase
der ist blutig und zuckt
bis er ihn an der Hauswand tot schlägt

die alte Olga vergisst immer ihre Hörgeräte
sie hört nicht alles
sie hört nicht, dass vieles ziemlich schön ist

und ich höre die Geschichten der Leute, ohne dass ich es will,
denkt er, der neu hier ist, der Fremde
heute abend dirigiert er den Kirchenchor
sie singen
sie sind keine Profis
sie entdecken, wie frei ihre Stimmen sein können
dazwischen reden sie von ihren Nöten
und schweigen von ihren Verhängnissen, den Vergehen und ihrer Sehnsucht
bis sie zaghaft erste Schritte in eine neue Richtung wagen

die Verkäuferin lacht immer, als ob sie nichts erschüttern kann,
und ist dennoch tieftraurig
sie hat das Los


Anmerkung von tulpenrot:

Empfohlen von:
TassoTuwas, Stelzie, indikatrix, franky, GastIltis, EkkehartMittelberg, niemand, BeBa, Moja, AZU20, waBash .
Lieblingstext von:
franky.

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Kommentare zu diesem Text


 TassoTuwas (26.01.21)
Hallo Angelika,
schön erzählt, wie facettenreich der Kleine-Leute-Alltag sein kann. Man muss sich halt nur mit wachen Augen und Ohren vorurteilsfrei unter die Menschen begeben!
Herzliche Grüße
TT

 tulpenrot meinte dazu am 26.01.21:
Hallo TT,
ja, das muss man, wach sein, wenn man neu ist im Ort wie dieser Dirigent. Dann erkennt man Schönes und weniger Schönes. Ganze Lebensentwürfe bzw. Katastrophen verbergen sich hinter Unscheinbarem.
Ich hab diesen Text unter dem Eindruck des Beginns eines Filmes geschrieben, den ich vor 16 Jahren das erste Mal sah und später auch als DVD immer mal wieder angeschaut habe. Dies hier ist ja nur ein winziger Ausschnitt der gesamten Geschichte. Nur Andeutung. Eher eine Skizze.
Danke für deinen Kommentar und das Sternchen.
LG
Angelika

 indikatrix antwortete darauf am 26.01.21:
Wie im Himmel?
LG
Indikatix

 tulpenrot schrieb daraufhin am 26.01.21:
Ja! Gut beobachtet! Danke fürs Sternchen
LG Angelika

 franky (26.01.21)
Hi liebe Angelika,

„die Verkäuferin lacht immer, als ob sie nichts erschüttern kann,
und ist dennoch tieftraurig
sie hat das Los“

Sie hat das Los, hat hier eine doppelte Bedeutung.
Jeder hat sein eigenes.

War gerne bei dir zu Gast.
Ganz liebe Grüße

Von Franky

 tulpenrot äußerte darauf am 26.01.21:
Lieber Franky, freu mich über deinen Besuch hier und deine Worte. Ja, die Mehrdeutigkeit ist gewollt. Dahinter verbirgt sich einiges. Wer den Film kennt, der sozusagen Pate stand, wie Indikatrix erkannt hat, hat es leichter mit dem Text. Aber ich wollte ausprobieren, ob man so schreiben kann, wie ich es gemacht hab, und ob der Leser etwas damit anfangen kann.
LG und Danke für die ! Sternchen.
Angelika

Antwort geändert am 26.01.2021 um 16:20 Uhr

Antwort geändert am 26.01.2021 um 16:22 Uhr

 EkkehartMittelberg (26.01.21)
Hallo Tulpi,
viele, die neu in einem ort sind, haben anfangs ein feines Gehör, das schnell abstumpft.
LG
Ekki

 tulpenrot ergänzte dazu am 26.01.21:
Hallo Ekki,
Abstumpfen? Das ist mir neu. Ich könnte mir vorstellen, dass jemand (wie ich) an dem Desinteresse der Einheimischen verzweifelt...
Aber danke für deinen Kommentar und das Sternchen
LG
Tulpi
wa Bash (47)
(27.01.21)
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 tulpenrot meinte dazu am 27.01.21:
fein - gefällt mir auch

 GastIltis (29.01.21)
Hallo Angelika,
nun bin ich doch hier bei deinem Los gelandet. Geschenkt? Der Text? Nein. Die Frage, was das Los enthält, eine Überraschung oder Enttäuschung. Meist die Erwartung, das nächste Los oder die nächsten Lose zu kaufen. Deine Verkäuferin erweckt nicht den Eindruck, dass sie es darauf abgesehen hat. Das macht sie und deine Zeilen sympathisch. Weil sie das Leben widerspiegeln, ohne diese Gier nach mehr auskommen zu müssen.
Viele liebe Grüße von Gil.

 tulpenrot meinte dazu am 29.01.21:
Lieber GastIltis,

du hast Recht, die Verkäuferin hat es nicht darauf abgesehen, dass sie viele Lose verkauft, sie verschenkt sie hin und wieder großzügig. Das Stichwort "Los" hat ja darüber hinaus auch andere Bedeutungen. Die Verkäuferin selber hat ihr eigenes Los, das sie (er)trägt. Und sie hat immerhin vorübergehend auch das große Los gezogen.
Ich weiß, dass dieser Text etwas grenzwertig ist, weil sich dahinter ein ganzer Film und darin wieder eine Sozialstudie über ein schwedisches Dorf verbirgt. Der Fremde, der Musiker/Dirigent, ist der Auslöser, durch den offenbar wird, wie die Dorfgemeinschaft so tickt. Welche Dramen sich hinter der dörflich normal erscheinenden Fassade abspielen. Was schon immer vertuscht oder verschwiegen wurde.
Mich beschäftigen solche Themen sehr und so kam ich zu der Idee, mal ein Detail zu vertexten.

LG und herzlichen Dank für dein Sternchen
Angelika
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