Ich, ein Junge

Text zum Thema Kinder/ Kindheit

von  indikatrix

Ich bin älter jetzt und meine Harre sind kurz, richtig kurz. Kein Geziepe mehr beim Kämmen. Auf dem Spielplatz sind keine Mädchen - nur Jungs. Ich turne hoch auf die großen Ringe, in denen ich sitzen kann. Die Jungen schauen, das merke ich. Ich schwinge von einem Ring zum anderen und es kitzelt im Bauch, wenn ich einen loslasse und bevor ich den anderen fasse, der Zwischenmoment, in dem ich fallen könnte, aber ich falle nicht, ich bin zu gut im Klettern, viel zu gut. Zwei Jungs kommen auf mich zu. Sie wollen wissen, ob ich Junge oder Mädchen bin. Junge, sage ich, und ein Name fällt mir ein. Jürgen, ich heiße Jürgen und ich schaukle kräftiger. Sie sind skeptisch.

Kannst du auch auf Bäume klettern, wollen sie wissen, klar kann ich und wie, - dann zeig mal. Wir gehen zu dem Grundstück neben dem Spielplatz auf dem einige alte Obstbäume und ein zerfallener Schuppen stehen. Dann mach mal, Mädchen können das nämlich nicht, ich sage auch, Mädchen können das nicht und bin schnell ganz oben, na seht ihr? Glaubt ihr's jetzt ? 

Dann kletter da auf den Schuppen ! Das ist verboten, wir dürfen nicht auf das Schuppendach,- der erste geht darauf zu, ich laufe hinterher und bin schon oben. Laut hören wir plötzlich eine Erwachsenenstimme brüllen: runter da, wollt ihr wohl! Na wartet, läuft ein Mann auf uns zu, doch wir sind schneller vom Dach herunter und rennen, ab ins Maisfeld neben dem Spielplatz.

Der Mais steht hoch, hier kann er uns nicht finden, tief geduckt, keine Bewegung, jeder woanders zwischen den hohen Stengeln. Ich lege mich flach auf den Boden und schaue in den Himmel, höre den Mais rascheln, erzählen, hier könnte ich ewig sein, nicht zu finden im Versteck, zu essen gibt es auch, ein Wunder: frisch gepellt aus der Schale schmeckt der helle weiße Mais süßlich, ein bisschen wie Lakritz. Es wird still, nur noch die Grillen.

Vorsichtig komme ich heraus und finde die beiden anderen.

Jetzt glauben sie mir. Ich bin so stolz, ich spiele mit Jungs, die glauben, ich bin auch einer.

Der eine schlägt vor, zu ihm nach hause zu gehen. Dort kann er Wein von seinem Vater aus dem Keller klauen, den können wir trinken, es ist keiner da. Der andere ist sehr beeindruckt und ich stimme zu, obwohl mir mulmig ist. Der Weg zu ihm führt durch ein kleines Waldstück und er schlägt Wettpinkeln vor. Ich sage, ich muss nicht und gehe vor.

Er wohnt am Waldrand, in der Wohnung geht es rechts an einem kleinen Käfig vorbei ein paar Stufen hoch zum Esszimmer. Wir setzen uns an den Tisch, er geht in den Keller und kommt mit einer richtigen Weinflasche zurück, schenkt ein. Ich trinke nicht, ich mag den Geschmack nicht. Stattdessen gehe ich zu dem Käfig im Flur. Darin klettert ein kleiner Hamster. Ich schaue zu, wie er sich putzt, die Körner in die Pfötchen nimmt und nagt, wie wunderschön, wie süß der ist.

Ich schaue auf, die beiden stehen hinter mir und schauen auf mich herunter: du bist ja doch ein Mädchen, sagen sie,-  diesmal leugne ich nicht.

Ich nehme meine Jacke und gehe durch die Haustür, die Treppe herunter, durch das kleine Waldstück, am Spielplatz und dem Maisfeld vorbei, schnell vorbei an den Obstbäumen, dem Schuppen und da ist schon der schmale Weg, der zum Haus meiner Großeltern führt.

Übermorgen kommt endlich meine Kusine aus den Ferien zurück. Ihr kann ich das alles erzählen.


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Kommentare zu diesem Text


 Fridolin (26.01.22, 14:28)
ein schöner, gut lesbarer Text, der mich rätseln lässt, was wohl die Motive für den Rollentausch und seine Zurücknahme waren. Wie hat die Episode Deinen Lebensweg beeinflusst? Was wird die Cousine zu hören bekommen haben?
In der Hoffnung auf eine Fortsetzung
Fridolin

 indikatrix meinte dazu am 26.01.22 um 18:29:
Die Welt riskanter Abenteuer
für manchem Jungen mehr geheuer
und als normal erachtet, recht
mehr als Kindern vom weiblichen Geschlecht,
drum wolltest du wild und gefährlich leben
solltest du dich aus Junge ausgeben.
Vielen Dank und
lg indiaktrix

 GastIltis (26.01.22, 14:50)
Hallo Indi,
erst einmal: Harre aus! Finde ich gut. Übrigens bin ich mit fünf auf einen Schuppen geklettert, um Weidenkätzchen zum Muttertag zu besorgen. Anschließend, die Einordnung von Höhe spielte noch keine Rolle, bin ich herunter gesprungen. Ergebnis: doppelter Bruch des linken Arms zwischen Handgelenk und Ellbogen. Ob ich meine Kletterlust danach eingeschränkt habe? Mitnichten! Später bin ich aus 3,45 m Höhe aus einem Baum noch genau platt auf den Rücken gefallen, eine Woche Krankenhaus. Aber ich klettere weiter. Bin hauptberuflich Schornsteinfeger und nebenberuflich Fassadenkletterer. Jedenfalls für dich!
Sei lieb gegrüßt von Gil.

 indikatrix antwortete darauf am 26.01.22 um 18:39:
Tja, die Jungs hätten mich sicher nicht wieder aufgenommen :
mit Mädchen spielt man nicht!
Heulsusen und Hamsterversteherinnen!
So schwer verletzt wie du habe ich mich allerdings nicht, mal ein Loch im Knie, wurde genäht und das war's. Von einem sehr netten Arzt, der mich zur Abwechslung nach meinem Lehrer fragte, den ich ehrlich treuherzig beschrieb, worauf er meinte: aha, so ein Beatle mit Schiebedach! Ich hatte zwar keine Ahnung wer die Beatles waren, ich war vielleicht zehn, aber schlapp gelacht habe ich mich trotzdem: Schiebedach!
liebe Grüße zurück,
indi




indi

 GastIltis schrieb daraufhin am 26.01.22 um 18:56:
Aha!
Jo-W. (83)
(26.01.22, 16:46)
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 indikatrix äußerte darauf am 26.01.22 um 18:49:
Mein jüngerer Bruder, der eher ein nachdenklicher Mensch und als ein rüpliger Draufgänger war und ist, konnte sich seine Rolle erst erobern, als er den Rüpeln bei den Hausaufgaben half, dann aber hatte er fette Steine im Brett. Wohl um es sich und der Welt zu beweisen, machte er als Jugendlicher Karate und war richtig gut darin. Und sowieso ist er ein toller Kerl. Meine Haare sind jedoch nicht kurz...
Vielen Dank und liebe Grüße,
indi

 AchterZwerg (26.01.22, 17:30)
Hallo Indi,
wer Brüder aber keine Schwester hat, kann den Text gut nachempfinden.
Heutzutage wachsen ja Mädchen ähnlich frei heran wie Jungen.
Ich kann mich aber noch mit Grausen an die Erziehungsversuche meiner Mutter erinnern; Nähen, Kochen, Saubermachen.
Sehr viel lieber wollte ich mit dem Stabilbaukasten meiner Brüder spielen - der stand bei uns nur rum ....
Meist sind solche Wünsche vorübergehender Natur - ein etwas angstbesetztes Spiel. Die eigene Rolle in einer patriarchaisch organisierten Welt zu finden, ist allemal schwierig.
Das kommt in deinem Text gut raus.

Herzliche Grüße
der8.

 indikatrix ergänzte dazu am 26.01.22 um 19:02:
Lieber 8.Zwerg,
ja, die Saubermacherei durften meine Schwester und ich erledigen, mein Bruder eher nicht. Ich weiß gar nicht mehr, welche Aufgabe eigentlich ihm zufiel, irgendetwas, sicher, aber ich beneidete ihn nicht um seinen Chemiebaukasten, auch nicht um die Sachen, die er baute. Das fand ich langweilig. Ich war am liebsten draußen oder hinter einem Buch. Die Welt der Jungs war irgendwie eine andere, sie war spannend, aber fremd, als wenn dort eigene Gesetze gegolten hätten, mit ihnen messen wollte ich mich schon, aber nicht einer von ihnen sein. Das Patriarchat zwingt allen ihre Rolle auf, ob sie wollen oder nicht, ob sie es merken oder nicht, niemand ist eine Insel, wurde auch schon gesagt!
Es ist zum Haareausraufen!
Vielen Dank!
Und liebe Grüße,
indi

 harzgebirgler (27.01.22, 18:43)
dass sich die geschlechterroll'n ändern
sieht man ja inzwischen am gendern.

lg
harzgebirgler

 indikatrix meinte dazu am 27.01.22 um 18:59:
zu hoffen bleibt dass durch die sprache,
sich auch was ändert an der sache
für gleiche arbeit gleiches geld
wär schon mal ein zu beackerndes feld,
das thema ist mühsam drum lasse ich's sein
sonst fällt mir noch viel zuviel dazu ein :( 
lieber was schönes: ich lern jetzt klavier
was viel spaß macht und bald spiele ich hier!

Vielmals Danke und lieben Gruß!
indi

 AngelWings (03.03.23, 03:27)
Manche Kinder schlüpfen in Rollenspiel was noch Spaß, aber ein ernst Themen werden kann.

 Gabyi meinte dazu am 05.05.23 um 18:34:
schön ausführlich hast du diese Episode geschildert. Nur schade, dass du am Ende klein beigeben musstest ;)
LG, Gabyi

 indikatrix meinte dazu am 06.05.23 um 09:42:
Liebe Gabyi,
vielen Dank für deinen Kommentar und deine Empfehlung.
Ich empfinde es nicht so sehr als klein beigeben, als ein erwischt werden.
Unter Angabe falscher Tatsachen, also Lügerei, war ja dann nichts mehr zu machen. Schade, dass die Jungs nicht aus ihrer Haut konnten, ich glaubte auch ein Bedauern zu merken, aber der Codex
war eindeutig: mit Mädchen spielt man nicht. Im Erwachsenenalter hat sich das nicht sehr geändert: im eigentlichen großen Spiel, in den wesentlichen Bereichen der Macht sind Frauen außen vor.
LG
indi

 AngelWings (05.05.23, 18:51)
Bei mir war es anderes herum, ich als Mädel habe ich trotzdem Fussball, das die Jung raten muss mit Kurzen Blonden Haar die ich damals hat🤣. Als sie das mit bekommen das ich Mädchen bin, die hohe selber wusste sein habe. Und mich als Kind , nie was verbieten ließ. 

Ja, leide ist nicht so geblieben!

Kommentar geändert am 05.05.2023 um 18:54 Uhr

 indikatrix meinte dazu am 06.05.23 um 09:43:
Schade!
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