Das kleine Ich bin Ich

Text

von  Mondscheinsonate

Als ich das Foto sah, warf es mich fast um, so schön war sie. Dann sah ich ein zweites mal hin und überlegte, dass in dem Alter niemand so im natürlichen Zustand aussieht und mich ließ das erschaudern. Arm. Getrieben vom Mainstreamwahn. 

Wenn so etwas gefällt, dann kann ich nicht mehr dienlich sein, denke ich, ich bin raus. 


Ich sitze im Schneidersitz auf dem Küchenstuhl, die Haare zu einem Zopf gebunden, habe Weihnachtssocken von der Stiefmutti an, weil ich immer kalte Füße habe, eine Leggins und einen orangenen Sweater, die Farbe finde ich grässlich, aber für zuhause ist es mir "blunz'n". Ungeschminkt sah ich mich vorhin in den Spiegel, ich sehe müde und fahl aus, habe dunkle Augenringe, weil ich seit Monaten nicht mehr schlafen kann. 

Ich zünde mir eine Zigarette an, obwohl ich eigentlich schon seit Wochen nicht mehr rauche, trinke Kaffee aus einer Tasse, die ich in einem Souvenirshop im Louvré gekauft habe. Toulouse-Lautrecs "Tournée du Chat Noir de Rodolphe Salis" ist daraufgedruckt. 

Ich liebe diese Tasse, liebe Paris. Ich kaufte sie um vier Euro und es ist eine, meiner Herzensgegenstände. 

Danach gingen wir ins "Café de Flore", weil ich die Existentialisten liebte, ich war enttäuscht, der Kaffee kostete sieben Euro und alles war charmelos. 


Ich gehe jede Woche zum Frisör und lasse mir die Augenbrauen zupfen, ich bin zu faul, das selbst zu tun. Keine Plastikkrallen, eine Tag- und Nachtcreme aus der Shopapotheke. 

Ich trage einen Hugo Boss Herbstmantel und einen Barbour-Schal, leiste mir Luxus, wenn es sich ausgeht, aber am Ende des Monats ist mehr Konto als Geld da. Mir ist Geld komplett egal, was bedeutet, dass ich es als nötig empfinde, aber nicht wichtig. "Nein, so wirst nicht reich!" - Ist auch nicht mein Wunsch, ich habe genug andere Sorgen. 

Ich beiße an der Lippe herum, sie ist schon blutig, ich schmecke das Blut, süßlich, ich weiß, dass ich eine depressive Verstimmung habe, hasse Abschiede. Am 30.11. ist der erste Todestag.

Ich lasse auch los von ihm, die Uni beginnt Vollgas ab übernächster Woche anzulaufen, eine Klausur jagt die andere, ich lerne nichts, keinen Strich, habe aber ca. 1500 Seiten vor mir, mit allen Fächern. Ich bin traurig, lasse den Kopf hängen. 

In mir tobt ein Schmerz, den ich nicht beschreiben kann. Nein, ich bin kein Ding und nein, ich bin keine Liebeslieferantin, wenn es genehm ist, ich empfinde, habe Gefühle und verdammt nochmal, es wäre schön, wenn man einmal fragen würde, wie es mir eigentlich geht. Passiert nicht. 

Ich drehe die Heizung auf, es rauscht, ich zittere. 

Ja, ich werde mich zum Lernen setzen und meinen Weg gehen, vorher noch Antibiotika, zwei und eine Magentablette. Die wirken schon. 

Allerheiligen... die Wahrheit ist, das letzte Gespräch, das ich mit Oma führte, ihr, nicht Opa, war zwei Jahre vor ihrem Tod. Sie beleidigte mich zutiefst und ich sagte: "Es reicht, 23 Jahre Oma-Terror, pure Kälte, früher war es lustig, aber jetzt nicht mehr, du Drache!" Ich legte auf, sah sie erst zwei Jahre später im Sterben, sie war im künstlichem Tiefschlaf. Ich sagte nicht "Ich liebe dich", aber der Anblick tat mir derart weh, dass er sich in mein Sein einbrannte bis heute. 

Am Friedhof traf ich damals die Verrückte, die zeigte mir ein Foto, das mich auch erschaudern ließ, eingefallen der Mensch, danach Asche. Widerlich!

Ich habe so viel Schmerz in mir und die Prüfungen des Lebens satt, ich nehme alles nur noch hin. 

Manchmal muss ich mich aufraffen, die Wohnung zu machen, das kostet enorme Kraft, mein Lachen flog dahin. Meine sinnlosen Träume von der Zukunft sind lächerlich, ich bin nicht gut genug. 

Empfindlich bin ich auf Psychoterror geworden, da werde ich aggressiv, es tut mir richtig weh, auch körperlich, wenn einer beschissen ist. Ich bin hart in der Öffentlichkeit, innen der Schmerz. Ich wippe mit dem Fuß und habe Durst, die Wasserleitung ist zu weit weg.

Ich ging hinter dem Sarg nach, Fichte. Er wackelte im Auto, ich sah es, als ob sie noch einmal herauskommen wollte, um über alle Leute herzuziehen. Das Totenglockerl läutete. Bim Bim Bim. Stell dir vor, man wohnt dort! Entsetzlich, da wohnt wirklich jemand daneben. Die letzte Stunde schlägt oftmals am Tag.


Ich stehe auf, das alles bin ich, denke ich. Sitze wieder, bemerke, dass ich ein Antibiotikum an einem Tag zu oft genommen habe, dafür das andere nicht, es ist mir gleichgültig. Ich denke nichts, fühle nichts, aber eines weiß ich noch ganz gewiss, dass ich in Würde altern werde, ab sofort. Ich will keine Plastikbarbie werden und ein fremdes Gesicht im Spiegel sehen, ich will auf jede Falte stolz sein, will nicht Schickeriagerecht herumstolzieren und irgendwann werde ich geliebt werden, nicht nur benutzt. 

Der Sarg senkte sich in die Erde. Es wuchs der Farn, später. 


Ich bin Ich? Nein, ich bin sie, sie war nie glücklich. 





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Kommentare zu diesem Text


 Saira (27.10.23, 21:16)
Liebe Mond,

deine Gedanken sind fesselnd, fliessen dahin, lesen sich authentisch.

Liebe Grüße
Sigrun

 Mondscheinsonate meinte dazu am 27.10.23 um 21:19:
Tun weh.
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