Es regnet

Text

von  Mondscheinsonate

Während ich Vorlesung höre, die Gestaltung von Gesellschaftsverträgen, setze ich mich zu einem Mann, der mich böse ansieht, weil er die Beine dadurch zusammengeben muss, ich lächle, denke: "Fuck you!" Das Machogetue habe ich, auf gut wienerisch schon "g'fress'n". In der Vorlesung wird eifrig gefragt, ich blicke mich um, wieder so ein dunkler Leichenzug nach Simmering, die Gesichter sind müde, die Woche war anstrengend. Es regnet in Strömen, es riecht nach Moder. Es ist noch Platz in dem Wagon. Manche haben ihre Kapuzen nicht abgenommen, senken ihre Köpfe. Eine bildschöne Türkin hat ein Buch aus dem Genre Fantasy in der Hand. Sie setzt sich vor mich, schlägt das Buch auf, ich sehe, ihr Lesezeichen ist ein gebasteltes "Himmel und Hölle" - Spiel. Sie nimmt es, gibt es auf die letzte Seite und beginnt zu lesen, neigt den Kopf etwas. Heute steigen fast nur Männer ein, der Professor ist in seinem Element, redet ruhig, aber man merkt, er liebt die Materie, ich höre nur mit einem Ohr zu, das andere konzentriert sich auf die Beobachtungen. Ein Mädchen, ganz in weiß, steigt ein, sticht in der dunklen Masse heraus. Dieselbe Chinesin, die letztens durchtelefonierte, ich erkenne sie wieder, sie hat Dr.Martens mit einer hohen Sohle an und eine breite Hose mit vielen Seitentaschen, das finde ich großartig, telefoniert wieder, auch jetzt versteht man sie nicht. Ich habe auch Martens, meine sind 32 Jahre alt und wie neu, obwohl ich mit ihnen oft im Dreck stand oder lag, unverwüstlich. Ich höre: "Das kommt zur Klausur," höre kurz aufmerksam zu, da, wieder das stinkende Eck, Nähe Floridustower, das ist nicht zu verstehen. Einmal schrieb ich dem Magistrat, der schickte mir eine Liste, ich musste täglich aufschreiben, wo und wann es stank und wie intensiv, das über drei Wochen. Es stinkt noch immer. Über der Brücke sieht man gar nichts durch den strömenden Regen. Ich sehe durch ein Loch in der Angehauchtheit, entdecke nur grau. 

Das Mädchen ganz in weiß hat sich zu mir gesetzt, sie hat die Kapuze auf und sieht aus wie aus dem Contact Tracing während Corona. Draußen hat jemand einen Schirm in pink. Ich habe die Vorlesung abgedreht und höre Anita Baker. Die Straßenbahn steht vor dem Technikum Wien, einer Fachhochule. 


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Kommentare zu diesem Text


 Milta_Svartvis (24.11.23, 12:41)
Interessant. Sehr bildhaft beschrieben. LG

 Mondscheinsonate meinte dazu am 24.11.23 um 13:29:
Dankeschön.

 Saira (24.11.23, 19:35)
Hallo liebe Moon,

gerade denke ich: "Die Moon hat eine Beobachtungs- und Erzählgabe ... wow." Dann kommen mir Gedanken wie: "Das passt zu ihrem Studium und zwar perfekt, denn wie sollst du Menschen beurteilen, wenn du sie nicht zuvor, anhand von ihrem Reden, ihren Gesten, sehr genau beobachtest?" Ein Urteil zu fällen, mag ich mir für mich nicht vorstellen, aber es muss Richter geben, die das tun und ich denke weiter: "Wenn, dann können es Menschen tun, die sehr gut beobachten."

Liebe Grüße
Sigrun

 Mondscheinsonate antwortete darauf am 24.11.23 um 20:03:
Na, Vorsicht, Urteile - bis auf diese unsägliche Hausarbeit bis 23:59 abzugeben, möchte ich auch nicht fällen. Anklage ist doch interessanter, man hört einen SV und dann geht man auf Spurensuche, wie man jemanden "drankriegt", das ist Mick Hammer-mässig, sowas mag ich. Dankeschön!
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