Friedhofsgeflüster

Text

von  Mondscheinsonate

Und während ich tatsächlich am Friedhof saß, das Telefon zeigte -1°C (gefühlte -7°C), las ich "Traumreisen" von Honoré de Balzac weiter - So brachten mich oftmals ein Wort in einem Satz, der Titel eines Buches, die chinesischen Bilder auf meiner Untertasse an Bord eines Schiffs der Fantasie und ließen die tausend Wonnen meiner imaginären Reise aufkommen." - und die fliegenden Rösser der modernen Menschen setzten über mir zur Landung an. Ich hatte mir zuvor einen Kaffee gekauft, der kalt durch die Kehle rann (sind wir uns ehrlich, es gibt nichts Ekelhafteres als kalter Kaffee, man möge auf die Gesichter der Menschen sehen, wenn sie den letzten Schluck trinken, einfach aus Höflichkeit austrinken), kam während des Lesens zu mir, erdete mich tatsächlich wieder. Das Bewusstsein, dass das Leben kurz ist, verdammt kurz sein kann, stach mir ins Auge: 1990 - 2010. 

Ich rauchte keine Gauloises, das erschien mir zu pietätlos, denn ich war diesmal nicht alleine, in der Reihe des, nämlich meinem, Verstorbenen fand eine Beisetzung statt, die mich traurig stimmte. So stellten die Sargdiener den Sarg auf das Gestell, da stand ich auf, auch sitzen, eigentlich kauern vor Kälte, empfand ich nicht angemessen, und verstellten mir zunächst die Sicht auf die Trauergemeinde, es ist sehr eng in diesen Reihen, naturbelassen, dann erst als sie auf die andere Seite gingen, sich umdrehten, in die andere Richtung blickten, sie drehen sich immer um, als ob sie nicht stören wollten oder auch um sich vom Leid zu distanzieren, welches sie den ganzen Tag sehen müssen, sah ich den Menschen und den Pfarrer, es war ein Mensch vor dem engültigen Umzug, den letzten, einer, es war eine Frau, die weinte bitterlich, so sehr, dass es sie schüttelte. Der Anblick war grauenhaft und es schien als ob der Pfarrer noch länger brauchte als sonst, danach kurbelte der Pomfüneberer den Sarg nach unten. Dann, als sie ein Schäuflein Erde nachwarf, es machte ein dumpfes Geräusch, es dürften Steinchen darin gewesen sein, umarmte sie der Pfarrer herzlich, man merkte, ihr Schütteln ging auch an ihm nicht spurlos vorüber. Beide gingen und dann erst setzte ich mich wieder nieder, sah dem geschäftigen Treiben zu, es ging schnell. Interessant war tatsächlich, dass die Sargträger sich alle eine Zigarette ansteckten, an mir vorbeigingen, da sagte der eine:"Heftig." 

Empfand ich auch, denn kollektive Trauer ist nicht so schlimm wie diese Frau ganz alleine, das Kollektiv gibt sich gegenseitig Halt, die Frau hatte nur den Pfarrer, nur ihren Glauben. 

So saß ich noch eine Weile, erdete mich auf dem kalten Stein, las in Balzac, hielt ein heilendes Zwiegespräch, fand Gefallen an einer Krähe, die frech sich Kerzenwachs stahl, sah mir das neu gestaltete Grab des "Nachbarn" an, stets entzückend und liebevoll, betrachtete die Scheußlichkeiten (übermäßige Mehrzahl!) der Verrückten, die mir langsam leid tat, denn zu Lebzeiten wurde sie vom Verstorbenen verarscht, ja, er verarschte sie, jetzt hält sie noch immer an ihm fest, dann stand ich auf, bedankte mich für die Kraft und ging zu dem frischen Grab hin, erschrak, sagte auch laut:"Zu heftig!" 

Auf dem provisorischen Holzkreuz stand ein Name eines Burschen und das Geburts- und Sterbedatum. Er war erst 15! 

Nur die Mutter und der Pfarrer  hatten ihn begleitet. Die Einsamkeit der heutigen Zeit wurde hier plastisch. 



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Frühere bzw. ältere Kommentare zu diesem Text


 AchterZwerg (15.01.24, 16:45)
Heute ist ein guter KaVau-Tag: gleich mehrere gute Texte und Gedichte! :)

Hier gefällt mir besonders, dass du dich diesmal (*hüstel) stringent an einen Handlungsablauf hältst, das Ende aber gewohnt offen gestaltest.

<3 Herzliche Grüße der Anerkennung <3
der8.

 Mondscheinsonate meinte dazu am 15.01.24 um 16:50:
Nun ja, warat wegen der Pietät gewesen. Geschehen im Außen müssen stringent sein, Gedanken sind es selten. 
Ich sag dir, das war heftig grausam. 
Dank dir.
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