Sozialisation

Text

von  Mondscheinsonate

Durch den abgestorbenen Teil meiner Thujen sehe ich in den Garten des Kindergartens. Zwischen 11 und 12 Uhr, bei Wind und Wetter, lassen die Tanten die Kleinen draußen spielen. Ich schrieb bereits, es ist zumeist entzückend, aber leider auch zeitweilig grausam was sie treiben, so auch vorhin. 

Drei Mädchen hüpften und tanzten vor dem Gartenzaun, sangen und klatschten, quietschten vor Freude. Interessant war, dass ein Mädchen sichtlich den Ton angab, die anderen zwei Mädchen sahen ständig auf das tonangebende Mädchen, besonders auf deren Beine, damit sie exakt die Bewegungen nachmachen konnten. 

So ging das ein paar Minuten, bis ein viertes Mädchen dazu kam, andere Bewegungen machte, sichtlich Freude am Mitmachen hatte, jedoch ihren eigenen Tanzstil einbrachte. Es dauerte keine Minute, da sahen die zwei Mädchen, die vorerst dem Alpha-Tierchen folgten, dass es eigentlich viel lustiger sei, so zu tanzen wie es einem beliebt und sie tanzten plötzlich wie sie wollten, die Homogenität ging verloren, der Spaß steigerte sich, es wurde lauter gequietscht. Nur eine, die vorhin alle führte, blieb plötzlich wie erstarrt stehen, sah auf die, die am Schluss kam, trat aus der Reihe, ging auf sie zu und schubste sie so stark, dass die Überraschte zu Boden fiel. Nicht nur das, sie begann sie mit den Füßen zu treten und schrie so laut dabei, dass es zum Fürchten war. 

Diese herzzereißende Szene - schlimm, wenn man nicht eingreifen kann - war ein Jammer. 

Die anderen beiden Mädchen sahen zu. 


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Kommentare zu diesem Text


 Graeculus (25.04.24, 15:01)
Manchmal kommen einem Kinder wie kleine Erwachsene vor.

Die Szene ist gut beschrieben und erreicht ihren vollen Schrecken mit dem Schlußsatz.

 Mondscheinsonate meinte dazu am 25.04.24 um 19:54:
Das ist der Beginn der Grausamkeit.

 EkkehartMittelberg (25.04.24, 17:29)
Der Umkehrschluss gilt auch. Manchmal kommen einem Erwachsene wie kleine Kinder vor.

LG
Ekki

 Mondscheinsonate antwortete darauf am 25.04.24 um 19:55:
Das Böse ist angelegt, Ekki.

 Regina (26.04.24, 03:57)
Müssten da nicht die Erzieherinnen eingreifen?

 Mondscheinsonate schrieb daraufhin am 26.04.24 um 04:00:
Die Tante kam eh.

 Teo (26.04.24, 07:30)
Moin,
tieftraurig, deine Geschichte.
Früher reichte einer hinter die Löffel und dann war gut. Heute können es die Psychologen kaum noch richten.
Aber auch so Kinder gehen ihren Weg.
Wie vor etlichen Jahren die freche Göre aus dem Rheinland. Irgendwann ging sie dann zur Uni. Allerdings um da zu putzen.
Schönes Wochenende 
Teo

 Mondscheinsonate äußerte darauf am 26.04.24 um 15:09:
Nun, Gewalt ist auch keine Lösung für Gewalt. Was mich so ärgert ist, dass diese eklatante Eitelkeit und der Neid bereits bei den Kleinsten aufkommt.

 Graeculus ergänzte dazu am 26.04.24 um 15:14:
Früher reichte einer hinter die Löffel und dann war gut.

Teo, das glaube ich nicht, das ist ein Mythos. Die Schläge, die Kinder von ihren Erziehungsautoritäten bekommen haben, die haben sie, um sich auch einmal stark zu fühlen, an schwächere Kinder weitergegeben.

Ich bezweifle, ob die Zahlen, die heute von einer zunehmenden Gewalt unter Kindern sprechen, bezogen auf die 50er und 60er Jahre solide sind.

 Teo meinte dazu am 26.04.24 um 20:24:
Nein Cori, Gewalt ist keine Lösung.
Wolfgang ist ja auch schon darauf eingegangen. Tja...was meine ich mit hinter die Löffel. Es gab mal Kopfnüsse, einen Klaps auf den Hinterkopf...wobei ich manchmal nicht sicher war, ob es den Eltern mehr weh tat. Ich bin nie ins Gesicht geschlagen worden. Ich bin einmal in meinem Leben ins Gesicht geschlagen worden.
Von einem Schalkefan. So, nun könnt ihr meine Abneigung gegen diese Gurkentruppe verstehen...

 Mondscheinsonate meinte dazu am 26.04.24 um 20:34:
Hahaha, versteh ich. Ich bin regelrecht geprügelt worden von meinen Eltern, verspüre aber niemals das Bedürfnis, dies zu Wolfgang, andere zu schlagen. Es gibt aber durchaus Kinder, die Gewalt mit Gewalt beantworten, weil sie es nicht anders gelernt haben.

 Graeculus meinte dazu am 26.04.24 um 20:40:
Ob es da einen Unterschied zwischen Jungen und Mädchen gibt?

Im Prinzip kann erlittene Gewalt in der Kindheit - die Teo, wie wir jetzt wissen, gar nicht meinte - zwei Einstellungen hervorrufen: Abscheu vor Gewalt oder Gewalt als Recht des Stärkeren, als der sich der Heranwachsende dann später gegenüber Jüngeren fühlt.

 Mondscheinsonate meinte dazu am 26.04.24 um 20:44:
Ich glaube, mittlerweile gibt es keinen Unterschied mehr. Früher wurden Mädchen zu "sittsamen Wesen" erzogen, heute ist es anders (bei uns zumindest). Was auch gut ist, denn ich halte es nach Beauvoir: "Wir werden nicht als Mädchen geboren, wir werden dazu gemacht."

 Graeculus meinte dazu am 26.04.24 um 23:22:
Am 22. August 1965 kamen im kanadischen Winnipeg, einer Stadt etwa so groß wie Frankfurt, Zwillinge zur Welt. Ein seltenes und freudiges Ereignis – auch für die Wissenschaft. Denn eineiige Zwillinge haben dasselbe Erbgut. Also kann man dessen Einfluß an ihnen erforschen, was im 20. Jahrhundert auch überreich geschah. Bruce und Brian Reimer dienten als Beweis dafür, daß die Erbanlagen das Geschlecht eines Menschen nicht bestimmen. Weiblichkeit und Männlichkeit sind keine biologischen Identitäten, sondern psychische: So lautet die Annahme, die heute als Grundlage des „Gender Mainstreaming“ in die Politik eingegangen ist. „Man kommt nicht als Frau auf die Welt“, hieß das bei Simone de Beauvoir, „man wird dazu gemacht.“
Bruce Reimer kam nicht als Frau auf die Welt, aber er sollte dazu gemacht werden. Sieben Monate nach der Geburt des Jungen wurde sein Penis bei einer Beschneidung vom Arzt mit einem elektrischen Instrument so stark verbrannt, daß das Glied sich schwärzte und bald vollständig abfiel. Keiner der hinzugezogenen Mediziner konnte den Eltern einen Weg aufzeigen, diesen Schaden wenigstens einigermaßen zu beheben. Die Möglichkeiten der plastischen Chirurgie reichten nicht so weit. Im Februar 1967 sahen Ron und Janet Reimer dann in einer Fernsehrunde einen Doktor aus den Vereinigten Staaten, der ihnen wieder Hoffnung gab. Es war John Money, ein Psychiater vom Johns-Hopkins-Krankenhaus in Baltimore.
Money behauptete in der Sendung, man könne aus Männern ohne weiteres Frauen machen. [...]

Ob Simone de Beauvoir das Ergebnis dieses berühmten Experimentes mit den Reimer-Zwillingen kannte?

Money ordnete die mit Beginn des neuen Jahrtausends nach dem Bekanntwerden von David Reimers wirklichem Schicksal aufbrandende Kritik an seiner Arbeit und die veränderte Haltung der Presse als „Bestandteil der antifeministischen Bewegung“ ein. Wer behaupte, Männlichkeit und Weiblichkeit seien genetisch verankert, wolle die Frauen „zu ihrer angestammten Rolle im Bett und in der Küche“ zwingen. Bis heute wird mit diesem bizarren Argument jeder Einwand gegen die Gender-Theorie zurückgewiesen. David Reimer zog aus seinen Erfahrungen einen schlichteren Schluß: „Man kann nicht sein, was man nicht ist.“

 Graeculus meinte dazu am 26.04.24 um 23:30:
Noch ein zusätzlicher Abschnitt aus dem Bericht über dieses Experiment:

Der Reimers-Fall und mit ihm Moneys Theorie wurde nun auch in die Lehrbücher zahlreicher wissenschaftlicher Fachgebiete aufgenommen. 1975 schilderte ihn Money in seinem populärwissenschaftlichen Buch „Sexual Signatures“ abermals als „schlagenden Beweis“ für die offene Geschlechtsidentität des Menschen. Auch in der feministischen Literatur belegte der Fall Reimer die beliebige Formbarkeit geschlechtlicher Identität. Alice Schwarzer erwähnt ihn, worauf unlängst die Journalistin Bettina Röhl hingewiesen hat, in ihrem 1975 erstmals erschienenen Buch „Der kleine Unterschied“. Schwarzer lobt Money und Erhardt als Ausnahmewissenschaftler, die „nicht manipulieren, sondern dem aufklärenden Auftrag der Forschung gerecht werden“, und erzählt die Erfolgsgeschichte ihres Experimentes nach. Dank Hormonbehandlung und plastischen Operationen werde Brenda eine „normale“ Frau sein, die nur nicht gebären könne. Nicht ganz folgerichtig heißt es dann weiter, daß die Gebärfähigkeit ohnehin der einzige Unterschied zwischen Männern und Frauen sei. „Alles andere ist künstlich aufgesetzt, ist eine Frage der geformten seelischen Identität.“ Bis in die aktuelle, im September 2004 erschienene zweite Auflage der Neuausgabe (2000) ihres in viele Sprachen übersetzen Buches präsentiert Alice Schwarzer in keinen Widerspruch duldendem Stil den lebenden Beweis für die Gendertheorie.

Der war zu diesem Zeitpunkt allerdings schon tot. Bereits seit 26 Jahren hatte er unter dem Namen David wieder als Junge und Mann gelebt. Im Frühjahr 2004 erschoß sich David Reimer mit einer Schrotflinte. Die wissenschaftliche Kontrollgruppe des Zwillingsexperiments, sein Bruder Brian, hatte sich im Jahr zuvor mit Tabletten das Leben genommen.

Antwort geändert am 26.04.2024 um 23:35 Uhr

 Graeculus meinte dazu am 27.04.24 um 00:10:
Schon die Antike kannte einen solchen Fall: Achill, der große Held des Trojanischen Krieges, wurde nämlich als Mädchen erzogen. Auch das hat nicht geklappt:

Weil Thetis wußte, daß ihr Sohn Achill, den sie von Peleus hatte, umkommen werde, wenn er gegen Troja ziehe, um es zu erobern, gab sie ihn auf die Insel Skyros zu König Lykomedes. Dieser hielt ihn in Frauenkleidung mit verändertem Namen unter seinen unverheirateten Töchtern versteckt: Die Mädchen nannten ihn nämlich „Pyrrha“, da er blonde Haare hatte. Denn „blond“ heißt auf griechisch „pyrrhon [πυρρόν]“.
Als die Achäer jedoch in Erfahrung brachten, daß er dort verborgen werde, sandten sie Unterhändler zu König Lykomedes mit der Bitte, ihn den Danaern zu Hilfe zu schicken. Obwohl der König sagte, er sei nicht bei ihm, gab er ihnen die Möglichkeit, im Palast nach ihm zu suchen.
Als sie nicht erkennen konnten, wer es war, legte Odysseus in die Vorhalle des Palastes Gaben für Mädchen, dazu aber auch einen Schild und eine Lanze. Dann ließ er plötzlich Trompete blasen und Waffenlärm und Geschrei ertönen. In der Meinung, ein Feind sei erschienen, zerfetzte Achill sein Frauenkleid und riß den Schild und die Lanze an sich [Achilles hostem arbitrans adesse uestem muliebrem dilaniauit atque clipeum et hastam arripuit]. Daran erkannte man ihn, und er versprach, den Argivern seine Dienste und seine Myrmidonen als Soldaten.

[Hyginus: Fabulae 96]

Antwort geändert am 27.04.2024 um 00:11 Uhr
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