Nachtschicht

Text

von  Mondscheinsonate

Die Frau Doktor AB-XY, LL.M. hat mir auf eine Frage, die ich um 21:30 absandte, sofort zurückgeschrieben. Gut, sie ist Rechtsanwältin, die sitzen zumeist lange und arbeiten, jedoch heute ist Sonntag und ich bin ihre Studentin, sie hätte mich ignorieren können, was sie nicht tat. Die Steuer- und Unternehmensrechtler bei uns an der Universität schreiben rund um die Uhr zurück. Ich tat mir so schwer im Wertpapierrecht (interessiert mich null!) und schrieb dem Professor um 00:02 eine Mail, er schrieb sofort zurück, Eingang 00:10! Es folgte eine Konversation bis 2:00. Mein Highlight war mein Verfassungsrechtler, der mir um 4:06 zurückschrieb, am Samstag und die Privatrechtlerin, meine Umweltrechtprofessorin, die schrieb am 1.1.2023 zurück. Jede/r von ihnen lehrt mit Leidenschaft und Liebe. Gut, wir sind nicht die Uni Wien, sind überschaubarer, aber das ist nicht selbstverständlich.

Heute sah ich "Öffentliches Recht -Schriftsatzmuster und Schriftsatzgestaltung", da sagte der Professor, die Koryphäe schlechthin, dass "er ein Beistrich-Monk sei, überhaupt ein Monk (aus der Serie), was die Grammatik und Rechtschreibung angehe. Das Schlimmste sei für ihn - tatsächlich - obiter dictum in Entscheidungen, denn nur die ratio decidendi zählt, das sind unnötige Seitenhiebe. Und, bitte reduzieren Sie den Superlativ, schlimm ist "in keinster Weise", seit wann wird "kein" gesteigert? Wenngleich, einlenkend, in der Umgangssprache wird dies verwendet, aber im Schriftsatz bitte nicht." Abschließend: "Vermeiden Sie Schachtelsätze, schreiben Sie im Aktiv und nicht wie Thomas Bernhard!" -

Okay, ich bin endgültig draußen, dachte ich.


Weil der Typ mich damals anging, natürlich schreiben wir es nicht im SS (Schriftsatz), aber jeder Jurist spricht einen Satz mit "man", damit spricht er oder sie die Allgemeinheit an. Da habe ich sowieso schon - auf Wienerisch - g'fress'n, wenn sich Menschen wichtig machen bei Fachbereichen, die sie nicht gelernt haben. Aber, so "auf voll wichtig und belehrend". So lächerlich. 


Nun ja, meine ProfessorInnen sind aus Gold und furchtbar lieb. 

Er sagte auch:"Wir wollen Sie nicht quälen, wenn wir bei mündlichen Prüfungen genau auf den Fachbegriff pochen, selbst, wenn Sie ihn umschreiben. Wir bereiten Sie auf die Praxis vor." - Ein pikantes Detail am Rande: Solche gewünschten Fachbegriffe stehen zumeist in Fußnoten, somit lernt man nicht nur 800 Seiten, sondern in Wahrheit das Doppelte, denn die Fußnoten sind in der Rechtsdatenbank nachzuschlagen. 


Ich sitze wieder bei dem Steuerrecht und den Umgründungen. "Wie heißt die Bilanz nach der Verschmelzung?" Schweigen im Saal. Ich grinse vor dem Bildschirm. Das hatte ich zur Prüfung für den Bilanzbuchhalter. Noch immer Schweigen. Sie lacht, sagt:"Verschmelzungsbilanz, ihr seid schon müde." 

Ja, bin ich, trotzdem - Drill: "Und, wenn ich Sie um drei Uhr Früh anrufe und aufwecke, Sie haben die Antwort zu geben!" - O-Ton, Bürgerliches Recht. 


Mein Lernverhalten hat sich mit den Jahren geändert. Früher merkte ich, wenn sich das Gehirn langsam füllte. Ich lag dann im Bett und memorierte nochmals, so ging es ins Langzeitgedächtnis. Jetzt, nach all den Jahren, denke ich über nichts mehr nach, es geht sofort ins Langzeitgedächtnis über. Das ist, als ob man in einen Leerraum lernen würde, ich habe das Gefühl, ich habe mir nichts gemerkt und wenn ich gefragt werde, kommt die Antwort automatisch. 

Lernen ist ein reines Training. Am Anfang gehen nur 20 Minuten, dann 30, 40 usw. Reine Übungssache. 

So dachte ich immer: "Was ein (Beispiel) Graeculus alles weiß!" - Wir bunkern nicht mehr im Kurzzeitgedächtnis, es geht alles sofort ins Langzeitgedächtnis über, nur schwer unnötiges Wissen, das wird schon selektiert (wie: Was stand am 20.04. auf der Einkaufsliste). Daher mache ich mir keine Gedanken mehr über Gelerntes, es ist abrufbar. Außer, das ist eine Ausnahme, beim Bulemielernen, schnell nach der Klausur wieder vergessen, gehört zum unnützen Wissen (für mich). 

"Zeichnen Sie sich alles auf, es ist wirklich leichter!" - Ja, Strichmaxerln, sagen wir in Wien, so merke ich mir schweren Stoff. Bürgerliches, z.B. wäre undenkbar (ein blödes Wort, alles ist denkbar) ohne Skizze. 

Kriminologie, die Theorien Durkheims - und schon wird nachgeschlagen - ich fange nichts mit "aus dem Kontext gerissenen Dingen" an, brauche ganze Passagen. Who was Émile Durkheim? 

Na, bitte. Schon mehr gelernt, als nötig. Das macht mehr Spaß. 

Überall, auch im Urlaub - Das Dutch Fort in Galle. Nachsehen, sofort! "Du, Sri Lanka heißt seit 1972 erst so, vorher Ceylon." Alle Informationen dazu lesen. So lerne ich, immer, überall, ständig und automatisch. Es macht mir Freude. 

Das, mit den Schachtelsätzen und dem Thomas Bernhard - Stil, das ist allerdings ein Jammer.


22:47 gerade kam noch ein Mail der Frau Doktor rein, sie wünscht mir noch eine angenehme Nacht. Ich ihr auch.


Hinweis: Der Verfasser wünscht generell keine Kommentare von Verlo.

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text


 Graeculus (29.04.24, 00:26)
Das mit der präzisen Sprache, o.k. Ja, und jedes Fach hat seinen verpflichtenden Jargon, damit zeigt man auch Zugehörigkeit. Aber daß da vielfach Menschen noch in der Nacht arbeiten, hat etwas Erschreckendes ... für mich. Frißt die Arbeit sie nicht auf?

 Mondscheinsonate meinte dazu am 29.04.24 um 00:33:
Willkommen im 21.Jahrhundert.

 Graeculus antwortete darauf am 29.04.24 um 01:32:
Kann es sein, daß es sich dabei - aus irgendeinem kuriosen Grunde - um ein Juristen-Phänomen handelt?
Ich habe einmal dem deutschen Strafrechts-Papst Thomas Fischer eine Mail geschrieben, weil in einem seiner Bücher ein eindeutiger logischer Fehler stand. Nach 20 Minuten hatte ich eine Antwort. Das war ungefähr die Zeit, die er benötigt hatte, um in seinem Buch nachzuschlagen und sich anschließend die Haare zu raufen.

Die deutschen Lokführer hingegen haben kürzlich die 35-Stunden-Woche erkämpft.

 Mondscheinsonate schrieb daraufhin am 29.04.24 um 01:42:
Fristen, Fristen, Fristen...
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram