Die Linde in unserem Garten

Erzählung zum Thema Nostalgie

von  tueichler

Ich wohnte in einer Kleinstadt mitten in Sachsen. Ein beschauliches Städtchen, auch zu Ostzeiten eigentlich eine kleine Idylle. Das Grundstück lag auf einer Terrasse oberhalb einer Straße und unterhalb einer alten Ziegelei. Der Garten war schön angelegt, mit einem Rundweg, Beeten, einem Apfelbaum auf der Wiese, einem Obstkeller und viel Blumen und Gras. Mitten in unserem Grundstück steht eine, mittlerweile wohl etwa 140 Jahre alte Linde. Die Linde hat einen Frostriss, irgendwann in den 50ern war wohl so ein starker Frost, dass der Baum aufriss. Der Riss ist lange verheilt, die Linde aber hat sichtbar eine Narbe, die auch nach all den Jahren noch als Wulst am Stamm sichtbar ist.
Mein Großvater hatte das Haus in den 30er Jahren gekauft, soweit ich weiß, vom ehemaligen Ziegeleibesitzer. Kurz nach dem Krieg hat es in der Ziegelei, eine mit einem gemauerten Ringofen aus Klinker, gebrannt. Den Erzählungen meiner Vorfahren zufolge sind  damals alle ins Dachgeschoß und haben das Dach mit Wasser besprengt, um zu verhindern, dass das Haus durch Funkenflug Feuer fängt.
Im Garten fanden wir, offensichtlich aus der besseren Zeit des Ziegeleibesitzers, Reste von Wasserspielen aus Sandstein.
Jedenfalls ist die Linde wohl als Hausbaum vom damaligen Besitzer gepflanzt worden und hat alle Bill und Unbill gesehen. Zum Beispiel mein Schulanfang, den wir darunter im Hochsommer feierten. Es war furchtbar warm, ich hatte eine Zuckertüte und die Verwandtschaft aß Kuchen.
Aber erst nach einer kleinen Aufregung, auf dem Weg zur Einschulung stieg Rauch aus unserem Schornstein, ein Glanzrußbrand. Feuerwehr, Aufregung, alle in schöner Robe, irgendwann Entwarnung, schafften wir es gerade noch pünktlich zu meiner Schuleinführung. Die Linde stand unbeeindruckt und spendete Schatten.
Später haben meine Geschwister im Garten eine Fete mit Freunden gefeiert, wir hatten damals einen Hund. Der Grill lief unter der Linde im Hof (den wir zuvor mit Terrazzo angelegt hatten) und Würstchen und Fleisch garten vor sich hin. Bis der Hund gelernt hatte, die Würstel zu vom Grill zu klauen.
Direkt neben der Linde befand sich ein Brunnen. Nicht so ein Bohrloch, wie man es heute findet, sondern ein richtig gemauerter Brunnen. Er war abgedeckt mit zwei massiven Schieferplatten, an deren Berührungsstelle ein kreisrundes Loch geschnitten war. Das Loch hatte wohl etwa einen halben Meter Durchmesser und war mit einer Eisenplatte abgedeckt, die verschraubt war. Als Kind habe ich immer auf dem Brunnen gespielt und mir vorgestellt, was sich in der Tiefe wohl befinden mochte. Ein wenig älter habe ich mit meinen Geschwistern den Brunnen geöffnet und mit einer Kerze an einem Faden den Brunnen ausgeleuchtet. In etwa 7 Metern konnten wir das Wasser sehen, aber dann ging die Kerze aus. Unser Plan, den Brunnen durch Einsteigen zu erkunden, wurde beiseitegelegt.
Neben dem Brunnen befand sich eine, von meinem Vater gepflanzte Buchenhecke, die allerdings nicht so recht fortkam, da die Linde durch ihren ungeheuren Wasserbedarf den Buchen das Wasser buchstäblich abgegraben hat.
In unserem Waschhaus, einem Keller des im Hang stehenden Hauses, dessen Fundament aus massiven Feldsteinen bestand, kam nach Unwetter hin und wieder Wasser aus der Wand, weil die alte Linde ihre Wurzeln selbst in diese Wände getrieben hat. Obwohl die Linde viel Wasser aus dem Garten zog, stand das Haus wohl auf eine Tonschicht, die das Wasser am Haus staute.
Anfang der 90er bin ich, der Arbeit halber, ausgezogen und in den Westen gegangen. Wehmütig an den Garten und die Linde denkend wohnte ich damals in einer winzigen Wohnung in Mainz.
Irgendwann an einem Sonntagnachmittag erhielt ich einen Anruf, dass unser Haus explodiert sei. Vor Ort gab es ein Bild des Jammers, das Haus lag in Trümmern, alle irdischen Güter und fassbaren Erinnerungen waren pulverisiert und nicht mehr zu retten. Man sagte, es sei Kriechgas, das irgendwie durch Straßenbauarbeiten frei geworden sei. Das Unglück wurde nie aufgeklärt.
Monate, bevor ich in den Westen ging, hatte ich noch im Sanitäranbau eine neue Toilette eingebaut, inklusive neuer Bodenbalken und neuer Holzdielen. Das Klo stand nahezu unbeschädigt etwa 15 Meter vom Haus entfernt auf dem kleinen Grashügel, der den Obstkeller bedeckte.
Gottseidank gab es keine Personenschäden. Es war ein Sommertag, wie der, an dem ich Schulanfang hatte, oder als der Hund die Würstel geklaut hat, oder als meine Schwester mir auf dem Rundweg das Radfahren beibrachte.
Wir haben dann auf dem Grund neu gebaut, ein schmuckes kleines Haus. Der Garten meiner Kindheit existierte nicht mehr. Obstbäume und Rundweg waren verschwunden, wo das alte Haus stand, ist jetzt ein Urwald aus hübschen Sträuchern und Koniferen. Es ist schön, aber die Stütze meiner Erinnerung ist verschwunden. Das Haus, der Garten, der Obstkeller.
Nur die alte Linde steht noch. Und neben der Linde sieht man im Rasen eine Vertiefung, genau dort, wo einst der gemauerte Brunnen war.

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