Mein Dank an Nietzsche

Bericht zum Thema Biographisches/ Personen

von  Graeculus

In einer durch und durch christlichen Umgebung aufgewachsen, hatte ich schon früh das unbestimmte Gefühl einer Fremdheit. Das kann ich nicht besser ausdrücken als durch einen Vergleich: Es war wie das Gefühl eines Pubertierenden, der in einer heteronormativen Gesellschaft lebt und sich später als homosexuell erweisen wird – er kann den Erwartungen nicht entsprechen, er fühlt sich nicht zugehörig, kennt aber selbst den eigentlichen Grund noch nicht.

So ging es mir mit der christlichen Religion. Es war meine Nietzsche-Lektüre, die – weit davon entfernt, mir etwas Fremdes überzustülpen, wie es meine Umgebung versuchte – mir klar machte, daß es ein unchristliches Leben gab, daß dies seine eigenen, nicht durch Sünde belasteten Freuden hatte ... und daß ich dazugehörte!

Der Pfarrer wußte sich nicht besser zu helfen, als mir zu sagen: „Du liest Nietzsche? Du weißt ja, daß du dann exkommuniziert bist?!“ Ja, es gab den Index librorum prohibitorum (Verzeichnis der für Katholiken bzw. Christen verbotenen Bücher) noch; doch ich war schon darüber hinaus, mich davon auch nur beeindrucken zu lassen.

Später habe ich mich über Nietzsches an sich richtige Aussage, daß mit dem christlichen Gott auch die christliche Moral obsolet geworden sei, und den fragwürdigen Konsequenzen, die er daraus zieht, Schopenhauer zugewendet, dem ersten namhaften Atheisten im deutschen Sprachraum. Im Atheismus und der Nähe zur Antike immerhin kamen beide überein – da gab es eine Brücke, über die ich leicht und gerne gehen konnte.

Heute bewege ich mich frohen Sinnes zwischen griechischen Dichtern und römischen Kaisern, die noch nichts wußten von jenem seltsamen Menschen, der von sich sagte: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.“ Dort, bei den Heiden, finde ich meine Antworten, nicht aber im Neuen Testament, einem Buch mit lauter Antworten, zu denen mir sogar die Fragen fehlen.


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Kommentare zu diesem Text


 Terminator (20.04.24, 04:14)
Ich las Nietzsche mit 16 zum ersten Mal. Die Wahrheiten in den Aphorismen waren für mein Empfinden nicht kontrovers oder aufrührerisch, sondern nur ehrlich; meine Zustimmung dazu war trotz noch frischer Konversion vom Atheismus/Nihilismus zum Christentum eine Selbstverständlichkeit, die mir aber auch keine weiteren Erkenntnisse brachte. Meine Kindheit/Jugend war wohl so leidvoll, dass weder Nietzsche noch der tote Gott der Christen, sondern nur ein wahrer Gott mir hätte helfen können. Jahre vergingen, doch der wahre Gott kam nicht, obwohl ich überall suchte, bis ich erkannte, dass er mich längst gerettet hatte, aber wo war er denn die gnaze Zeit? Er war in mir.

Nietzsche lese ich seit zwei Jahren wieder, diesmal vergüngt und heiter. Also auch von mir: Nietzsche, danke für alles. "Gott", danke für nichts.

 Graeculus meinte dazu am 21.04.24 um 14:33:
Ich spreche von dem Gott, der mir als Kind nahegelegt wurde: Schöpfer des Himmels und der Erde, Normgeber und Richter.
Es gibt ihn nicht.
Ob es sinnvoll ist, etwas anderes "Gott" zu nennen, ist eine andere Frage. Als Mythos steht mir immerhin der Polytheismus nahe.

Du bist in einer anderen Tradition und Umgebung aufgewachsen, und es wird damit zusammenhängen, daß Du Nietzsche nicht eigentlich als Befreier, sondern 'nur' als ehrlichen Menschen erlebt hast.

Den rettenden Gott in mir habe ich nie erfahren.

Danken wir Nietzsche!

 FRP (20.04.24, 18:25)
Der Mensch kann keine Schuld haben: Gott schuf ihn nach seinem Abbild. Das kann jedem passieren.

Danke, Friedrich. Viel Richtiges steht neben viel Falschem.
Was du über Schopenhauer sagtest, bleibt bestahn.

 Graeculus antwortete darauf am 21.04.24 um 00:49:
Nietzsche hat mitsamt dem Christentum zu viel über Bord geworfen, was er für jüdisch-christlich hielt, aber in Wahrheit allgemein menschlich ist. Diesen Fehler begeht Schopenhauer nicht.
Neben dem Gedicht auf Schopenhauer, auf das Du anspielst, gibt es in "Schopenhauer als Erzieher" noch den Dank: "meinem ersten und einzigen Lehrer, dem großen Arthur Schopenhauer". Niemandem war er untertan!

 Graeculus schrieb daraufhin am 21.04.24 um 00:50:
Schön gesagt auch: "Man dankt einem Lehrer schlecht, wenn man zeitlebens nur sein Schüler bleibt."

 S4SCH4 (20.04.24, 19:59)
Ich wage die These: Nietzsche hat Gott und den Glaucben, auch den christlichen-, "gelebt". Er ist ihm selbst in die Abgründe gefolgt und hat ihn selbst auf scheinbar anderen Seiten nicht "vernichtet", sondern mit ihm gerungen und sich für eine "Aufrechterhaltung" stark gemacht.

 FRP äußerte darauf am 20.04.24 um 22:49:
Da ist was dran, sein Vater war ja Pfarrer in Röcken.
"Gott ist tot", stellt Nietzsche fest, aber er frohlockt nicht.
Er ist wie gelähmt, dass nicht alles versteinert ob dieser Tatsache. Das er sein Theologie-Studium abbrach und ein Feind der Kirche wurde, ändert nichts. Gott ging ihn an - bis zum Tod.

 Graeculus ergänzte dazu am 21.04.24 um 14:38:
Gott ging ihn an - bis zum Tod.

Vielleicht ist das so - bis hin zu dem legendären Ausspruch: "Hat man mich verstanden? Dionysos gegen den Gekreuzigten!"

Aber war es Gott oder der Glaube an Gott, unter dem er zeitlebens gelitten hat?

Schopenhauer ist da eindeutiger: Aus dem und dem Grunde gibt es ihn nicht, und aus! Unser metaphysisches Bedürfnis müssen wir auf andere Weise befriedigen.

Vgl.
Wolfgang Weimer: Schopenhauer und der Atheismus; in: Wolfgang Schirmacher (Hrsg.): Zeit der Ernte. Festschrift für Arthur Hübscher zum 85. Geburtstag. Stuttgart/Bad Cannstatt 1982 (Frommann-Holzboog), S. 364-373

 Pensionstarifklempner (20.04.24, 22:38)
Vielen Dank für Nietzsche- Anregung. Nietzsche war die Erzählung meines Vaters. 1944/46 in Englischer Gefangenschaft auf Sinai half Nietzsche meinem Vater und seinem Kameraden ( Klaus von Bismarck) das Leben in sein Licht zurücken. Die völlig zerfledderten Bände stehen heute noch in meinem Regal. Vielleicht sollte ich sie lesen. Als junger Mensch kniete ich mich  mehr in Marx und Shakespeare. 
Schönes Wochenende noch

 Graeculus meinte dazu am 21.04.24 um 14:52:
Heute, nachdem er mich befreit hat, finde ich Nietzsche nur noch bzw. vor allem in einem Punkt interessant: Gott hat uns in seinen Geboten nicht nur eine bestimmte Moral gegeben, er hat sie auch begründet. Warum soll ich meinen Nächsten lieben wie mich selbst? Weil Gott, dein Herr und Schöpfer, es so will!
Mit dem "Tod Gottes", d.h. dem Verlust des Glaubens an Gott, ist auch seine Moral grundlos; sie hängt in der Luft, und man vermag nicht mehr zu sagen, warum wir uns so verhalten sollten.

Es ist nun ein auffallendes Phänomen, das Nietzsche selbst schon am Sozialismus diagnostiziert hat, daß die christliche Moral den Tod Gottes erstaunlich gut überstanden hat. Das gilt auch noch heute: All diese christlichen Werte der Nächstenliebe, des Schutzes der Schwachen, des hohen Wertes der Armen usw. gelten auch bei Menschen, die mit Gott gar nichts mehr im Sinn haben, als beinahe selbstverständlich.
Das sind sie ohne Gott eben nicht!

Darüber sollte man sich Gedanken machen, auch wenn man Nietzsches "Umwertung der Werte" nicht folgen mag. Immerhin hat ja, abseits von Nietzsche, der Darwinismus mit seinem "struggle for life" gezeigt, daß es sich nicht um natürliche Werte handelt.

Deshalb und insoweit: ja, man sollte Nietzsche - kritisch - lesen und sich mit ihm auseinandersetzen.
Gauguin, Paul (57)
(20.04.24, 23:31)
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 Graeculus meinte dazu am 21.04.24 um 14:42:
Nietzsche ist in einer stockprotestantischen Umgebung aufgewachsen und hat sich befreien müssen; den Protestantismus hat er "die Halbseitenlähmung des Christentums" genannt, was ich mit meiner katholischen Herkunft noch für eine amüsante Feststellung hielt, denn ich kannte noch die Rivalität dieser beiden Konfessionen.

Nein, der Protestantismus ist keine Alternative.

Mir fällt noch ein, wie Nietzsche auf ihn geflucht hat: Endlich! sei mit Papst Alexander VI. der Antichrist auf den Papstthron gelangt, und da - wo der Sieg so nahe war - habe Luther mit seiner Reformation alles verdorben.
Gauguin, Paul (57)
(22.04.24, 15:55)
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