Grenzerfahrung

Erzählung zum Thema Grenzen/ Grenzen überschreiten

von  AvaLiam

Blicke haften auf mir und meine Mitschüler tuscheln.
Mein Stiefcousin Ronald - dieser Blödmann - macht eine ganz komische Andeutung. "Gute Fahrt mit dem neuen Auto."
Er lacht ganz dreckig und zwischen den Zähnen höre ich seine ganze Verachtung zischen.
Wir sind keine Freunde - nur Nachbarskinder vom gleichen Bauerngut.
Immer wieder lässt er mich spüren, dass ich dort nicht hingehöre - auf den Hof SEINER Großeltern.
Ich bin nur das mehr oder weniger geduldete Anhängsel der Ziehmutter meiner Stiefgeschwister, die ihre Mutter viel zu früh verloren hatten.

Neues Auto?

Wir schreiben Samstag, den 11.11.1989.
Mir ist klar, dass seit 2 Tagen die Zeit jetzt hier anders tickt und irgendwas ganz Großes passiert.
Menschen jubeln und weinen seit mehr als 36 Stunden und ich durfte die letzten beiden Tage bis in die Nacht vorm Fernseher sitzen bleiben und die Bilder anschauen, die mich und meine 13 Jahre anfangs gar nicht so wirklich interessierten.

Selbst mein Stiefvater war völlig euphorisch, ungläubig der Bilder, die da Menschen vor und HINTER der Mauer zeigten.
Ich begriff langsam, worum es ging. Es war nicht nur eine Meldung. Ich habe sie verstanden.
Die Mauer ist gefallen.
Mit einem Mal war meine Familie aus der Pfalz beinahe greifbar, die ich sonst nur aus Erzählungen und Briefen kannte und von den wenigen Fotos.
Ich hatte viele Geschichten gehört von Lehrern, Menschen aus unserem Umkreis. Geschichten, die von Flucht erzählten, Verrat, Zuchthaus und zerrissenen Familien.
Doch auf einmal erhalten all diese Geschichten neben ihren Namen auch Gesichter, Farbe, Klang und einen Duft von Hoffnung und Freude.

Der Freitag, gestern, war ein Tag, wie jeder andere.
Der Schulbus kam wie so oft fünf Minuten zu spät. Ich ging nach ganz hinten und besetzte 2 Plätze für meine Freundinnen.
Gesprächsfetzen verrieten kaum etwas von dem, was ich gestern Abend im Fernsehen sah und worüber ich noch lang nachdachte, während ich nur schwer in den Schlaf fand.
Aber auch das war wie immer.

Heute wurden aus den gestrigen Gesprächsfetzen ganze Reden. Laut und aufgeregt tauschten alle ihr Halbwissen aus und riefen durcheinander.
Die Stimmung verriet etwas Großes, Überschwang, Glück aber auch Angst und Unsicherheit.
Niemand wusste so recht, was die Geschehnisse bedeuten würden - heute und für die Zukunft.
Doch eins war klar: Die Zeit schreibt Geschichte.

Und wir schrieben sie mit - an diesem Samstag.
Es gab einen besonderen Appell und es fühlte sich wie eine große Feierlichkeit an, in die wir eingebunden wurden.
Wir verstanden alles nur so halb. Das Wissen, welches wir gebraucht hätten, um allem wirklich folgen zu können, steckte in den Politik- und Geschichtsbüchern, die wir nicht lesen durften.
Aber in Zukunft sollten wir jedes Buch lesen dürfen.
DAS haben wir verstanden.

Die Schulstunden hatten heute einen eigentümlichen Charakter. Einerseits zogen sie sich, schienen endlos.. Andererseits gab es zahlreiche Informationen und so viele Fragen, welche vom einen zum anderen anderen gingen und zumeist eine klare Antwort schuldig blieben.
Was würde am Montag sein? Was würde am Wochenende passieren? Wie gingen die Menschen mit dem um, was gerade geschieht? Was geschieht eigentlich gerade?

Nach 6 langen Stunden packe ich zum letzten Mal heute meine Schulbücher und Hefte ein.
"Gute Fahrt mit dem neuen Auto." Ronald hatte noch nie ein gutes Wort für mich übrig. Der Satz erscheint mir beinahe wie eine Drohung. Wobei ich mir nicht sicher bin, ob ich es wirklich auch richtig verstanden habe.
Neues Auto? Das kann nicht sein. Ich muss mich verhört haben.
Doch da war Neid zwischen den Worten.

Wie, schon 14:15? Vielleicht schaffe ich den Schulbus nach Hause noch. Ich soll heute sofort nach Hause kommen. Bei dem Wetter ist es außerdem ungemütlich, zu laufen.
Vor allem die drei Kilometer übers freie Feld, wo der Wind ungebremst über die Höhe huscht und Regen zur Peitsche wird.

An der Bushaltestelle ist ein unüberschaubares Gestrubbel. Es wird gepöbelt und sich um die besten Plätze gestritten. Der Eingang ist blockiert vom Busfahrer, der keinen einsteigen lassen will, der sich nicht augenblicklich ruhig verhält. Hallelujah.
Vier Minuten später sitze ich eingepfercht zwischen den "Großen", aber ich sitze.
Samstag ist der Bus oft sehr voll, da wir meistens alle zur selben Zeit Schulschluss haben.
Ich versuche, dem Grölen und Debattieren zu folgen, in den Stimmen Worte zu finden, die ich verstehe. Doch in meinem Kopf existiert nur ein Wort, was sich immer klarer in meinem Gehörgang schiebt.
Auto.
Was wollte Ronald damit sagen? Ich werde einfach nicht schlau daraus.

Im Dorf angekommen, leerte sich der Schulbus nach und nach.
Ich muss Mama fragen. Vielleicht weiß sie was. Ganz sicher würde sie es wissen. Ich stürme den Berg zum Bauernhof hinauf.
Das Fachwerkhaus mit seinem schwarzen Balken verliert sein Weiß im Novembernebel, der vom Sprühregen genährt wird. Die kleinen Kiesel kullern unter meiner schnellen Sohle weg und die Gänse schnattern und schimpfen und fühlen sich gestört.
Wer Gänse hat, braucht keinen Wachhund. Man, können die keifen.

Ronalds Vater Eckbert steht am großen offenen Scheunentor. Sein Blick zeigt eine vertraute Verachtung und heute noch deutlicher, als sonst.
Unsicher rufe ich ihm "Hallo" entgegen, welches verhallt im Stroh auf der Tenne. "Haallloooo" rutscht es mir aus der Kehle und ich erschrecke mich vor mir selber, da jede Unsicherheit verflogen scheint. Unhöflich ist das. Kindisch. Kein Wunder, dass der Sohn genauso ist. Blödmann!
"Tach!", tönt es mit gelangweilter Verspätung. Immerhin eine Reaktion.

Die Tür zum Haus öffnet sich, während ich den Schlüssel suche.
Mein Stiefvater schlurft aus dem Haus, anders als sonst. Er hat eine Hose an und Schuhe, eine richtige Hose und nicht, wie üblich, eine Jogginghose und Schlappen. Gekämmt ist der traurige Rest auf seinem Kopf und er wirkt in Action.
"Papa?" versuche ich eine vorsichtige Ansprache. Er mag nicht gern gestört werden, wenn er beschäftigt ist.
"Geh hoch!" gibt er etwas schroff zurück. "Wir fahren gleich weg."
"Aber ich muss doch Hausaufgaben machen und was essen." frage ich eher nach dem Ziel, als dass ich damit ein Veto einlegen will.
"Wir nehmen was mit. Geh hoch und helfe deiner Mutter. Es geht gleich los." Papa greift nach der Garagentür, hält einen Moment inne, schaut zu mir und wartet, bis ich im Hauseingang verschwunden bin.
Wohin könnten wir wohl fahren? Also hatte Ronald doch recht? Aber was ist mit dem Auto?

Sonst zähle ich die Treppen nach oben in unseren Wohnbereich immer ab. Heute vergesse ich es tatsächlich in der Beschäftigung meiner Fragen. Aber auch der Schultag spukt mir im Kopf herum und alles was seit 2 Tagen anders sein und werden sollte.
Ich ziehe meine Schuhe im Flur aus, schlüpfe in Hauspantoffeln und gehe in die Küche zu den anderen.
Meinen Ranzen stelle ich an meinen Platz und will mich gerade hinsetzen.
"Du brauchst dich gar nicht zu setzen. Wir haben was vor und du musst mithelfen. Wir machen Brote und ich koche noch Brühe für unterwegs." Mama ist wieder in Organisationslaune.
Sie stellt einen Topf mit Wasser auf den Gasherd und dreht den Schalter um, doch das kurz ausströmende Gas versiegt. Die Flasche ist leer.
"Geht mal jemand Vati Bescheid sagen?" Ihr Gesicht zeigt deutlich, wie genervt sie ist.
Natürlich nicht nur von der leeren Gasflasche.
Sie geht die ganze Woche hart arbeiten, Vollzeit. Zu Hause wir drei Kinder, die auch nicht einfach sind. Papa hilft auch nicht wirklich. Ständig zieht er sich zurück in den Garten oder die Garage. Da darf man schon mal genervt sein.

Gott sei Dank hat Papa erst vor ein paar Tagen eine neue Gasflasche besorgt. Sieht sehr schwer aus, wie er sie über den Boden rollt bis zum Schrank. Grummelnd schließt er sie an und fragt: "Seid ihr fertig?" mit Blick auf die Brote.
"Du bist lustig. Wie soll ich denn ohne Gas die Brühe kochen?" gibt Mama etwas bissig zurück.

"Steckst einfach einen Finger ins Auge. Brennt auch." kommentiert Papa undiplomatisch. Er dreht den Schalter am Herd auf und kurz darauf zündet auch wieder eine Flamme.
Papa setzt den Topf mit Wasser auf.
"Seht zu, dass ihr fertig werdet. Ich warte unten im Auto."

Auto? Auto! Ob ich Mama jetzt fragen kann?
Sie wirbelt durch die Küche wie ein Tornado. Meiner Schwester drückt sie die Tasche mit den Broten in die Hand. Mein Bruder bekommt die Tasche mit den Getränken verpasst. "Muss noch jemand zur Toilette? Nicht, dass euch das einfällt, wenn wir unterwegs sind. Geht lieber noch mal." gibt sie wie immer zu bedenken, bevor wir das Haus verlassen.
Allen voran verschwindet sie im Bad und ich höre sie leise fluchen über das Chaos im Bad von 5 Personen, dass noch nicht aufgeräumt ist.
Eigentlich putzen wir Samstags alle zusammen die Wohnung.
Doch heute ist kein gewöhnlicher Samstag.

"Los jetzt. Sonst brauchen wir gar nicht losfahren." Mama schlüpft in ihre Jacke und greift noch nach einem Halstuch.
"Ach, Mama. Ronald sagte was von einem neuen Auto. Wie kann das sein? Ist das wahr?"
"Ja. Komm schon. Es steht unten in der Garage. Ein Wartburg."
Damit lässt sie mich stehen und verschwindet durch die Tür nach draußen.

Wir schreiben das Jahr 1989. NIEMAND kauft sich in der DDR einfach so ein Auto. Die Wartezeit für einen Wartburg ist 16 Jahre lang und manchmal mehr, je nach Ausstattung. Wieso hat keiner was gesagt? Wussten meine Geschwister davon?
Ich fühlte mich ein wenig hintergangen. Da kommt man aus der Schule und da steht in der Garage ein Auto, auf das Papa 16 Jahre gewartet hat. Und nie fiel ein Wort darüber??

Meine Geschwister sind gerade auf dem Weg nach unten und ich bin mal wieder die Letzte.
Keine 20 Minuten aus der Schule zurück, habe ich noch nichts gegessen und den Kopf voller Fragen.
Beinahe ziehe ich zwei unterschiedliche Schuhe an und ein Impuls sagt mir, dass irgendwas nicht stimmt. Ungut - so fühlte es sich an.
Ich muss nach unten. Jetzt.

Mir rutscht die Klinke aus der Hand und die Tür fällt laut ins Schloss. Wenn das mal nicht wieder Ärger gibt.
Papa steht vor dem neuen Auto und wartet. Delphinblau.
Schön sieht es ja aus.
Ich rutsche nach hinten auf die Rücksitzbank, die viel breiter als in unserem Trabbi ist. Wie eine Prinzessin in einer Kutsche fühle ich mich auf den ersten Metern in diesem neuen Gefährt.
Kein dicht an dicht, kein Streit um ein paar Millimeter. Bequem.

Während wir die Auffahrt verlassen und auf die Hauptstraße abbiegen, gibt es eine kleine Ansprache. Papa und mein Bruder haben das Auto am Donnerstag vom Werk abgeholt, am 09.11.1989.
Unser Ausflug sollte eine Überraschung werden. Und wohin wir fahren? An die Grenze. Meine Eltern wollen schauen, wie viele Menschen jetzt in den Westen rollen.
Und schon sind wir im Gespräch über den Donnerstag, den Freitag und den Samstag, über die Nachrichten, über unsere Familie in den alten Bundesländern, über die Schule.

Neugierig auf die Zeit, die Menschen und unser neues Auto fahren wir auf der A 4 erst Richtung Chemnitz und später Richtung Hof. Gleich werden wir die Autobahn verlassen und Picknick machen.
"Hm." höre ich von Papa. Leise, aber ich habe es gehört.
"Papa?"
"Dieter?" Mama schaut in fragend an und weiß genau wie ich: "Irgendwas stimmt nicht."
"Die Gangschaltung. Sie funktioniert nicht. Ich kann nicht runterschalten."
"Hm." kam dieses Mal von Mama. "Und nu?"
"Ja, was und nu? Ich muss runter von der Autobahn. Wir müssen umdrehen. Die Frage ist nur, ob wir so nach Hause kommen." Papa kann einem echt Mut machen.

Wir fahren also über Land zurück nach Hause. Mal sehen, wie weit wir kommen. Vielleicht finden wir unterwegs eine Werkstatt. Viele gibt es in der Gegend nicht.
Gerade durchqueren wir Frankenberg in Sachsen. Eine Kleinstadt im Erzgebirge.
"Papa, in welchem Gang fahren wir denn?" frage ich - technisch völlig unberührt.
"Im Vierten. Eigentlich müsst ich hier in den Dritten schalten. Das ist aber nicht schlimm. Nur am Bahnübergang, da wird es kritisch. Die Schranke darf nicht unten sein. Ich muss mit dem Schwung den Berg hinunter und  auf der anderen Seite wieder rauf. Aus dem Stand wird das nichts."
Ich hab alles verstanden. Vor allem das mit der Schranke.
Und da vorn kommt auch schon die Anhöhe, hinter der es genauso steil bergab geht, wie es auf der anderen Seite wieder hinauf.
Wie wir über die Kuppe fahren, sind alle erleichtert. Sie ist oben.
Papa tritt noch mal ordentlich aufs Gaspedal und holt Schwung.
55 km/h ... 60 km/h ... 65 km/h ... Auf die Geschwindigkeitsbegrenzung kann Papa nicht achten. Wir brauchen jeden Schub.
"So könnte es gehen. Das müsste reichen. Jetzt heißt es: Daumen drücken." Papa ist guter Dinge.

Unser Schicksal nicht.
Die Schranke geht runter. Genau vor uns. Papa muss ganz schön bremsen.
Auch wenn wir Kinder von Technik nichts verstehen und Mama auch nicht, hat das Ausatmen eher etwas von einem Seufzen.
Gar nicht gut. Das spüren wir.

Auto auf einen Parkplatz rollen oder das Unmögliche versuchen?
Diese Wahl muss Papa treffen.
Er will es versuchen.
Ein VW-Motor, aus dem Westen. Der könnte es schaffen.

Das tat er nicht.
Papa trat das Pedal durch. Der Wartburg fuhr den Berg zwar ein Stück hinauf, doch er ruckelte dabei ziemlich heftig. Bis er aus ging.
Drei, vier Mal hat Papa den Motor neu gestartet und beim letzten Mal gab es eine riesige Rauchwolke.
"RAUS. Ihr müsst raus!" schreit Papa.

Das Herz klopft wie wild und ich kann nicht einschätzen, was jetzt alles passieren kann. Der väterliche Tonfall klingt ernst und ich habe Angst, dass uns das Auto in 1000 Teilen um die Ohren fliegt.
Mama nimmt uns beruhigend beiseite und Papa versichert uns, dass alles nicht ganz so gefährlich ist, nur Qualm.
Der Motor ist überhitzt und wir können jetzt nichts anderes tun, als nach einer Werkstatt zu schauen.

Es ist Samstag - in der DDR - und wir brauchen eine Werkstatt.

Papa schließt den Wartburg ab. Wir setzen uns in Bewegung und suchen eine Telefonzelle.
Das sind diese gelben Kabinen, in denen ein ziemlich großer Apparat aufgehängt wurde zum telefonieren. Man füttert ihn mit Kleingeld. Außer man ruft die Zeitansage an, die kostet nichts.
In jeder Telefonzelle gibt es ein Telefonbuch. Dort finden wir bestimmt eine Adresse einer Werkstatt hier, in Frankenberg.

Wie erwartet, gibt es keine große Auswahl.
Wir fragen nach dem Weg und sind zum Glück nicht allzu weit entfernt von der Werkstatt.
Eigentlich hat sie heute gar nicht geöffnet, erfahren wir. Der Mann ist nur da, sein eigenes Auto zu reparieren. Einen Wartburg. Aber in Beige.
Mama und Papa erzählen, was passiert ist und was jetzt gemacht wird. Der Werktstattmensch ist sehr freundlich und hilfsbereit. Er verfrachtet uns in seinen Wartburg, wo wir nun zu viert und zusammengedrängt auf der Rücksitzbank sitzen.
Unser Auto wird zur Werkstatt abgeschleppt. Heute kann man das nicht reparieren. Die Teile müssen bestellt werden. Aber er würde uns nach Hause fahren.
Wie nett ist das denn?

Das tut er jetzt auch.
Wir sind auf dem Weg nach Hause in einem fremden Auto. Dabei sollte doch heute ein besonderer Tag werden, mit unserem neuen Auto an die Grenze, vielleicht auch drüberweg.
Ich habe immer noch Hunger.
Papa unterhält sich und Mama angelt nach den Broten.
"Scheiße!"

"Ja, Scheiße!" antworte ich auf Mamas Ausruf.
Ich hab es doch gewusst. Irgendwas stimmte nicht, als ich die Schuhe anzog und gedanklich schon auf dem Weg vom Flur nach unten, zum Auto war.

"Was?" fragte Papa mit einem Hauch Panik im Unterton.
"Der Herd! Die Brühe!" stammelt Mama.

"Was ist mit dem Herd, Gabi? Was ist mit der Brühe??" Papa ahnt es.

"Hat jemand den Herd ausgemacht?" Hoffnungsvoll schaute Mama von meiner Schwester zu mir und dann zu meinem Bruder.
"Nö." Mehr gibt es nicht zu sagen.
Ich erwarte sonst Vorwürfe und Schuldzuweisungen. Aber heute erwarte ich nichts mehr.
Was für eine Woche. Was für ein Tag.
Ich gab Mama mein Brot zurück. Ich hatte keinen Hunger mehr.

Faktencheck.
Die neue Gasflasche, voll, frisch angeschlossen.
Wasser auf dem Herd. Die Flamme an.
Ist die Balkontür zu?
Wer hat die Tür zugemacht?
"Habt ihr die Balkontür zugemacht?" stelle ich vorsichtig in Frage.
"Du warst doch die Letzte." Mamas Hoffnung sank genauso tief wie sie ins weiche, fleckige Leder der Rücksitzbank.

Die Uroma!
Wir müssen die Uroma warnen.
Sie darf keinen Lichtschalter benutzen, für den Fall, dass die Flamme ausgegangen ist, aber das Gas noch aus der Flasche strömt.
Eckbert hat ein Telefon. Wir könnten ihn anrufen und er geht dann hinüber zur Oma. Nur nicht schellen darf er.
So halten wir also an der nächsten Telefonzelle. Eckberts Frau ist am Telefon und wird der Oma alles ausrichten.
Etwas beruhigter setzen wir die Fahrt fort.

Dennoch ist es jetzt eine stille Fahrt.
Jeder geht seinen eigenen Gedanken nach und kämpft gegen die schlimmsten Vorstellungen von dem, was uns zu Hause empfangen kann.
Bedrückend.

"Wird schon alles gut enden." spricht Mama wohl eher zu sich selbst, als dass sie uns aufmuntern will.
"Wird schon nichts passieren." ergänzt Papa sie.

Gut, dass wir gleich da sind.
Der fremde, hilfsbereite Mann lenkt sein Auto von der Landstraße ins Dorf.
Mama schaut uns Kinder an: "Ich hab euch lieb. Egal was uns da gleich erwartet." Sie blickt zu Papa hinüber. "Wir bekommen das hin."

An der Dorfkirche vorbei können wir unsere Obstbäume schon sehen. Doch sie stehen zu dicht und es ist vom Haus kaum was zu erkennen.
Sah es mit diesem Blickwinkel schon immer so aus? ist irgendwas anders an diesem Bild?
Ich bin total nervös, beiße mir auf die Lippen und mein Blick tastet jedes auftauchende Bild kritisch ab.
Gleich werden wir es wissen.

Der Blinker ist gesetzt, nach links und wir fahren die Auffahrt zum Bauernhof hoch. Es ist ziemlich spät, und es wird langsam dunkel. Das Fachwerkhaus liegt friedlich in der Dämmerung. Die Kiesel knirschen unter den Reifen.
Ein deutliches Aufatmen geht durch den fremden Wagen.
Mama, Papa und wir Kinder schauen uns erleichtert und lächelnd an.
Der Werkstattmensch hält und öffnet uns die Türen. Auch er strahlt. Unser Held des Tages.
Etwa 2 Wochen wird es brauchen, bis er die Teile hat.
Hauptsache keine 16 Jahre.

- Was Papa noch nicht weiß: Die Ostmark wird im Zuge der Wiedervereinigung 1:2 getauscht. Ein Wartburg 1.3 kostet ca. 33.000 Ostmark. Was für ein Auto könnte er sich für 16.500 D-Mark kaufen? Ärgerlich. -

Die Gasflamme ist aus, die Flasche ist leer.
Wir öffnen zur Vorsicht alle Türen und Fenster.
Oma geht es gut und ich kann endlich was essen.


Anmerkung von AvaLiam:

Dieser Text ist nur eine Skizze und noch nicht bearbeitet.
Hinweise der Verbesserung nehme ich gern entgegen.
Ein "Meisterwerk" soll er nicht werden.
Mir war nur wichtig, ihn HEUTE den Tag einläuten zu lassen und von meinen ersten Stunden nach der Wiedervereinigung zu erzählen. Von dieser ganz eigenen Grenzerfahrung.

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Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (09.11.20)
Grundsätzlich würde ich keine 13-Jährige wegen der damit verbundenen großen Nachteile als Ich-Erzählerin verwenden.

 FrankReich meinte dazu am 09.11.20:
Anne Frank war 13, als sie ihr Tagebuch begann, auch diese Rückschau ist authentisch/historisch, und überhaupt, welche großen Nachteile sind denn mit der 'Verwendung' einer 13-jährigen als Ich-Erzählerin verbunden? 🤔

Antwort geändert am 09.11.2020 um 09:14 Uhr

 Dieter_Rotmund antwortete darauf am 09.11.20:
Nee, sorry, Avaliam ist nicht Anne Frank.

Die Nachteile habe ich schon oft an anderen Stellen erläutert, sie sind offensichtlich.

 FrankReich schrieb daraufhin am 09.11.20:
Deine übliche Strategie, Dieter, grundsätzlich etwas zu verallgemeinern, um es anschließend zu relativieren, außerdem bin ich mir ziemlich sicher, dass Du Dich noch an keiner Stelle hier auf kV über die Nachteile 13jähriger Ich-Erzählerinnen geäußert hast, zumindest nicht begründend. 😂

 AvaLiam äußerte darauf am 11.11.20:
Lieber Dieter, lieber Frank,

Sicherlich kann man darüber streiten, welche Qualitäten und Fehler möglich wären.
Ich selbst habe noch keine Beiträge von Dieter dazu gelesen, so dass ich nur mutmaßen kann, was er meinen könne.

Und zu dem Thema Anne Frank... die Veröffentlichung von ihrem Tagebuch fand durch ihren Vater statt, der seinen Korrekturstift angesetzt hat. Es ist also auch nicht wortlautgetreu.
Zudem ich nie so sein möchte, wie jemand anders und genau solche Leistungen fertig bringen, wie jemand anders. Ich möchte ich selbst sein und an mein "altes Schreiben" anknüpfen.

Dass wir unterschiedliche Auffassungen haben, wofür dieses Forum steht und was es ausmacht, wissen wir ja.
Für mich ist es eben eine Möglichkeit, mich frei zu schreiben. Sollte ich dabei zu sehr langweilen, zu viele Fehler machen und jedes Interesse an meinen Gedanken und Texten verspielen, dann ist das ok.
Ich bin hier, um zu wachsen.
Gern tue ich das durch Hinweise, Rat- und Vorschläge sowie Fehlerberichtigungen, die ich ja bereits von euch beiden, wie auch von einigen anderen erhalten und angenommen habe.

Vielleicht stolpere ich demnächst über entsprechende Passagen, die Dieter meint und kann demnach abwägen.

Danke fürs Lesen.
Liebe Grüße - Ava

 Moja (09.11.20)
Den Einwand - Alter - finde ich unwesentlich, liebe Ava.
In Deiner Skizze ist schon sehr viel drin - eine fatale Geschichte, in der sich Gegenwart und Vergangenheit überlagern, hochemotional bricht an diesem Tag vieles auf, dass vor dem Mauerfall unterschwellig fühlbar war.

Ich rate Dir, direkter zu erzählen, vielleicht als erstes in wenigen Sätzen - nur für Dich - einmal den Inhalt der Geschichte zusammenzufassen, um den Text zu straffen, frag Dich, was weiterführt und wohin, was Du weglassen kannst. Ich schicke Dir ein kurzes Beispiel.

Arbeite weiter dran, das lohnt sich!
Liebe Grüße,

Monika

 AvaLiam ergänzte dazu am 12.11.20:
Liebe Monika,

danke fürs Beschäftigen und vor allem für die Vorschläge.

Ich hab es erst einmal einfach nur frei von der Leber weg geschrieben und wollte schauen, ob es überhaupt das Überarbeiten wert ist.
Durch das Schreiben darüber bröckelten noch weitere Erinnerungen an die ersten Fahrten in den Westen und vielleicht kann ich das alles miteinander verknüpfen.
Weihnachten sitze ich mit meiner Familie zusammen - so unsere Politik das will - und werde die Geschichten noch mal inhaltlich durchgehen - dann kanns ich mich ans Überarbeiten machen.

Das Alter ist mir schon wichtig, einfließen zu lassen. Denn ich empfand mein Alter als ein sehr schwieriges Wendealter.
Zu klein für die Gespräche der Großen und zu groß für Puppen und STraßenmalkreide. Wobei ich irgendwie nie wirklich Kind war.
Jedenfalls hat man zu viel verstanden, als es beiseite schieben zu können, war aber zu unwissend der Informationen wie auch auf die Reife bezogen.
Dazu kommt, dass ich jahrelang vorsichtig sein musste, oft schweigen und sehr unter der DDR gelitten habe - und nun auf einmal sollte der Käfig auf sein und ich frei?
Das war mit 13 einfach nicht zu fassen....
Zudem wir ja auch zu dem Zeitpunkt nicht wussten, was nun alles auf uns zukommt.
Freiheit, Erleichterung, Unsicherheit und Befremdlichkeit - ich war voll davon, erfüllt und es fühlte sich wie Platzen an.
Deshalb ist mir das Alter zu erwähnen schon wichtig.

Liebe Grüße - Andrea
Stelzie (55)
(09.11.20)
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 AvaLiam meinte dazu am 12.11.20:
Liebe Kerstin,

ich freue mich, dass meine Geschichte dir gefällt, auch wenn sie frei von der Leber weg geschrieben noch einiges an Bearbeitung bedarf.

Ja - Kurztexte find ich auch sehr gut. Doch dieser Tag war definitiv zu lang für einen kurzen Text. :-D

Bleib gesund und herzliche Grüße - Andrea

 EkkehartMittelberg (09.11.20)
hallo Andrea,
ivh widerspreche Moja ungern. Aber ich würde an diesem Text überhaupt nichts kürzen, weil man nur selten lesen kann, wie die Ungewissheit der Öffnung der Grenze sich in den Köpfen und Emotionen derer spiegelte, die die politischen Konsequenzen nicht überschauen konnten, wie in den Bussen und in der Schule . Das Symbol des neuen Autos, das eigentlich ein verspäteter Kauf ist, finde ich sehr gut gewählt. Die Spannung, in die die veraltete Technik die Familie versetzt , ist nicht zu überbieten. Schließlich gefällt mir der Text auch deshalb, weil er sich mit Urteilen gegenüber der DDR und dem, was neu auf sie zukommt, zurückhält und die Einordnung des Erfahrungsberichts dem Leser überlässt. Nur nebenbei: Eine kluge 13jährige kann auf diesem Niveau erzählen.
Herzliche Grüße
Ekki

 Moja meinte dazu am 09.11.20:
Ich habe mich missverständlich ausgedrückt, liebe Ava und lieber Ekki, meinte: nichts inhaltlich kürzen, aber etwas sprachlich überarbeiten.

Liebe Grüße,
Moja

 AvaLiam meinte dazu am 12.11.20:
Liebe Moja,
alles gut.

Ich weiß ja, wie du es meinst und bin mir im Klaren, dass dies her nur eine Rohfassung ist, die geschliffen werden will.

Liebe Grüße - Ava

---------------------------------------------

Lieber Ekki,

inhaltlich werde ich, denke ich, auch nichts kürzen, da für mich und mit meinem Blick auf die damalige Zeit kleine "Ecken" in der Geschichte ihren Platz haben und gezielt gewählt worden sind.
So haben meine Mitschüler häufiger über mich getuschelt. Aber ich hatte ja auch Verwandtschaft im Westen und war ein Volksverräter, weil meine Mutter als gebürtige Pfälzerin Ausreiseanträge stellte, um ihren Vater, Onkel und noch viele weitere Familienmitglieder zu besuchen. Die Mauer war eben einfach viel zu schnell da, als das man hätte beizeiten zurückgehen können in die Heimat.
Na ja - an dem damaligen Samstag tuschelten sie noch mehr. Vielleicht kam das auch noch nicht so deutlich rüber, wie geplant. AUTO. Wenn jemand ein neues Auto bekam, dann war das mindestens so viel Aufhebens wert wie eine Hochzeit, eine Geburt oder ein schweres Verbrechen.
Eine verrückte Zeit.

Und trotzdem die Mauer nun schon 31 Jahre gefallen ist, sind mir Geräusche, Gerüche, Farben und Worte allesamt noch im Gedächtnis, lebendig und kein bisschen verblasst.
Und für mich bedeutete es so viel - als Nichtpionier und Tochter einer Frau, die aus der Politik ausgetreten ist und auf der Abschussliste der Stasi ganz oben stand,.
Freiheit. Die ahnte ich. Ich wusste, hinter all der Aufregung und dem Chaos und Durcheinander der Novembertage 1989 wartet Freiheit auf mich. Kein Schweigen mehr, keine hintere Reihe bei Appellen, dass keiner sieht, ich bin ohne Uniform.
Ich könnte wieder musizieren. Hatte man mir es mir doch verboten und weggenommen...die Geige, das Waldhorn und die Gitarre.
Für mich gab es soviel Hoffnung - aber auch Unsicherheit vor dem, was da kommt.
Und wenn ich an diese Tage denke, dann bin ich auch heute immer noch 13.

Ich danke dir fürs Lesen und die Feinfühligkeit, mit der du den Spuren des Mädchen folgst.

Herzlichst - Andrea

Antwort geändert am 12.11.2020 um 15:29 Uhr

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 12.11.20:
Liebe Andrea, ich habe mal gelaubt, das Wesentliche aus der DDR zu wissen und spüre aus deinem Bericht, dass große Schriftsteller wie Anna Seghers und Uwe Tellkamp geschönt haben müssen. Ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass man einem jungen Mädchen die Instrumente verbietet und wegnimmt.

 AvaLiam meinte dazu am 12.11.20:
Lieber Freund,

ungeachtet dessen, wie sich folgende Zeilen lesen und mich darstellen und charakterisieren mögen, möchte ich dazu folgendes schreiben:

Ich musste regelmäßig als fast Hochdeutsch Sprechende mit einem sehr guten Gedächtnis und einer annehmbaren Vortragsweise ständig bei Appellen, in Altersheimen, politischen Veranstaltungen e.t.c. auftreten, vorlesen, vortragen. Auch eigene Geschichten und Gedichte gehörten dazu. Neben der deutschen Sprache und ihrer Verwendung war ich mit Freude musikalisch sehr aktiv. Meine Leistungen mit der Geige galten als herausragend. Meine Teilnahme am Schülerwettbewerb war verpflichtend. von dort ging es zum Stadtausscheid...von da zum Kreisausscheid...und am Ende der Bezikrsausscheid. Dort gab es dann Presse, d.h. Zeitungen, Radio und beim Landesausscheid auch das Fernsehen.
Ich wiederhole noch mal kurz: ich kein Pionier, Mama aus der FDJ ausgetreten und sich von der Poliitik abgewandt, mein Patenonkel ein Landesverräter, weitere meiner Bezugspersonen für die Kirche tätig, dem großen Feind der DDR und vor allem den Bärenanteil meiner Familie in der Pfalz.
NIEMALS durfte das publik werden. NiEMALS durfte ich zu bekannt werden, auffallen.
DAS war der Grund, mich im Sport, in der Literatur und in der Musik zu zügeln.
Ich will nicht sagen, dass ich zu gut war. Nur, dass sie eine Gefahr in mir sahen.

Meine eigene DDR-Geschichte ist nicht alltäglich - aber sicher auch nicht einzigartig. Wenn mir jemand erzählt, dass er aus der DDR kommt, bin ich auf alles - und meine ALLES - gefasst.

Ich werde mit der Zeit ein paar Erinnerungen aufschreiben.
Ein seltsames, beängstigendes, bedrückendes Gefühl habe ich jedoch immer noch - bei jedem Wort über die DDR.

Hinter dieser Geschichte und meinen Kommentaren steckt noch viel, viel mehr.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 13.11.20:
liebe Freundin, ich bin sehr auf weitere Berichte von dir über deine Vergangeheit in der DDR gespannt. Ich muss sagen, dass ich Teile der Literatur aus dieser Vergangenheit auch positiv sehe, denn der sozialistische Realismus hat die meisten Autoren der DDR vor realitätsfernen Spinnereien bewahrt, die man in esoterischer Literatur des Westens immer fand und findet. Aber eine grundsätzliche Kritik bleibt an der Litertur der DDR: Im Zweifesfalle hatte die Partei recht und nicht das Leben. Ich bin sicher, bei dir weder überzogene Systemkritik noch Schönfärberei zu finden.

 TassoTuwas (09.11.20)
Hallo Ava,
dieser Text ist chaotisch und authentisch, und genau das ist die Mischung, die ihn zu einem Leseerlebnis macht.
Es ist richtig ihn aus der Sichtweise und im Stil des Kindes, das ihn so erlebt hat, zu schreiben, einer dreizehn Jährigen, die sich plötzlich mit gleich mit zwei unvorhersehbaren Ereignissen konfrontiert sieht.
Das ist glaubhaft und Zeitgeschichte!
Herzliche Grüße
TT

 AvaLiam meinte dazu am 12.11.20:
Mein lieber Tasso,

man möge mir glauben, das Chaotische des Textes wollte ich genauso haben - denn die ersten 48h Stunden ohne Mauer waren genau das: das reinste Chaos.

Ich danke dir vor allem für deine Unterstützung, dass man es aus der Sicht der 13jährigen schreiben sollte - denn ich bin auch heute noch 13, wenn sich die Dinge ins Gedächtnis rufen. Ich kann alles noch genauso fühlen, hören und riechen.


Wenn du mal Langeweile hast, kannst du in den vorangegangenen Kommentaren mal reinschnuppern, warum es für mich besonders einschneidend war - diese Zeit.


Fühl dich gedrückt.
LG - Ava
Al-Badri_Sigrun (61)
(10.11.20)
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 AvaLiam meinte dazu am 12.11.20:
Liebe Sigi,

den Atem haben wir an diesem Tag auch ein paar mal angehalten.

Papa und ich haben gerade telefoniert und ich erzählte ihm davon, dass ich diese Erlebnisse aufgeschrieben habe, klärte noch ein paar kleine Details, damit die Geschichte auch wirklich die Wahrheit erzählt und nicht das, wofür ich sie halte.

Papa war überrascht - wir sprachen ja nie wieder darüber - wie viel ich noch weiß. Und was ich nicht wusste, das wusste er. Ok, das Meiste jedenfalls. Und er hat gelacht. Heute können wir das - darüber lachen.
Ich werde nach und nach kleine DDR-Erinnerungen aufschreiben. Bisher sind sie mir noch sehr intensiv im Gedächtnis - doch dieses Jahr bröckelten erste Steinchen aus der Fassade. Schreiben gegen das Vergessen.

Die DDR war mich etwas Besonderes. Besonders schlimm. Vielleicht ist das der Grund, warum ich die Wende noch als viel aufregender erlebt habe und mir noch so viel in Erinnerung bleibt.

Ich finde es sehr schön, dass ich diese Erinnerungen mit dir teilen konnte.

Liebe Freundin - fühle dich umarmt.
Herzliche Grüße - Andrea

 GastIltis (10.11.20)
Liebe Ava,
zum Glück war ich zu der Zeit schon erwachsen. Mit dem Wartburg 1.3, Baujahr 1989, den ich jedoch schon kurz vor Jahresende 1988 kaufen konnte, wir waren also der Zeit voraus, habe ich dann die Tour, allerdings wesentlich entzerrt, im Februar 1990 vom Norden, also Mecklenburg-Vorpommern, bis Oppenau im Schwarzwald mit Zwischenstation in einem Hotel in Gera, auch absolviert. Ein Cousin hatte uns zu einem runden Geburtstag eingeladen. Eine Zeit, die mit schönen Erinnerungen verbunden war, u.a. dem Wiedersehen mit zwei Studienkollegen in Pforzheim, von denen die Familie des einen uns in einer Weise bewirtet hat, die wir bisher noch nicht wieder erlebt haben. Dass wir während des Besuches noch in Straßburg und in Freudenstadt waren, sei nur am Rande erwähnt. Übrigens stimmt deine Preisangabe für den 1.3er Wartburg, dafür musste ich meinen vier Jahre alten 353er Wartburg auf dem „freien“ Markt für 30.000.-- Mark verkaufen, um das Geld aufbringen zu können. Vier Jahre zuvor hatte er 20.143,-- Mark gekostet. Das war mal eine Wertsteigerung. Abgeholt hatte ich den 1.3er in Hoppegarten. Das war ein zentrales Auslieferungslager für die Berliner Anmeldungen.
Dass wir unterwegs mit dem Auto auch ein paar Störungen hatten und ich mit meinem Cousin deshalb in Oppenau eine Peugeot-Werkstatt aufsuchen musste, ist auch nur eine Randnotiz. Danach hat mein Cousin dann ein zwei Achtel spendiert. Auf der Rückfahrt durfte ich dann noch einen Dachgepäckträger sowie ein fast neues Fahrrad mitnehmen. Es war also, alles in allem, ein erfolgreicher Besuch. Das Fahrrad hat man mir leider später aus dem Keller geklaut: mein erstes West-Fahrrad. Die Versicherung hat dann vor lauter Ehrfurcht noch 250,-- DM abgedrückt.
Du siehst aus meinem ausführlichen Text, dass man schon sehr viel kürzen und abstrahieren muss, wenn man aus einer anderen Welt plötzlich in ein Abenteuer gerät, dem man eigentlich gar nicht gewachsen ist. Dass du mit deiner kindlichen Auffassung und dem ohnehin sensiblen Charakter da so viel an Erinnerungen hintereinander wie an einer Perlenschnur aufreihst, ist eine wundersame Sache, die viel mehr Verständnis verlangt, als nur die literarische oder kritische Betrachtung. Ein bemerkenswerter Text, den man mit normalem Sachverstand nicht messen oder tagtäglichen Abläufen nicht vergleichen kann.
Sei herzlich und ganz lieb gegrüßt von Gil.

 AvaLiam meinte dazu am 12.11.20:
Lieber Gil,

ich danke dir für deine Geschichte, die meine Erinnerungen zusätzlich bereichert und mich auf die Idee bringt, zu hinterfragen, warum der Wartburg WARTburg heißt. Vielleicht sind so viele Menschen mit dem Ursprungsmodell gestrandet, haben festgesessen an Orten, ohne Werkstatt und mussten lange auf Hilfe warten.... Nun ja - wir könnten jetzt noch weiter sinnieren und eine weitere Geschichte schreiben. :D

Ja, Mensch - da hat man das Glück und bekommt ein Westfahrrad und dann wird es einem geklaut. Ich hoffe, der Drahtesel hat den Dieb abgeworfen und ihn sich richtig wehtun lassen.

Mein Vater - ich sprach heute mit ihm - hat sogar noch weniger bezahlt. Irgendwas lief schief - er hatte eigentlich ein anderes Auto bestellt, erzählte er mir und man könne nicht liefern, aber einen neuen Wartburg könne er haben. Für 30.200 Mark. Aber auch das war kein Schnäppchen. :-D
Das Vorgängermodell hat "nur" 18.000 Mark gekostet. Hatte allerdings auch noch kein VW-Motor.
Na ja - am Ende war uns der Wartburg sehr treu und hat uns noch viele Jahre begleitet. Im Grunde war er schon ziemlich solide. Wir hatten einfach nur Pech. Oder Glück.
Das weiß man nicht immer. Vielleicht wären wir in einen Verkehrsunfall hineingeraten, wären wir weiter auf der Autobahn gefahren. Niemand weiß, was uns passiert wäre, wäre uns nicht das passiert, was passiert ist.
So tröste ich mich über unliebsame Autopannen hinweg. :D

Mit einem Dachgepäckträger wärst du bei uns im Dorf zu einem Halbgott erklärt worden. :D

Mit den 250 DM allerdings auch.

Ach Gil. Diese Erinnerungen sind doch Gold wert. Gerade jetzt in dieser Zeit.

Was deine "Kritik" zum Text betrifft... ich befürchte fast, dass nur Selbsterfahrene wirklich alles und jede "Anspielung" nachspüren und verstehen können.

Es geht natürlich um vielmehr als den vergessenen Herd und den neuen, defekten Wartburg.

Um so schöner, dass du empfänglich bist für meine Eindrücke von damals.
Hab herzlichsten Dank fürs Lesen, "Mitfiebern" und "Mitleiden"..

Fühl dich gedrückt.
LG - Ava

 harzgebirgler (11.11.20)
der währungstausch hat manche so saniert
wie es in kühnsten träumen kaum passiert.

lg
harzgebirgler

 AvaLiam meinte dazu am 12.11.20:
vor allem jene, die noch ausnutzen konnten, das Begrüßungsgeld mehrfach abzuholen...

...ich vertrau da einfach auf Karma...
Jene Geier und Gierlappen werden ganz bestimmt in irgendeiner Form dafür bezahlen/bezahlt haben...



Danke dir fürs lesen und deinen reimenden Gruß.
Liebe Grüße - Ava
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