Ein Buch wie aus der Zeit gefallen

Rezension zum Thema Ferne

von  eiskimo

Darf ich einmal ganz tief in die Kiste greifen und ein Buch vorstellen, das hierzulande extrem selten geworden ist, nicht nur im aktiven Gebrauch, sondern selbst als Sammlerobjekt?  Früher erfreute es sich größter Verbreitung, dieses Buch; die Leute nahmen es regelmäßig zur Hand, vertieften sich darin, ja, kannten ganze Passagen daraus auswendig - und das, obwohl es mit 978 Seiten schon eine echte spirituelle Herausforderung ist.

Aber vom Format her bleibt dieses Buch unter der Größe eines Taschenbuchs, und es ist auf sehr dünnem Papier gedruckt. Man kann es also – Gottlob – gut mal mitnehmen, diskret in die Manteltasche stecken oder wenig platzgreifend in eine Handtasche. Ein echter Lebensbegleiter also.

Von außen ist es zudem in neutralem Schwarz gehalten, fast so, als ob es dem Benutzer ein Bekenntnis dazu ersparen wollte. Ein seltsames, wie gesagt: selten gewordenes Buch. Und da ich schon von Bekenntnis spreche: Es ist das „gemeinsame Gebetbuch aller Katholiken deutscher Zunge“, kurz „Gotteslob“ genannt.

Die Ausgabe, die mir in die Hände fiel, stammt aus dem Jahre 1975, und das Geleitwort darin wurde noch verfasst von einem Joseph Kardinal Höffner.

Er schreibt, dass in diesem „Gotteslob die kostbaren Lied- und Gebetsschätze der Vergangenheit bewahrt“ sind. „Aber auch Neues ist aufgenommen, und zahlreiche Anregungen des Zweiten Vatikanischen Konzils sind verwirklicht.“  Kirchengeschichtlich also fast auf der Höhe der Zeit.

Ich selber habe das „Gotteslob“ früher in katholischen Kirchen ausliegen sehen, in dicken Stapeln am Rand der Bänke, und die Messbesucher nahmen sich brav ihr Exemplar.

Der Kardinal bemerkt dazu, dass große Teile des Gebetbuches aber „brach liegen bleiben würden, wenn die Glaubenspraxis in den Gemeinden nur aus Eucharistiefeiern bestünden“  – das neue Gebetbuch mahne auch,  das Gebet, die Wortgottesdienste und Andachten neu zu beleben.

Entsprechend – so konnte ich feststellen - hat dieses Gotteslob auch Teile für den privaten Gebrauch, nämlich gleich am Anfang „Persönliche Gebete“, mit denen wir „unser Leben zur Sprache bringen vor Gott.“  Für unsere Ohren klingt es fast wie aus der Zeit gefallen, „ dass wir so als Kinder Gottes und als Brüder Christi zum Vater kommen“, und zwar so, wie wir sind,  „in unserer inneren Hetze, in unserem Unvermögen (…), mit unseren Schwierigkeiten und mit unserer Schuld.“

Ich bin merkwürdig berührt von dieser Ansprache. Zu intim? Zu manipulativ?

Kurz danach heißt es etwas sachlicher: „Gebet hat nicht die Absicht, die Welt aktiv zu verändern. Aber seine verwandelnde Kraft verändert den Menschen. Und solche Menschen werden bereit sein, die Welt nach dem Auftrag des Evangeliums zu verändern…“

Nach ca. 40 Seiten folgt das Kapitel „Christliches Leben aus den Sakramenten“. Zur Erinnerung: Das sind Taufe, Eucharistie, Firmung, Ehe, Buße, Priesterweihe und Krankensalbung – besonders ausführlich dabei geraten die Anleitungen zu „Buße und Beichte“, welche zur Grundhaltung des Christen gehörten, die „untereinander wie Brüder und Schwestern sind.“ Ihre Gemeinschaft mit Gott und den Menschen werde  „durch die Sünde zerstört“.  Diese sei „eine freie Tat“, für die der Mensch verantwortlich zeichne und mit der er sich schuldig mache vor Gott.

Nach weiteren 40 Seiten folgt „Das Leben der Gemeinde im Kirchenjahr“ mit den entsprechenden Liedern und Gesängen – dafür sind satte 465 Seiten gefüllt; weitere einhundert Seiten gibt es dann für das Kapitel „Gemeinschaft der Heiligen“ mit Maria, den Engeln und Heiligen, der Kirche sowie „Tod und Vollendung“, bevor in Kapitel 5  „Wortgottesdienst, Stundengebet, Andacht“  mit ca. 130 Seiten ihre jeweiligen Begleittexte zugeordnet bekommen.

Den Abschluss bildet der „Diözesananhang“, in dem – so Höffner, „das Eigengut der einzelnen Diözesen“ seinen Platz finden soll.

Viel Stoff also, eine Menge Moral und noch mehr fordernde Ansprache, oft im Tonfall von Lehrenden, die dem „Kind“ den rechten Weg weisen wollen. Insgesamt aber, so finde ich, ist es ein literarisch höchst facettenreiches Kompendium, eine Mischung aus nostalgischer Liedersammlung, religiösem Knigge und vielen etwas pathetisch oder altbacken klingenden Gebetsvorlagen.

Ich persönlich hätte an etlichen Stellen den Wunsch: Ihr Gotteslob-Redakteure, könntet Ihr mir das mal in normalem Deutsch sagen? Warum übersetzt ihr eure – durchaus fürsorglichen - Einsichten und Handreichungen nicht in eine lebensnahe Sprache?

Wie auch immer: Dieses in die Jahre gekommene Gebetbuch hat mich schon angepiekst. Es hat stellenweise Wehmut ausgelöst, auch öfters Unverständnis, aber vor allem die Frage, was (zum Teufel?) in den Jahren seit Kardinal Höffner in unserem christlichen Abendland passiert ist, dass uns so ein Buch über Glauben und religiöse Teilhabe  geradezu als antiquarisches Relikt vorkommen muss – nach dem Motto: Kinder, schaut euch das mal an, so etwas hat damals das Leben eurer Eltern und Großeltern noch massiv beeinflusst.

Und daran anschließend stellt sich die vielleicht wichtigere Frage: Was ist denn an die Stelle des „Gotteslobes“ getreten? Welche vermeintlichen Sinnstifter greifen heute die Lebensfragen und -krisen der Menschen auf und versprechen ihnen „eine gute Zeit“ -  um nicht zu sagen „ die Erlösung“?



Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text


 Graeculus (11.07.23, 00:26)
Wenn es in der christlichen Religion um "eine gute Zeit" ginge, hätte sie sich nicht für das Symbol des Kreuzes entscheiden sollen. "Nimm dein Kreuz auf dich und folge mir nach", das klingt doch eher nach Blut, Schweiß und Tränen.

 eiskimo meinte dazu am 11.07.23 um 07:01:
Mit dem Kreuzestod hat Christus "die alte Welt der Sünde und des Hasses" überwunden; das Kreuz ist hier - denke ich - Symbol der Befreiung, wenn wir denn glauben...
Taina (39)
(11.07.23, 00:48)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Graeculus antwortete darauf am 11.07.23 um 01:07:
So pessimistisch? Der Katholizismus denkt ja nicht (mehr) eurozentrisch, sondern global. Und wie sieht es global aus?
In den beiden größten Ländern der Welt, in Indien und China, befindet sich der Islam eher in der Defensive (gegenüber dem Hinduismus) bzw. spielt gar keine große Rolle (Unterdrückung der Uiguren); das Christentum ebensowenig. In Lateinamerika sind evangelikale Sekten auf dem Vormarsch, und in Afrika schließlich gibt es eine Konkurrenz zwischen den genannten Sekten und dem Islam.

In Europa? Sehr unterschiedlich, je nach Land.
Ich meine, in Deutschland sind etwas mehr als 7 % islamischen Glaubens. Beeindruckender finde ich den Umstand, daß nun erstmals weniger als 50 % einer christlichen Kirche angehören. Da stellt sich für mich die Frage, was wir dem Islam entgegenzusetzen haben. Was ist unsere Alternative?

 Graeculus schrieb daraufhin am 11.07.23 um 01:13:
Es ist wohl auch nicht angemessen, 'die Moslems' als einen monolithischen Block anzusehen. Da gibt es Sunniten, Schiiten, Aleviten, Ismaeliten usw. Und die sind oft einander nicht grün. Wobei die Sunniten sich noch unterscheiden in ...

 eiskimo äußerte darauf am 11.07.23 um 07:09:
Danke für die kenntnisreichen Hintergründe. Fakt für mich ist, dass das Christentum bzw. die katholische Kirche bei uns sozusagen im feien Fall begriffen ist. Ich kann das für Köln sagen und auch für den Teil Frankreichs, den ich gut kenne - und atemberaubend daran ist auch die Schnelligkeit, in der "Religion" hier wegbricht. Der Islam erscheint dagegen lebendig und invasiv. Er scheint so zu sein, wohlbemerkt.
Mein Blick auf das ausgemusterte "Gotteslob" ist ein Versuch, diesen dramatischen Wandel greifbar zu machen.

 lugarex ergänzte dazu am 11.07.23 um 11:00:
Seltsam. Ich werde wohl dämnächst in Gottlieben wohnen. Dort, wo auch ein gewisser Meister Jan Hus ein bisschen unfreiwillig gewohnt hatte...

Neue Zeit für mich über den Glauben nachzudenken? Tja...

Gruss luga
Taina (39) meinte dazu am 11.07.23 um 12:18:
Diese Antwort ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.
Taina (39) meinte dazu am 11.07.23 um 19:20:
Diese Antwort ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Graeculus meinte dazu am 11.07.23 um 20:00:
Taina, was glaubst Du, wieviele von denen, die Du als Moslems zählst, nichts anderes sind als das, was man bei Christen "Taufscheinchristen" nennt - und das in einer Religion, die überhaupt keine förmliche Austrittsmöglichkeit kennt?
Ach, vielleicht habe ich zu viele Alkohol trinkende Moslems und Salami essende Juden kennengelernt, um das so ernst nehmen, sie als 'monolithische Blöcke' ansehen zu können.

Wenn man ihnen natürlich ihr Moslemsein vorwirft und sie deswegen diskriminert, dann werden sie zu Moslems. So wie Hannah Arendt gesagt hat: "Daß ich Jüdin bin, ist mir erst bewußt geworden, als Antisemiten mich so behandelt haben."
Taina (39) meinte dazu am 12.07.23 um 13:13:
Diese Antwort ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Dieter Wal (11.07.23, 07:34)
Insgesamt aber, so finde ich, ist es ein literarisch höchst facettenreiches Kompendium, eine Mischung aus nostalgischer Liedersammlung, religiösem Knigge und vielen etwas pathetisch oder altbacken klingenden Gebetsvorlagen.
@eiskimo:


In den seit 1975 liegenden 48 vergangenen Jahren sind sehr viele gesellschaftliche und theologische Entwicklungen entstanden, so dass es wenig erstaunt, wenn man ein solches Buch zurecht als völlig aus der Zeit gefallen bzw. veraltet empfindet. Auch Bibelübersetzungen aus derselben Zeit sind eher nicht zu empfehlen.

 Hier entdeckte ich eine beeindruckende Website, die auf den von mir verlinkten Seiten über die Unterschiede der vorigen Revision des "Gotteslobs" informiert.

Es gibt innerhalb der EKD keine Entsprechung eines solchen Buches. Es scheint w e s e n t l i c h mehr als ein kirchliches Gesangbuch zu enthalten.

 eiskimo meinte dazu am 11.07.23 um 07:47:
Danke für den Link und die vorurteilsfreie Hinwendung zu dem Thema. Wie an anderer Stelle schon gesagt: Ich sehe bei uns einen dramatischen Schwund jeglichen religiösen Lebens,  egal welcher Konfession. Meine Frage: Was tritt an die frei gewordene Stelle, wo sollen wir oder unsere Kinder Sinn finden?

 Dieter Wal meinte dazu am 11.07.23 um 08:04:
Als ich um die Jahrtausendwende Theologie studierte, war die um 1923 zunehmende Abnahme von Mitgliedschaften in religiösen Institutionen bereits im Gang, jedoch nicht ansatzweise so schnell wie die letzten 20 Jahre, in denen sich christliche Kirchenmitgliedschaften von etwa 60% auf 30% reduzierten.


Was tritt an die frei gewordene Stelle, wo sollen wir oder unsere Kinder Sinn finden?
Ich hätte da eine spinnerte Idee von einem "initiatischen Christentum". ;)


Vielleicht entsteht aus der in meinen Augen zumindest fragwürdigen Ansicht vieler Christen, sie seien die einzigen wahren Religiösen im Lauf der Zeit die Erkenntnis, dass auch andere völlig verschiedene Weltreligionen nicht falsch liegen müssen, bloß weil sie andere Vorstellungen pflegen. Einschließlich Areligiöser. Das wäre ein enormer Fortschritt. Größere Probleme sehe ich in der Entwicklung von KI und Programmen wie  ChatGPT & Co.

Bist Du katholisch? Es freut mich, dass sich hier jemand solche Gedanken macht.

 eiskimo meinte dazu am 11.07.23 um 09:11:
Den Fortschritt sehe ich auch. Wir sind frei geworden von engstirniger Bevormundung, aber frei wofür?
Die Ersatzreligion ist, so wie ich das beobachte, der Konsumismus, die individuelle materielle Beglückung rund um die Uhr.
Ich selbst bin katholisch erzogen, habe als Jugendlicher die Kirche in Frankreich erlebt, eine im Vergleich zu Deutschland arme Kirche, aber sehr nah an den Menschen. Davon zehre ich.

 Dieter Wal meinte dazu am 11.07.23 um 10:43:
Bis auf biblizistische Sekten ist meiner unmaßgeblichen Ansicht christlicherseits das Produkt einer Glaubensgemeinschaft aus dem Rahmen gefallen, weil christlicher Religion ohne Epiphanien der Boden fehlt, um in einer Zeit zunehmender religiöser Angebote und Weltanschauungen für mündige Erwachsene spirituelle Heimat zu bieten. Schulischer Religionsunterricht Firmung/Konfirmation und Lebensabschnittsriten wie Taufen, Hochzeiten und Beisetzungen genügen nicht ansatzweise, um eigene Gotteserfahrungen möglichst unbeschadet machen zu können. Die wären jedoch dringend erforderlich, um zu erfahren, dass nicht religiöse Riten, Verheißungen und Reden von Gott den Kern einer Religion darstellen, sondern die Erfahrung des an sich unsagbaren und unbegreiflichen Heiligen. Sinn fürs Sakrale findet man selten.

 Dieter Wal meinte dazu am 11.07.23 um 12:23:
Ich selbst bin katholisch erzogen, habe als Jugendlicher die Kirche in Frankreich erlebt, eine im Vergleich zu Deutschland arme Kirche, aber sehr nah an den Menschen. Davon zehre ich.
Französischer Katholizismus ist wesentlich sinnlicher als deutscher, berücksichtigt man die außergewöhnlich emotionale französische Kirchenmusik, die bis in die Melodien der deutschen katholischen Kirchen-Lieder wirkte. Ich erlebte Katholizismus als einziger Protestant im katholischen Kindergarten absolut positiv. Die waren total lieb zu dem sommersprossigen blondschöpfigen schwarzen Schaf, das sie da aufnahmen, weil wir in unmittelbarer Nachbarschaft zum Kindergarten wohnten.
Taina (39) meinte dazu am 11.07.23 um 12:23:
Diese Antwort ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Dieter Wal meinte dazu am 11.07.23 um 12:28:
Du meinst vermutlich islamistischen Terror. Der gebärdet sich nicht als einzig wahre Religion, sondern begründet seine besondere Grausamkeit religiös. Falls Du den nicht meintest, welche Religionen dann? Islamismus ist übrigens ein eigenes Phänomen islamistischer Länder und sollte nicht mit der Weltreligion des Islam verwechselt werden. Religiöse Toleranz als Phänomen war an sich islamisch.
Taina (39) meinte dazu am 11.07.23 um 16:23:
Diese Antwort ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Dieter Wal meinte dazu am 11.07.23 um 20:16:
@Taina: Meine These,  religiöse Toleranz gegenüber anderen Religionen sei quasi im spanischen Andalusien islamischerseits erfunden worden zu sein, wird von Historikern offenbar konträr diskutiert, so dass von einer Anerkanntheit keine Rede sein dürfte. Viel zu weit aus dem Fenster gelehnt! Sorry.

Antwort geändert am 11.07.2023 um 20:18 Uhr

 Dieter Wal meinte dazu am 11.07.23 um 20:28:
@Taina:  Dieses Buch ("Mouhanad Khorchide: „Gottes falsche Anwälte. Verrat am Islam“, Herder-Verlag 2020, 256 Seiten, 20 Euro") finde ich empfehlenswert. Das Interview darüber bei Deutschlandfunk mit seinem Autor Khorchide ist mir neu. Es dürfte Dich inhaltlich gut abholen.

 Dieter Wal meinte dazu am 11.07.23 um 21:34:
@Taina: Hier noch ein  lesenwertes Essay des Erlanger Islamwissenschaftlers und Koran-Übersetzers Bobzin:


Toleranz innerhalb des Islam?
In der Außensicht erscheint der Islam häufig als eine quasi monolithische Religion. Nichts ist unzutreffender. Denn innerhalb der zwei Hauptrichtungen des Islam, dem Sunnitentum der Mehrheit (ca. 85-90%) und dem Schiitentum der Minderheit (ca. 10-15%) gibt es wiederum eine Vielzahl von Gruppierungen mit je eigenem Profil. So lassen sich jeweils unterschiedliche Glaubensüberzeugungen bzw. deren praktische Umsetzung unterscheiden, ebenso wie man den streng rechtlich orientierten, orthodoxen Islam der Rechtsgelehrten dem mehr innerlichen, stark von der Mystik, dem Sufitum, geprägten Volksislam gegenüberstellen könnte. Alle diese Spielarten des Islams lebten keineswegs konfliktfrei nebeneinander. So gab es schon in den ersten Jahrhunderten des Islams zahlreiche Beispiele für religiöse Intoleranz. Der Kalif al-Ma'mún (reg. 813-833) versuchte zum Beispiel das Dogma von der "Erschaffenheit des Korans" gewaltsam durchzusetzen und schuf eine Art von Inquisition, ja Mystiker wie al-Halladsch (858-922) oder Schihab ad-Din as-Suhrawardi (1154-91) wurden wegen ihrer angeblich ketzerischen Ansichten hingerichtet. Auch war der in Europa als tolerant geltende Sultan Saladin (1138-93), bekanntgeworden durch Lessings "Nathan der Weise", in Wahrheit "ein fanatischer Sunnit, bekämpfte die Schiiten hart und war gegen besondere Exponenten des Christentums von größter Unduldsamkeit" (H. J. Kissling, Saladin, S. 84).

Bei den Islamisten keine Toleranz
Das Aufkommen islamistischer Bewegungen im 20. Jahrhundert hat der Frage in-nerislamischer Toleranz eine neue Aktualität verliehen. Der Ägypter Sayyid Qutb (1906-66), der Theoretiker der Muslimbrüder, scheute sich in mehreren seiner Schriften nicht davor, die Hauptströmungen des Islams seiner Zeit als "Heidentum" zu bezeichnen und zum Dschihád gegen solche - seiner Meinung nach - "heidnische" Muslime aufzurufen. In diesem Sinne "aktualisierte" er auch entsprechende Koranverse, die zum Kampf gegen die Ungläubigen aufrufen. Damit wurde Qutb zum Wegbereiter für eine sehr bedenkliche Art der Auslegung des Korans. Sie entfernte sich nämlich zunehmend von dem durchaus historischen Koranverständnis klassischer Korankommentare, welche z. B. die "Kampfverse" im Zusammenhang mit dem Leben Mohammeds interpretierten. Qutb verallgemeinerte jedoch viele Koranaussagen in unhistorischer Weise und versuchte sie für politische Zwecke zu instrumentalisieren. Unter dieser Voraussetzung kann es kaum noch Toleranz geben.

Von inhaltlicher Toleranz noch weit entfernt
Gewiss hängt die Möglichkeit, im Rahmen einer bestimmten Religion Toleranz zu gewähren, nicht zuletzt vom Typ dieser Religion ab. Von seiner prophetischen Ausrichtung her und aufgrund der vielen, den Kampf betonenden Aussagen des Korans war es dem Islam gewiss nicht in die Wiege gelegt, Toleranz zu praktizieren. Unter pragmatischen Gesichtspunkten sahen sich islamische Herrscher durch die Jahrhunderte hindurch genötigt, formale Toleranz zu üben, d.h. andere Religionen anzuerkennen, wenn auch nicht als dem Islam ebenbürtig. Das wäre inhaltliche Toleranz, welche freilich die Fähigkeit voraussetzt, die eigene Religion in ihrer historischen Bedingtheit zu begreifen. Davon aber ist der Islam noch sehr weit entfernt, wie es vor kurzem der Fall des ägyptischen Wissenschaftlers Nasr Hamid Abu Zaid gezeigt hat.
Webmaster Jan ist übrigens ebenfalls Islamwissenschaftler.
Taina (39) meinte dazu am 12.07.23 um 06:34:
Diese Antwort ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Dieter Wal meinte dazu am 18.07.23 um 17:07:
@eiskimo: Heute Gotteslob (Großdruck) 2013 sowie Hans Joas: Die Macht des Heiligen - Eine Alternative zur Geschichte von der Entzauberung 2017 erhalten. Danke für Deine direkte und indirekte Anregung dazu!!

 Verlo meinte dazu am 19.07.23 um 21:56:
eiskimo:

Was tritt an die frei gewordene Stelle, wo sollen wir oder unsere Kinder Sinn finden?
Man könnte zum ursprünglichen Glauben zurückkehren.

Das muß nicht zum alte Heidentum sein, sondern es kann sich ein neuer Naturglaube entwickeln.

Frage dich, eiskimo, einmal, an was du glauben würdest, wären dir keine Religionen bekannt, was würde sich geradezu aufdrängen.

Dessen ungeachtet ist und bleibt der christliche Glaube ein Kulturgut, das uns lange Zeit prägte. Auch die, die nie in einer Kirche waren.

Antwort geändert am 20.07.2023 um 04:46 Uhr

 eiskimo meinte dazu am 19.07.23 um 23:26:
Naturglaube? Glaube an die Natur? Das scheint mir sehr diffus.
Aber ein Koordinatensystem, das mir hilft, mich und mein Tun einzuordnen, das bräuchte ich schon. Schlicht ausgedrückt: Was ist gut, was ist von Übel....

 Verlo meinte dazu am 20.07.23 um 04:52:
Was für dich, eiskimo, gut oder schlecht ist, fühlst du.

Was für andere oder schlecht ist, teilen sie dir mit. 

Außerdem sammelt man Erfahrungen, auf die man zurückgreifen kann.

 Dieter Wal meinte dazu am 20.07.23 um 10:04:
@eiskimo, Verlo: Denke ich an die  Youtube-Videos, die Verlo in  Utvik, seinem Heimatdorf in der Region Vestlands in der unmittelbaren Umgebung  des Fjords von Südwestnorwegen, nur wenige Kilometer Luftlinie von der Küste entfernt, gedreht hat, wird eher nachvollziehbar, was er aus seiner Sicht mit "Naturreligion" meinen könnte. Das Erleben von Transzendenz ohne Kirche durch Spaziergänge und Liegefahrradausflüge in der naturnahen Umgebung.



Antwort geändert am 20.07.2023 um 12:14 Uhr

 eiskimo meinte dazu am 20.07.23 um 10:21:
Danke an Euch beide - es ergänzt sich alles sehr gut!
Eiskimo

 Redux (11.07.23, 19:24)
Ich besuche unregelmäßig den Gottesdienst,  aber ich nehme immer das Gotteslob zur Hand und werde immer fündig.

 Dieter Wal meinte dazu am 11.07.23 um 20:18:
@Redux: Wow! Ich werde mir auf eiskimos Anregung hin eine moderne Ausgabe des Gotteslobs bestellen und freue mich darauf.

 Graeculus (11.07.23, 20:26)
Was Du "dünnes Papier" nennst, war etwas ganz Feines - Dünndruckpapier, wie es auch der Winkler-Verlag für seine Edelklassiker verwendete.
Mit Goldschnitt übrigens, soweit ich weiß.

***

Das Gotteslob erinnert mich daran, wie wir als Meßdiener, um den Pfarrer zu ärgern, sangen: "Großer Gott, wir loben dich / Herr, wir preisen Hoffmanns Stärke".
Der offzielle Text lautet ein wenig anders, und ob man nach der Erfindung des bügelfreien Hemdes noch Hoffmanns Stärke kennt, weiß ich nicht.

Kommentar geändert am 11.07.2023 um 20:27 Uhr

 Dieter Wal meinte dazu am 11.07.23 um 20:30:
Das Gotteslob erinnert mich daran, wie wir als Meßdiener, um den Pfarrer zu ärgern, sangen: "Großer Gott, wir loben dich / Herr, wir preisen Hoffmanns Stärke".
:D 


Herzerfrischend!

 Dieter Wal (11.07.23, 21:48)
@eiskimo: Das Phänomen der weltweit rasant abnehmenden Kirchenmitgliedschaften nicht nur in Deutschland innerhalb des Christentums beschrieb bereits der Soziologe Max Weber 1917 als " Entzauberung der Welt".

Für mich besonders interessant ist im Wikipediaartikel der Literaturhinweis:  Hans Joas: Die Macht des Heiligen. Eine Alternative zur Geschichte von der Entzauberung. Frankfurt am Main 2017.

 Quoth (11.07.23, 22:34)
So ging es mir, als ich einmal in einem katholischen Gottesdienst in der Osternacht hörte, wie auch "Mutter Biene" dankend gehuldigt wird, weil sie das Wachs für die Osterkerzen hergestellt hat ... Das hat mich auch "angepiekst".
Auch in Frankreich, aber in Taizé, habe ich eine starke religiöse Phase durchlebt.
Ein bisschen fühle ich mich an Houellebecqs Roman "Unterwerfung" erinnert, in dem er das Phantom eines europakompatiblen Islam beschwört ...
Kirchenaustritte sind ja nicht alle mit dem Verlust an Religiosität verbunden, gerade jetzt (sexueller Missbrauch durch Geistliche) ist eher das Gegenteil der Fall: Man tritt aus der Kirche aus, weil man in ihr den religiösen und moralischen Halt nicht mehr findet, den man braucht. Auf diesem Humus wachsen Esoterik und Buddhismus, weniger oft auch der Islam. Und wieviele bleiben in den Kirchen und huldigen längst anderen Sinngebern - z.B. Rudolf Steiner!
Dank für den nachdenklich machenden und durchaus auch bekennerhaften Text. Es ist gut, sich nicht in Rechthabereien um Glauben und Atheismus zu verzetteln, sondern pragmatisch und aufgeschlossen mit dem umzugehen, was in uns allen steckt: Der Sehnsucht nach einem Sinn! 
Gruß Quoth

 eiskimo meinte dazu am 12.07.23 um 13:01:
Dein Schlusswort gefällt mir besonders!
Danke auch für die Empfehlung. Als ich mich an dieses "Gotteslob" dran setzte, dachte ich: Da wirst du null Echo kriegen. Und jetzt ist da doch ein sehr interessanter Gedankenaustausch im Gange.
LG
Eiskimo
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram