Dichter lügen viel

Erörterung zum Thema Literatur

von  loslosch

Πόλλα ψεύδονται ἀοιδοί (Solon, dem athenischen Staatsmann, ~640 v. Chr. bis ~560 v. Chr., zugerechnet). Dichter lügen viel.

Noch der moderne Sprachgebrauch verrät die Nähe des Dichtens zur Lüge. Dichten - Reime machen (einen Reim machen?) - fabulieren - ausdenken - träumen - lügen. Nur eine kleine Auswahl von mehr als einem Dutzend Synonyma. Was einmal als Schimpfwort galt oder als verständnisvolles, augenzwinkerndes Flunkern (ou panta Homeros pseudetai - nicht alles von Homer ist gelogen), hat längst den Dunstkreis des Dubiosen verlassen. Der Dichter bildet nicht fotografisch ab, selbst wenn er, unausgesprochen, Autobiografisches verarbeitet (vgl. Goethe, Dichtung und Wahrheit, postum als Gesamtwerk), sondern verfremdet, auch als Selbstschutz (oft dabei fremde Persönlichkeitsrechte schützend), verzerrt, ver-dichtet, ästhetisiert oder pointiert das Reale. Lässt dem Leser Raum für Fantasie, Analogie.

Die Lüge als Stilmittel? - Das wäre der Tod der Dichtung.


Anmerkung von loslosch:

Nur solche Lügen töten die Dichtung, die vom Leser nicht erkannt werden können. Grimms Märchen, Baron von Münchhausens Werke, Die Bürger von Schilda gehören zur (einfachen) Dichtung. Dann die wenig anspruchsvollen Fantasy-Romane, Science Fiction usw. Es fehlt dort am Täuschungsversuch.

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Kommentare zu diesem Text

JakobJanus (35)
(29.10.13)
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 loslosch meinte dazu am 29.10.13:
jaja, wir drehen uns in die sonne, da geht nIx auf. und dann die höflichkeitslüge: wie gefällt dir mein neues kleid? - nicht schlecht! (dabei grottenschlecht.)

 TrekanBelluvitsh (29.10.13)
Na, das Solon die Dichter nicht geheuer waren, ist ja nicht verwunderlich. Darum sollte man vielleicht den Spruch erweitern: "Dichter lügen viel, aber von Staatenlenkern, den Meistern der Lüge, können auch sie noch viel lernen."
In diesem Sinne:
"Süß und ehrenhaft ist es, andere für das Vaterland sterben zu lassen."

 loslosch antwortete darauf am 29.10.13:
immerhin hat solon als angehender demokrat den ersten schuldenschnitt bei seinen hellenen gemacht. - das hat europa noch vor sich, viele male.

 EkkehartMittelberg (29.10.13)
"Die Lüge als Stilmittel? - Das wäre der Tod der Dichtung."
Ja, und abermals ja!
Dichter, sofern sie diesen Namen verdienen, sind nicht immer authentisch, verfehlen die Wahrheit, auch wenn sie sie intendieren, verlieren sich zuweilen in abwegigen Phantastereien, aber wenn sie bewusst lügen, sind sie Manipulatoren, aber eben keine Dichter.
Doch Vorsicht: Ein Romancier kann zum Beispiel als Rollenfigur einen Lügner darstellen. Das wird manchmal zu Unrecht mit der Intention seines Gesamtwerks verwechselt.
t.t.
Ekki
(Kommentar korrigiert am 29.10.2013)

 loslosch schrieb daraufhin am 29.10.13:
du und andere hätten meinen text auch missverstehen können. siehe meine anmerkung. t.t. lo

 Dieter Wal (29.10.13)
Lüge als Stilmittel? Ja, ja, und nochmals Ja. Poetische Freiheit ist gestalterische Freiheit. So wurde selbst die biblische Johannesapokalypse, die ich für eine visionär empfangene Offenbarungsschrift halte, sprachlich gestaltet, gegliedert und poetisch geformt. Meine  Aphorismen über Lügen. Der Koran ist metrisch geformt. Die Bibel ist zweifellos Literatur (im besten Sinn?). Selbst Luther verrät überdeutliche dichterische Züge (und schrieb super Gedichte). (Manche) Poeten verändern die Welt. Sind sie auch Lügner? Machtmenschen, Politiker? Klar. Siehe Mohammed, siehe Luther. Beide religiöse Genies. Mohammed mehr, Luther weit weniger. Aber sind sie deshalb keine Poeten? Doch. Sie waren auch Poeten. Nietzsche halte ich für einen außerdordentlich bedeutenden dt. Poeten. Sein lit. und phil. Werk war dem Phänomen der Prophetie weit näher als ihm lieb war.


Nur Narr! Nur Dichter!

[1239] Bei abgehellter Luft,

wenn schon des Taus Tröstung

zur Erde niederquillt,

unsichtbar, auch ungehört

– denn zartes Schuhwerk trägt

der Tröster Tau gleich allen Trostmilden –

gedenkst du da, gedenkst du, heißes Herz,

wie einst du durstetest,

nach himmlischen Tränen und Taugeträufel

versengt und müde durstetest,

dieweil auf gelben Graspfaden

boshaft abendliche Sonnenblicke

durch schwarze Bäume um dich liefen,

blendende Sonnen-Glutblicke, schadenfrohe.

»Der Wahrheit Freier – du?« so höhnten sie –

»Nein! nur ein Dichter!

ein Tier, ein listiges, raubendes, schleichendes,

das lügen muß,

das wissentlich, willentlich lügen muß,

nach Beute lüstern,

bunt verlarvt,

sich selbst zur Larve,

sich selbst zur Beute,

das – der Wahrheit Freier?...

Nur Narr! nur Dichter!

Nur Buntes redend,

aus Narrenlarven bunt herausredend,

herumsteigend auf lügnerischen Wortbrücken,[1239]

auf Lügen-Regenbogen

zwischen falschen Himmeln

herumschweifend, herumschleichend –

nur Narr! nur Dichter!...

Das – der Wahrheit Freier?...

Nicht still, starr, glatt, kalt,

zum Bilde worden,

zur Gottes-Säule,

nicht aufgestellt vor Tempeln,

eines Gottes Türwart:

nein! feindselig solchen Tugend-Standbildern,

in jeder Wildnis heimischer als in Tempeln,

voll Katzen-Mutwillens

durch jedes Fenster springend

husch! in jeden Zufall,

jedem Urwalde zuschnüffelnd,

daß du in Urwäldern

unter buntzottigen Raubtieren

sündlich gesund und schön und bunt liefest,

mit lüsternen Lefzen,

selig-höhnisch, selig-höllisch, selig-blutgierig,

raubend, schleichend, lügend liefest...

Oder dem Adler gleich, der lange,

lange starr in Abgründe blickt,

in seine Abgründe...

– o wie sie sich hier hinab,

hinunter, hinein,

in immer tiefere Tiefen ringeln! –

Dann,

plötzlich,

geraden Flugs,

gezückten Zugs

auf Lämmer stoßen,[1240]

jach hinab, heißhungrig,

nach Lämmern lüstern,

gram allen Lamms-Seelen,

grimmig gram allem, was blickt

tugendhaft, schafmäßig, krauswollig,

dumm, mit Lammsmilch-Wohlwollen...

Also

adlerhaft, pantherhaft

sind des Dichters Sehnsüchte,

sind deine Sehnsüchte unter tausend Larven,

du Narr! du Dichter!...

Der du den Menschen schautest

so Gott als Schaf –,

den Gott zerreißen im Menschen

wie das Schaf im Menschen

und zerreißend lachen –

das, das ist deine Seligkeit,

eines Panthers und Adlers Seligkeit,

eines Dichters und Narren Seligkeit!«...

Bei abgehellter Luft,

wenn schon des Monds Sichel

grün zwischen Purpurröten

und neidisch hinschleicht,

– dem Tage feind,

mit jedem Schritte heimlich

an Rosen-Hängematten

hinsichelnd, bis sie sinken,

nachtabwärts blaß hinabsinken:

so sank ich selber einstmals

aus meinem Wahrheits-Wahnsinne,

aus meinen Tages-Sehnsüchten,[1241]

des Tages müde, krank vom Lichte,

– sank abwärts, abendwärts, schattenwärts,

von einer Wahrheit

verbrannt und durstig

– gedenkst du noch, gedenkst du, heißes Herz,

wie da du durstetest? –

daß ich verbannt sei

von aller Wahrheit!

Nur Narr! Nur Dichter!...[1242]


Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 2, S. 1239-1243.


War auch er ein Lügner? Aber sicher.
(Kommentar korrigiert am 29.10.2013)
(Kommentar korrigiert am 29.10.2013)
(Kommentar korrigiert am 29.10.2013)

 loslosch äußerte darauf am 29.10.13:
danke. ich setz mal was in die anmerkung oben.

ich halte nietzsche nicht für einen großen philosophen, sondern für einen veritablen dichter. man muss wOhl ab 1885 ausklammern, als die anfälle schubweise einsetzten.

 Dieter Wal ergänzte dazu am 29.10.13:
Bewundere alle und liebe manche seiner Gedichte. Nietzsches Exaltiertheit darin find ich so grandios wie befremdlich. Ähnlich verhält es sich bei mir mit seinem philosophischen Werk. Sein sich in beiden Disziplinen artikulierender Gedankenreichtum ist respektabel. Sein aggressiv-missionarischer Atheismus darin trägt in meinen Augen teilw. wahnhafte Züge (Z. B. die Stelle "Gott ist tot" in Zarathustra wirkt auf mich wahnsinnig. Sie ist großartig.). Allein sein Versuch, das Christentum seiner Zeit in Europa mit dichterischen und philosophischen Mitteln zu bekämpfen, hat etwas ausgesprochen Würdevolles. Ein Mann gegen die Welt. :) Es gab nach ihm substanzvollere Kritiken der christlichen Religion. Eine eigene atheistische Weltanschauung mit den sprachlichen Mitteln der Bibel begründen zu wollen, gab es in vergleichbarer Form später nur noch bei A. Crowley, der entzückt von Nietzsches Werk war.
LottaManguetti (59)
(29.10.13)
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 loslosch meinte dazu am 29.10.13:
der dichter sollte eben nicht schamlos und hinterhältig lügen. (schau meine frische anmerkung unter dem text.) seelenstrip zählt auch nicht zur dichtkunst. passiert, wenn dichterlein nicht ganz dicht ist und einnässt. lo

 Dieter Wal meinte dazu am 29.10.13:
Schreib über "cum grano salis", lo! :)

 loslosch meinte dazu am 29.10.13:
wird gemacht.

"Gebildeter Poltergeist (Deutsch)
Anekdote zum Thema Bildung/ Wissen

Cum grano salis (Plinius der Ältere, ~23 n. Chr. bis 79 n. Chr.; Naturalis historia). Mit einem Körnchen Salz. Oder, sehr frei: Mit entsprechender Einschränkung."

in der nächsten vorstellung.

meine texte und aphos beziehen sich in der mehrheit auf erlebte geschichten.
Graeculus (69)
(30.10.13)
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 loslosch meinte dazu am 30.10.13:
dIe erwachsenenen bonobo-männchen begrüßen fremde damen mit einem kurzen an-ick.

ein schlechtes gewissen können hunde haben, die mit der stiebitzten wurst im bauch ihr herrchen besonders freudig begrüßen!

ja, schopenhauer ist geradeheraus. der philosoph der düsternis hat sich mit seinen betrachtungen auch erfolgreich therapiert.
Schrybyr† (67)
(13.11.13)
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 loslosch meinte dazu am 13.11.13:
wenn lügen in ...füßchen geschrieben ist, kann ich damit leben.
Schrybyr† (67) meinte dazu am 14.11.13:
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