Der Höhenflug des Ikarus

Hymne zum Thema Grenzen/ Grenzen überschreiten

von  EkkehartMittelberg

Mein Vater liebte die Freiheit,
die nicht das Leben kostet.
Wie sorgfältig hatte er alles bedacht,
um sie für uns zu gewinnen.
Er war ein Mann der Mitte.
Nicht zu hoch und nicht zu tief,
so sollte unsere Flucht sein.

Doch ich wollte schon immer
das Unbedingte,
das Schrankenlose,
das Unerhörte.

Das wurde mir sekundenschnell bewusst,
als die Rösser auf der mittleren Bahn in Fahrt kamen,
vor ungestümer Freude wieherten
und ihre Leiber im Sonnenlicht glänzten.
Ich schlug die Mahnungen des Alten in den Fahrtwind
und ließ die Zügel lustvoll schießen.

Einmal der Sonne ganz nahe,
einmal von Schönheit geblendet,
einmal nicht fahren nach Vorschrift,
einmal schwerelos sein.
Alles auf eine Karte setzen,
das tun selbst die Götter nicht.

Als das Wachs schmolz
und die Flügel im Äther zerstoben,
zog das Schwergewicht den Sonnenwagen
in rasender Fahrt nach unten.
Alle meinen, dass Todesangst mich beherrschte.
Doch das war nur ein kurzer Moment,
dann überließ ich mich gelöst dem freien Fall.
Ich hatte das Äußerste gewagt
und das Schönste gesehen,
das beim Sturz
meine Seele ganz erfüllte.

© Ekkehart Mittelberg, Januar 2014

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Kommentare zu diesem Text


 TrekanBelluvitsh (03.01.14)
Das Ikarus auch den freien Fall genossen hat, finde ich eine schön-morbide Idee... oder Verklärung.
Der Spatz ist nicht der größte und nicht der eleganteste Flieger. Aber er fliegt, oder etwa nicht?

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 03.01.14:
Danke, Trekan. Der klassische didaktische Mythos verstellt den Blick auf die überwältigende Schönheit einer unerhörten Grenzüberschreitung.

 susidie (03.01.14)
Grenzüberschreitende Erfahrungen, schrankenlos und unerhört. Ohne Handbremse durchs Leben auf der Überholspur. Schön ist es, wenn es glückt, nicht nur einmal. Wenn es doch auch eine Landung gibt, die einem nicht das Genick bricht. Musste jetzt an die Möwe Jonathan denken mit ihren vielen Flugversuchen und dem zerfledderten Gefieder. Und immer wieder mit Vollgas. Eine Hymne auf Leben und Sterben. Und vor dem Sterben, gelebt zu haben. Liebe Grüße von Su :)

 EkkehartMittelberg antwortete darauf am 03.01.14:
Merci, Su. Eigentlich ist der Mythos von Ikarus ein bisschen langweilig: der Ungehorsame wird bestraft. So wie sich Camus Sisyphus anders vorgestellt hat, nämlich als einen Glücklichen, so kann man sich auch Ikarus anders vorstellen: der Einsatz des Lebens für das einmalige Erlebnis und dann der Fall im beseligenden Rausch, der die Angst verdrängt.
Liebe Grüße
Ekki

 susidie schrieb daraufhin am 03.01.14:
Gestehe, dass ich mir erlaubte, den Mythos des Ikarus aus deinem Text "herauszudenken" und alles mögliche "reinlas" (nur für mich) :)

 EkkehartMittelberg äußerte darauf am 03.01.14:
So liest du ganz selten und deswegen akzeptiere ich es. )
Aber wenn du es noch einmal liest, dann stelle dir vor, dass Ikarus glücklich gestorben ist: Schönheit, frei von Tragik.

 Didi.Costaire (03.01.14)
Höhen- und Geschwindigkeitsrausch faszinierten den Menschen schon immer. Letzteres gab es zu Ikarus' Zeiten in dem Maße nur in der Abwärtsbewegung.
Liebe Grüße, Dirk

 EkkehartMittelberg ergänzte dazu am 03.01.14:
Grazie, Didi, das mit der Abwärtsbewegung stimmt. Deshalb wusste Ikarus in meiner Deutung des Mythos genau, was er tat.
Liebe Grüße
Ekki
BellisParennis (49)
(03.01.14)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 03.01.14:
Merci, Bellis. Ich vermute, du findest es großartig, dass Ikarus, seinen Tod kalkulierend, alles auf eine Karte setzt.
BellisParennis (49) meinte dazu am 03.01.14:
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 ViktorVanHynthersin (03.01.14)
Wenn ich es recht in Erinnerung habe, war Dädalus der "Böse", der Ungehorsame und sein Sohn Ikarus wurde gleichermaßen auf Kreta gefangen gehalten. Wenn nun Ikarus auf der Flucht "zu hoch fliegt", die Warnungen seines Vaters ausschlägt, so ist es (auch sinnbildlich) (s)ein Lösen von der Vatergestalt. Zwar muss er den Höhenflug mit dem Leben bezahlen, aber seine Freiheit hat er, für einen kurzen Moment nur, genießen können. So lese ich Deine Hymne, liebe Ekkehart, die mit formal und innhaltlich gut gefällt.
Herzliche Grüße
Viktor

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 03.01.14:
Vielen Dank, Viktor, diese Interpretation ist in meinem Sinne. Ikarus emazipiert sich in meiner Deutung des Mythos zweifach, indem er sich von der Vatergestalt löst und indem er (damit einhergehend) bewusst die Vernunftregeln außer Kraft setzt, um die Sonnenschönheit aus der Nähe zu sehen.
Herzliche Grüße
Ekki

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 03.01.14:
Die ursprüngliche Antwort wurde am 03.01.2014 von EkkehartMittelberg wieder zurückgenommen.

 Bergmann (03.01.14)
Mich irritiert die Verschmelzung von Flügel und Sonnenwagen 3. und 5. Abschnitt). Kannst du mir helfen, Ekki?
LG, Uli

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 03.01.14:
Danke für die Nachfrage, Uli. Ich war selbst ein wenig irritiert, denn in der Überlieferung des Mythos liegt eine gewisse Unschärfe, weil sie sowohl Dädalus und Ikarus als auch den Sonnenwagen als geflügelt darstellt.
Für meine Deutung ist das aber letztlich unerheblich. Man könnte Ikarus nach dem Absturz des Sonnenwagens noch ein wenig höher fliegen lassen, bevor er ihm dann folgt. Ich habe ihn zugleich mit dem Sonnenwagen stürzen lassen, weil man mit diesem schwergewichtigeren Bild die Rasanz des Absturzes deutlicher werden lassen kann.

 Bergmann meinte dazu am 03.01.14:
Merci, Ekki!
Fabi (50)
(03.01.14)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 03.01.14:
Danke für deinen Hinweis, Fabi. Mir liegt sehr daran, dass Ikarus angstfrei, also gelöst abstürzt.
LG
Ekki

 loslosch (03.01.14)
eine staunenswerte koinzidenz: karlheinz stockhausen (über den 11.9.01) und ikarus hier im todesrausch. lies klicks & cliquen, bergmann, heute. (stockhausen lag mir nicht. wir haben ihn in köln im streichorchester gespielt. rhythmusfreie musik. der todestrunkene ikarus ist der andere grenzfall.)

stockhausen hat sich angreifbar gemacht. das lyrIch des ikarus nicht.
(Kommentar korrigiert am 03.01.2014)

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 03.01.14:
Danke, Lothar. Wenn man das Motiv des Todesrausch' (Todesrausches?) akzentuiert, (nicht das der Grenzüberschreitung um der Schönheit willen bei Ikarus) gibt es tatsächlich eine verblüffende thematische Koinzidenz.
Pocahontas (54)
(03.01.14)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 03.01.14:
Grazie, Sigi, ja, in meiner Deutung gehört Ikarus zu den Menschen, die für Schöneit alles hingeben und sei es das Leben.
Liebe Grüße
Ekki
Graeculus (69)
(03.01.14)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 03.01.14:
Danke für diesen passenden Kommentar, Graeculus.

 Dieter Wal (03.01.14)
"Ich hatte das Äußerste gewagt
und das Schönste gesehen,
das beim Sturz
meine Seele ganz erfüllte."

Eu-thanatos. Trotzdem, sterben ist doof. Schreib lieber Gedichte. Dir und deiner Familie ein glückliches, gesundes, kreatives, ungebrochenes und prall erfülltes Jahr 2014.
(Kommentar korrigiert am 03.01.2014)

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 03.01.14:
Bei einem so schönen Neujahrswunsch, den ich gerne erwidere, soll der Eu-thanatos noch ein bisschen warten dürfen. Merci, Dieter

 Songline (03.01.14)
Für einen Glücksmoment alles riskieren kann wohl nur, wem nichts an dem liegt, was er hat. Ist das grenzenlose Freiheit? Oder Armut?
Es kann beides sein.
Jedenfalls: Guter Text.
Liebe Grüße
Song

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 03.01.14:
Grazie, Song, ja, das stimmt: Es gibt auch Glücksritter aus Armut.
LottaManguetti (59)
(03.01.14)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 03.01.14:
Merci, Lotta, ich denke auch, dass jeder von uns im Leben einmal vor dieser Grenze steht. Dann freilich scheiden sich die Geister.
Grüßlele
Ekki
MarieM (55)
(05.01.14)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 05.01.14:
Merci, Marie, du hast das Gedicht ganz in meinem Sinne gesehen.
Man kann das Verhalten des Ikarus auch traditionell als Hybris deuten. So ist es ja auch über die Jahrhunderte geschehen. Aber Mythen sind Sinnbilder. Warum sollte man sie nicht umdeuten?
Liebe Grüße
Ekki

 moonlighting (06.01.14)
Hallo Ekki,


ist das Leben nicht selbst ein freier Fall, von der Geburt bis ins Alter?

Die Frage ist wie man damit zurecht kommt.


LG

Moon

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 06.01.14:
Grazie, Moonlight

Rilke, Rainer Maria (1875-1926)

Die Blätter fallen, fallen wie von weit,
als welkten in den Himmeln ferne Gärten;
sie fallen mit verneinender Gebärde.

Und in den Nächten fällt die schwere Erde
aus allen Sternen in die Einsamkeit.

Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.
Und sieh dir andre an: es ist in allen.

Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen
unendlich sanft in seinen Händen hält.
Steyk (61)
(06.01.14)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 06.01.14:
Vielen Dank, Stefan. Aus seiner Sicht hat er alles gewonnen.
Herzliche Grüße
Ekki

 irakulani (08.01.14)
Offenbar war der Preis für den erfüllenden Moment d e i n e m Ikarus nicht zu hoch, lieber Ekki.
Das ist das Entscheidende, finde ich.
Es wird sie immer geben: Menschen, die Freiheit, die nicht das Leben kostet, wohlbedacht suchen (wie hier der Vater) kontra Menschen, die alles wagen, für einen Moment der erfüllenden Glückseligkeit...

L.G.
Ira

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 08.01.14:
Ein punktgenauer Kommentar. Muchas gracias, Ira.
LG
Ekki
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