Kann man einen Text, der einem missfällt, als Kunstwerk bezeichnen?

Text

von  EkkehartMittelberg

Im Wintersemester 1960/61 nahm ich in Münster an einem Seminar von Albrecht Schöne über Adalbert Sifters „Der Nachsommer“ teil.

Dieser biedermeierliche Bildungsroman von 1857 in drei Teilen (Sein Inhalt ist leicht zu googeln) gefiel den nicht gerade kritischen Seminarteilnehmern von 1960 aus folgenden Gründen nicht:

- Erziehung hat hier das Ziel, einer großen Liebe durch Heirat und Familiengründung würdig zu sein.
Zwei Liebespaare sind die Protagonisten. Das jüngere macht aber die Erfüllung seines Lebensziels `Heirat` nicht von seiner eigenen Verantwortung für sich abhängig, sondern von der vorher eingeholten Zustimmung der Eltern, sogar von der weiterer Angehöriger. Weil das ältere Paar diese Versicherung nicht eingeholt hat, scheitert dessen Verbindung zunächst,  und das jüngere Paar lernt an diesem Beispiel das Versäumnis zu vermeiden.

- Liebe existiert in dieser pädagogischen Provinz nur als geistig-seelische Verbindung. Sexualität wird schamhaft tabuisiert und ausgesperrt.

- Materielle Armut, Krieg, Chaos und Katastrophen werden ebenfalls ausgeblendet oder erscheinen nur in marginalen Andeutungen.

- Die Bildungsziele werden von Autoritäten vorgegeben und von der Jugend (repräsentiert durch das jüngere Paar) nicht in Frage gestellt.

Professor Schöne war sich wohl dessen bewusst, dass er mit dem Thema seines Seminars nicht auf Begeisterung stoßen würde. Er lud uns zu Beginn seiner Lehrveranstaltung zu einem zwanglosen Umtrunk ein und fragte uns, wie uns der Roman gefalle.  Die Antworten waren fast einhellig ablehnend im Sinne der hier vorher erwähnten Statements. Er äußerte Verständnis für die kritische Einstellung seiner Seminaristen, meinte jedoch, dass sich unser auf Missfallen gegründetes Urteil im Laufe des Semesters noch ändern könne, weil wir Kriterien zum besseren Verständnis des Kunstwerks „Der Nachsommer“ erarbeiten würden.

Am Ende des Semesters hatten wir so viel verstanden: Das Bildungskonzept des Romans definiert sich im Wesentlichen durch einen Prozess der Reifung, der durch geduldige Hingabe an Gartengestaltung, an Sammlungen von Steinen, Pflanzen und Gemälden befördert wird, Aktivitäten, die aufgeräumte liebesfähige Seelen hinterlassen. Die Sammlungen werden bis ins kleinste Detail ausführlich geschildert. Wer sich darauf einlässt, diese differenzierten Beschreibungen zu lesen, auf den kann sich die Ordnung und Ruhe dieser Kunstwelt als psychische Ausgeglichenheit übertragen.
Von der liebevollen Schilderung der Leitmotive Rose, Marmor und Kaktus geht ebenfalls eine entspannende und beruhigende Wirkung aus.
Man kann zusammenfassend sagen, dass der gesamte Roman mit seiner wohlgeordneten Dingwelt, an der sich die Psyche der Protagonisten schult, zur Seelenruhe seiner Leser beiträgt.
Diese Wirkung wird mit einem Erzählstil erreicht, in dem alle Strukturelemente des Romans, sorgfältig durchkomponiert, aufeinander verweisen und nichts dem Zufall überlassen wird.

Bei der Abschlussbesprechung hatte sich das ursprüngliche Missfallen der meisten Seminarteilnehmer gegenüber diesem aus heutiger Sicht weltfremden Bildungsroman nicht in Wohlgefallen verwandelt, aber keiner wollte den Kunstcharakter dieses akribisch verfugten Romans leugnen. Ich vermute, dass das Missfallen an diesem Roman heute noch deutlicher artikuliert würde,
glaube aber nicht, dass man trotzdem bereit wäre, ihn für Kunst zu halten, weil heute nur das für Kunst gehalten wird, in dem man sich mit seinem eigenen Befinden wiedererkennt.

© Ekkehart Mittelberg, Oktober 2014


Anmerkung von EkkehartMittelberg:

Mich treibt seil langem die Frage um, ob das persönliche Gefallen oder Missfallen über die Bewertung eines literarischen Textes entscheiden sollte oder ob diese Beurteilung nach allgemeinen Kriterien erfolgen sollte, die dem persönlichen Geschmack zuwider laufen können.
Die Seminarteilnehmer in meinem Essay hielten Stifters „Nachsommer“ für ein literarisches Kunstwerk, obwohl ihnen dessen Kriterien für die Erstellung seines Romans als überholt erschienen.

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Kommentare zu diesem Text


 Untergänger (24.10.14)
Kurz:
"folgenden Gründen" (o gegen l tauschen)
"Seelenruhe" (ohne die 3)

Ich würde Deinen Kunstbegriff etwas anders deuten. Bei manchen liegst Du wahrscheinlich ganz gut. Aber insbesondere unter Studenten - habe ich oft das Gefühl, dass etwas keine Kunst sein kann, wenn man es versteht.

mömmel,
Alfons

 loslosch meinte dazu am 24.10.14:
o mömmel, du netter clown. weils mir gefällt, nochmal: "...dass etwas keine Kunst sein kann, wenn man es versteht."

 EkkehartMittelberg antwortete darauf am 24.10.14:
Amüsant, Untergänger. Man sollte also Autoren, die Kunst produzieren wollen, empfehlen, zum Beispiel hermetische Gedichte zu schreiben oder in der Sprache Heideggers zu philosophieren. )

 Irma schrieb daraufhin am 24.10.14:
Ich habe bei mir Bilder an der Wand hängen, über die ich nichts weiß. Sie gefallen mir einfach. Umgekehrt bin ich in der Nationalgalerie achtlos an Bildern vorbei gegangen, die ich später sehr interessant fand. In einer Führung (für Kinder!) wurde auf kleine Details aufmerksam gemacht, die ich gar nicht bemerkt hatte (z. B. ein Nuckel). Kleine Elemente, zeittypisch oder gerade zeituntypisch, die das Bild erklärten oder ihm gerade eine andere Aussage gaben.

Zur Beurteilung eines Kunstwerks ist es sicher gut, möglichst viel Hintergrundwissen und Kenntnisse zu besitzen. Dann lässt es sich am neutralsten beurteilen. Ob es mir gefällt oder nicht, ist losgelöst davon. Wobei manch Werk sicher einfach deshalb, weil es handwerklich gut gemacht ist, seine Wirkung auch auf den Laien auszuüben vermag.

Umgekehrt wurde schon manch Farbkleckserei hochgejubelt, von der sich hinterher herausstellte, dass sie von Schimpansen gepinselt wurde. LG Irma

 EkkehartMittelberg äußerte darauf am 24.10.14:
Merci, Irma, So sehe ich es auch. Hintergrundwissen jeder Art ist für die Beurteilung von Kunst wichtig. Das persönliche Gefallen oder Missfallen darf davon unberührt bleiben. Es kann sich jedoch durch diesen Einfluss wandeln.

LG
Ekki

 loslosch ergänzte dazu am 24.10.14:
jaja, die schimpfpansen sind die wahren künstler.

mich ärgert, wenn schöler gedichte interpretieren sollen, von denen sie kaum einen schimmer haben. beispiel "Übers Jahr" von JWG: primeln stolzieren so naseweiß, schalkhafte veilchen ...

dabei gings um die sterbenskranke vulpius. "Er (der sommer) doch vergebens mit Liebchen ringt." (schlussvers.)

wenn dichter selbst nicht mehr wissen, was sie ausdrücken wollen, sind wir endlich in der moderne angekommen.

ps: versuch einer vertiefung des kommentars von irma.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 24.10.14:
Ja, Lothar, du hast Recht. Es ist unverschämt, Schüler Gedichte interpretieren zu lassen, zu denen sie kein Hintergrundwissen haben können.
Was mich darüber hinaus auch ärgert, ist, dass sich manche Interpreten auf Literaturforen freiwillig in die Situation dieser Schüler begeben nund drauflos fantsieren, obwohl sie sich Hintergrundwissen beschaffen könnten.

 TassoTuwas (24.10.14)
Hallo Ekki,
wenn ich nur auf die Überschrift antworten soll: Nein!
Matisse´s Bilder kann ich nicht ausstehen aber sie hängen in den großen Museen, bin ich nun ein Banause?
Wird ein Werk zur Kunst wenn mir ein Experte erklärt, warum es ein Kunstwerk ist? Vielleicht!
Es gibt keine Scala, die den Kunstwert in einer Bewertungszahl ausdrückt. Das Empfinden des Betrachters/Lesers/Hörers etc. kommt aus einem Kaleidoskop von Erziehung, Bildung, sozialem Umfeld und irgendetwas, dass man Gemüt, Geistesverwandtschaft bis hin zu Seele nennen könnte.
Das ist was ich in aller Kürze dazu sagen kann, weil man eine ganze Nacht darüber trefflich streiten könnte.
Mit subjektiven Morgengrüßen
TT

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 24.10.14:
Gracias, Tasso. "Erziehung, Bildung, soziales umfeld" als Faktoren, die sich auf die Eischätzung von Kunst auswirken. Das genau beschäftigt mich. Bezogen auf Stifters "Nachsommer": Wenn sie sich nicht entscheidend geändert hätten, hätte uns Stifters Bildungsroman sofort gefallen und wir hätten ihn, ohne die Erkenntnisse des Seminars, sogleich für ein literarisches Kunstwerk gehalten. Ich denke, dass sie auch das Gemüt und die Geistesverwandtschaft bis hin zur Seele ändern können.
Wenn ich bei kV einen Text lese, der vielen gefällt, mir aber nicht, prüfe ich meine Kriterien und frage mich, ob ich es mir als Produkt meiner Sozialisation nicht zu einfach mache. Das gilt auch für den umgekehrten Fall, dass mir ein Werk gefällt, anderen aber nicht.

Von objektiven Morgengrüßen weit entfernt

Ekki

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 24.10.14:
Die ursprüngliche Antwort wurde am 24.10.2014 von EkkehartMittelberg wieder zurückgenommen.

 FRP (24.10.14)
Es ist eine gute Gelegenheit, sich einmal neben sich selbst zu setzen; und den eigenen "Geschmack" oder das eigene "Gefallen" als Anhaftung in den eigenen Dispositionen/Erfahrungen/Konditionierungen wahrzunehmen. "Ulysses" von Joyce ist für nicht einmal Literatur, geschweige denn: Kunstwerk. Nun hat dieses Werk aber etwas in der Literatur bewirkt, und zahlreiche andere Werke beeinflusst. Die meisten anerkannten Kritiker sind sich einig, dass es sich um ein Meisterwerk handelt. Sie verstehen es nicht, aber es ist ein Meisterwerk. Nun gut. Indem ich aber hinterfrage, warum es mir nicht gefällt; was genau mich stört, erfahre ich etwas über mich. Und am Ende kann ich irgendwo einordnen, dass mir das Werk nicht gefällt, weil es mich AN-GEHT (wie ein Raubtier auf der Pirsch). Mein Nicht-Gefallen fungiert quasi als Selbstschutz. Irgendwann einmal werde ich es entspannt lesen, weil ich mir ja klar gemacht habe, was genau mich stört. Und dann kann ich beruhigt sagen, dass es ein Kunstwerk ist, aber ausserhalb meines Gusto. Ich bin sicher, dass es Dir mit Kafka (den ich wiederum sehr verehre) ähnlich geht.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 24.10.14:
Gracie especiale, Fritz Rainer. das sind weiterführende Beobachtungen, wie ich sie mir erhofft habe.
Indem man sein Gefallenoden/Missfallen hinterfragt, erfährt man Entscheidendes über sich selbst. Wer will das nicht?

Ja, Nicht-Gefallen, das bedenkenlos einrastet, ist oft Selbstschutz, sogar Bequemlichkeitsschutz. Ich muss offen sein, mich auf etwas einzulassen, das mir fremd ist. Wenn es meiner Überprüfung nicht standhält, kann ich immer noch zumachen.
Das, was mich gedanklich umtreibt, kann nicht unreflektiert banal sein. Manchmal ist es nur gekonnte Provokation, manchmal, wenn es lange nachwirkt, vielleicht sogar Kunst.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 24.10.14:
Die ursprüngliche Antwort wurde am 24.10.2014 von EkkehartMittelberg wieder zurückgenommen.

 niemand (24.10.14)
Ich weiß nicht, lieber Ekki, ob Du das Bühnenstück
"Kunst" von Jasmina Reza kennst. Es ist allemal empfehlenswert und entlarvend im Bezug auf Kunst.
Zum Brüllen ist es, wenn jemand bedeutungsvoll von einer weißen Bild-Fläche steht und hineininterpretiert was er möchte. Mit herzlichen Grüßen, Irene

 AZU20 meinte dazu am 24.10.14:
Ja, das hat mir auch sehr gut gefallen. Tolle Aufführung vor Jahren in Godesberg. LG

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 24.10.14:
Das Bühnenstück "Kunst" habe ich leider verpasst. Irene.
Ich denke gerade darüber nach, was passiert, wenn einer vor einer pechschwarzen Bildfäche steht. Kann man da auch hineininterpretieren, was man will ? Oder ist das eindeutig traurig.

Im Ernst, eine Gesellschaft, die über solche "Kunstwerke" diskutiert, hat ihre Kriterein verloren.

Mit herzlichen Grüßen
Ekki
Inis (48)
(24.10.14)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 24.10.14:
Jau, Inis. Basta! Aber solche einfachen Aussagen beleben die Diskussion. Hast du noch nie erlebt, dass sich deine Beurteilung eines Werks geändert hat? Wenn ja, hast du dich doch wahrscheinlich gefragt, warum? Also , Mist muss nicht immer Mist bleiben. Oder was heute noch wunderschön ist, bedeutet dir vielleicht morgennicht mehr so viel.
Inis (48) meinte dazu am 24.10.14:
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 24.10.14:
Inis, es gibt unterschiedliche Arten, sch selbst und andere zu belügen. Eine ist die Schmeichelei, die du kritisierst, eine andere begriffliche Verschwommenheit, mein Thema hier. Wer mit Anspruch Literatur schreibt, kommt nicht daran vorbei, Kunst, zumindest für sich selbst, zu definieren. Der Oberbegriff muss stimmen, wenn die Unterbegriffe klar sein sollen.
Inis (48) meinte dazu am 24.10.14:
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 Regina (24.10.14)
Eine Malerin sagte mir, alles, was mit der Entscheidung zu tun hat, irgendwo Farbe aufzutragen, sei Kunst, auch wenn es z.B. die Wand mit einer scheußlichen Farbe streichen wäre. "Scheußlich" ist nach dieser Definition eine subjektive Wertung, die die Frage, ob es Kunst ist, nicht berührt. Es gibt aber auch Kleinkunst, angewandte Kunst, Kunsthandwerk oder die bekannte l'art pour l'art. "Es ist Kunst, aber schlecht gelungen" oder "Es ist Kunst, aber mir gefällt es nicht", solche Aussagen sind zugelassen.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 24.10.14:
Regina, die grundsätzliche Äußerung der Malerin macht mich nachdenklich, obwohl ich ihr nicht folgen kann, denn Kunst ist für mich immer noch durch Können definiert. Aber es gibt zum Beispiel literarische Texte, die mir nicht gefallen, bei denen ich mich aber frage, ob ich sie so zustände brächte, wenn ich so schreiben wollte. Wenn die Antwort "nein" lautet, akzeptiere ich sie als Kunst, obwohl sie mir nicht gefallen.
Danke für deine Anregung.

 niemand meinte dazu am 24.10.14:
@ Regina
Zu Deinem Kommentar würde ich auch noch gerne eine Kleinigkeit senfen Mir sagte mal jemand: Wenn ich an eine Wand spucke, so ist das Kunst. Ich habe ihn drauf hin gefragt, wenn das so sei, warum so viele "Künstler" hier
ein ihrer Meinung nach "hingerotztes Gedicht" nicht als Kunst sondern als Kitsch empfänden. Schließlich ist ein Gedicht mit ein wenig mehr Aufwand entstanden, als ein Spucken an die Wand. Das nur nebenbei. LG niemand
LottaManguetti (59)
(24.10.14)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 24.10.14:
Lotta, ich bin dir dankbar für diesen Hinweis: "Irgendwie dazwischen rennt auch noch was rum." Es kann nicht alles, was hier und anderswo geschrieben wird, Kunst oder Kitsch sein. Aber selbst das Dazwischen könnte ich nicht einordnen, wenn ich mich nicht um Kriterien bemühen würde.
Am Beispiel von Kriminalromanen kann man beobachten, dass selbst heute noch namhafte Kritiker sie pauschal als Trivialliteratur einordnen, weil sie zu bequem sind, Kriterien zu entwickeln, die diesem Genre angemessen sind.

LG
Ekki

 TrekanBelluvitsh (24.10.14)
Das Bildungskonzept des Romans...
scheint mir aus deiner kurzen Beschreibung jedoch nur vordergründig nicht aggressiv zu sein. Doch ist es wohl das, was man in der heutigen Psychologie passiv-aggressiv nennt. Und deren Folgen können ebenso verheerend sein.

Ich denke, dass man einen Text/ein Werk das einem missfällt - aus bestimmten nachvollziehbaren Gründen - man schlecht als Kunstwerk bezeichnen kann. Allerdings bin ich auch ein Gegner der so gerne postulierten Trennung von Wert und Autor. So hat der bürgerliche Geist in Deutschland z.B. bis heute keine Probleme mit dem Protofaschisten Wagner. Bis heute pilgern deute KanzlerInnen nach Bayreuth - bei Wagners Einstellung zum bürgerlichen Freiheitsideal seiner Zeit ein demokratischer Alptraum! Auf der anderen Seite wird rechtes Gedankengut in moderner Musik scharf kritisiert, auch und gerade von derselben bürgerlichen Schicht. Und vielleicht kommen ja bald Violinenkonzerte von Reinhard Heydrich auf den Markt, wer weiß...

Was ich sagen will: Es gibt viele Dinge, die man in die Betrachtung eines Werkes einfließen lassen kann. Vielleicht ist es auch einfach nur angebracht, mal wieder "Es gefällt mir[/b] nicht zu sagen." Aber das wäre dann ja 'bloß' eine Meinung und hätte nichts mit Bildung zu tun. Und 'gebildet' wollen wir ja schließlich alle sein...

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 25.10.14:
Merkwürdig, Trekan, ich hatte, als ich meinen Essay schrieb, auch an Wagner gedacht. Ich kann mich, wenn ich etwas von ihm höre, nicht von meiner Missbilligung seines Antisemitismus freimachen.
Einige seiner israelischen Fans schaffen das aber. Sie halten seine Musik für Kunst, obwohl sie seine Ideologie bestimmt verurteilen.
Aus deinem Beispiel ist aber zu lernen, dass die Beurteilung eines Werks häufig von dem abhängt, was man über seinen Schöpfer weiß.
Ich halte das für unangemessen, verfalle aber selbst manchmal in den Fehler.
Danke
Ekki

 Dieter Wal (24.10.14)
Prof. Schönes faszinierender Interpretationsansatz des Buches wirkt auf mich so anziehend, Stifters Roman unbedingt lesen zu wollen. Danke für den Tipp!

Die von dir skizzierte "Pädagogik" und Moral der Protagonisten stößt mich ab. Kann die Reaktion von euch damals sehr gut nachvollziehen.

"weil heute nur das für Kunst gehalten wird, in dem man sich mit seinem eigenen Befinden wiedererkennt."

Denke an Walther von der Vogelweide. Kann dort eigenes Befinden leider in keiner Weise wiederfinden, aber halte Walther für einen der mit Abstand bedeutendsten Dichter der Deutschen. Für mich ist er mit Wolfram bedeutender als Goethe und Heine zusammengenommen.

Goethe und Heine schrieben grandios, aber Walthers Sprache war noch Musik in Worten.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 25.10.14:
Lieber Dieter,
ich kann deinen Kommentar zu Schönes Interpretationsansatz, zu Stifters Protagonisten und zu der Problematik des Wiederfindens, dargestellt an Walther von der Vogelweide, sehr gut nachvollziehen. Jedoch fällt es mir schwer zu sagen, wer der bedeutendste der von dir erwähnten Dichter ist.
In der Literaturgeschichte werden unter diesem Gesichtspunkt Goethe und Schiller oft miteinander verglichen. An ihnen scheiden sich die Geister. Den meisten gefällt nur einer von den beiden, aber ich habe noch in keiner Literaturgeschichte gelesen, dass ein Literaturwissenschaftler wegen persönlicher Abneigung dem Gesamtwerk der beiden den Kunstcharakter abspricht.
Merci
Ekki
ues (34)
(25.10.14)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 25.10.14:
Lieber ues,
ein Kunstgericht wird meine Frage kaum gescheiter angehen können, als du mit deiner pragmatischen Methode. Bedeutung als entscheidendes Kriterium lässt viel Raum, und man kann es tatsächlich mit subjektiven und objektiven Argumenten füllen.
Es wundert mich nicht, dass du mit diesem Hauptkriterium meine Frage mit "ja" beantwortest. Man kann persönlich noch so leidenschaftlich einen umstrittenen Dichter, Komponisten, Maler ablehnen, aber es wird kaum möglich sein, ihm die Bedeutung abzusprechen, die zu dem Meinungsstreit führt.
Vielen Dank und liebe Grüße
Ekki

 monalisa (25.10.14)
Eigentlich traue ich mir gar nicht zu, beurteilen zu können, ob etwas ein Kunstwerk ist oder nicht, zu schwer fällt es den Kunstbegriff überhaupt zu fassen. Mein persönlicher Geschmack spielt für mich dabei überhaupt keine Rolle. Ich denke auch, dass es nicht Aufgabe der Kunst ist, zu gefallen, genauso gut kann sie verstören, aufschrecken, ekeln, ängstigen ... auch langweilen, oder ganz einfach 'kalt lassen'.
An mir selbst beobachte ich, dass mir ein Werk je länger und intensiver ich mich damit befasse, ich mich darüber mit anderen austausche, desto besser gefällt, nicht in dem Sinn dass ich es schön finde, ich kann es nach wie vor 'eklig' finden, gebe diesem Ekel aber einen positiven Wert, weil ich ihn ein- und zuordnen und für mich Wert(e), Erkenntnisse, ... daraus schöpfen kann.

Ob man Kunst überhaupt objektiv beurteilen kann? Natürlich lässt sich sagen, das sei handwerklich gut gemacht, aber selbst wenn das Handwerk 'Mängel' aufweist, können gerade diese 'Fehler' Originalität repräsentieren und ein stimmiges Kunstwerk ergeben.

Lieber Ekki, auch ich beantworte also deine im Titel gestellte Frage eindeutig mit JA. Ein Grund dafür, dass mir ein Text missfällt, kann ja durchaus daran liegen, dass ich einfach keinen Zugang dazu habe. Dann fände ich es anmaßend, ihm jegliche künstlerische Qualität abzusprechen. Eine äußerst interessante Frage hast du hier aufgeworfen, woraus sich eine ebenfalls sehr interessante Diskussion entwickelt hat. Danke dafür!

Liebe Grüße,
mona
(Kommentar korrigiert am 25.10.2014)

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 26.10.14:
Ein wichtiger weiterführender kommentar, Mona. Die entscheidende Erkenntnis ist, dass fast alle auf Kunst mit Gefallen oder Missfallen reagieren, obwohl ihre Aufgabe gar nicht darin liegen muss zu gefallen, vielmehr Provokation, Verunsicherung, Ekelerregung usw. sein kann. Wer das nicht erkennt, reagiert zunächst mit Missfallen. Wenn er die Intention des Werks später versteht und seine vorschnelle Reaktion erkennt, ist er bereit, das vorher missbilligte Werk für ein Kunstwerk zu halten. Das heißt, ob etwas Kunst ist oder nicht, darüber entscheidet auch die Entwicklung des Rezipienten.

Gracias und liebe Grüße
Ekki

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 26.10.14:
Ein wichtiger weiterführender kommentar, Mona. Die entscheidende Erkenntnis ist, dass fast alle auf Kunst mit Gefallen oder Missfallen reagieren, obwohl ihre Aufgabe gar nicht darin liegen muss zu gefallen, vielmehr Provokation, Verunsicherung, Ekelerregung usw. sein kann. Wer das nicht erkennt, reagiert zunächst mit Missfallen. Wenn er die Intention des Werks später versteht und seine vorschnelle Reaktion erkennt, ist er bereit, das vorher missbilligte Werk für ein Kunstwerk zu halten. Das heißt, ob etwas Kunst ist oder nicht, darüber entscheidet auch die Entwicklung des Rezipienten.

Gracias und liebe Grüße
Ekki
9miles (49)
(26.10.14)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 26.10.14:
Es geht mir um Kunstwerke, die einen länger beschäftigen als nur einen kurzen Moment. Sie als Kunst zu bezeichnen, obwohl sie ihm nicht gefallen, nützt dem Betrachter, der ehrlich sich selbst gegenüber bleibt. Er erkennt nämlich an, dass in dem Werk Potenzen stecken, die ihm im Moment des Missfallens (noch) nichts sagen, die ihn aber positiv weiter beschäftigen.
Begenung mit Kunst sollte immer ganzheitlich sein und die Auseinandersetzung damit schließt weder emotionales Einfühlen noch analytisches Erkennen aus..
Danke und Gruß
Ekki
9miles (49) meinte dazu am 26.10.14:
Diese Antwort ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 harzgebirgler (14.12.17)
oft zeigt sich erst die kunst die in was steckt
da ist der künstler lange schon verreckt
ebenso wie alle zeitgenossen -
ja viel zeit ist dann oft schon verflossen...

lg
henning

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 14.12.17:
Merci Henning,
dass Kunstwerke von Zeit zu Zeit neu entdeckt werden, rechtfertigt möglicherweise das Attribut "Klassisch".
LG
Ekki
Graeculus (69)
(14.12.17)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 14.12.17:
Lieber Graeculus,
ich bin froh darüber, dass du mich darin bestätigst, dass es Kunstwerke gibt, die vom persönlichen Gefallen unabhängig sind.
Ich übe mich nämlich praktisch darin, auch hier Texte unabhängig von meinem persönlichen Gefallen zu empfehlen, wenn ich feststellen konnte, dass der Autor Kriterien hatte und nicht blindlings drauflos geschrieben hat.
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