Was ist Lyrik? Hilde Domin

Essay zum Thema Gedichte/Lyrik

von  EkkehartMittelberg

Hilde Domin

[Das Gedicht als Gebrauchsartikel]

Das Gedicht, selbstständig geworden, ist also eine Art Gegenstand, den Dritte
’brauchen’, das heißt: dessen sie bedürfen und dessen sie sich auch bedienen können. Man hat gesagt, dass das Gedicht ein Gebrauchsartikel sei wie jeder andere. Enzens­berger legte seinem zweiten Lyrikband Landessprache eine Gebrauchsanweisung bei ("Gebrauchsanweisung für unerschrockene Leser"), wobei er nur Brechts Hauspostillle folgt, die Brecht schon im Jahre 1927 mit einer "Anleitung zum Gebrauch der einzelnen Lektionen" versehen hatte. Auch moderne amerikanische Lyriker wie William Carlos Williams haben das Gedicht als ,Gebrauchsartikel’ angesprochen, und auch ich tue es. Mit einem Unterschied: Das Gedicht, glaube ich, ist ein Gebrauchsartikel eigener Art.(1) Es wird gebraucht, aber es verbraucht sich nicht wie an­dere Gebrauchs-artikel, bei denen jedes Benutzen das Abnutzen in sich schließt.

Im Gegenteil, es ist eines jener ,Dinge’, die wie der Körper der Liebenden in der Nichtbewahrung recht eigentlich gedeihen. Neu gestaltete Erfahrungen, verfügbar werdende Assoziationen wachsen dem Gedicht unablässig zu und vermehren, vertiefen und erweitern es, je nach den Notwendigkeiten seiner Gebraucher. Es ist daher ein ,magischer Gebrauchsartikel’, etwas wie ein Schuh, der sich jedem Fuß anpasst, der ohne ihn den Weg in das Ungangbare nicht gehen könnte, den Weg zu jenen Augenblicken, in denen der Mensch wirklich identisch ist mit sich selbst. Etwas, das er im täglichen Leben eben nicht ist. Denn gerade das ist das Wesen der Funktionalisierung, dass die Identität verloren geht, der Mensch zum ,Treffpunkt seiner Funk­tionen’ wird. Umso wichtiger, umso unentbehrlicher ist jener magische Gegenstand, jenes Sesam-öffne-Dich, das die Lyrik ist.

1)So wenig wie das Gedicht ein alltäglicher, sondern eben ein ganz besonderer Gebrauchsgegenstand ist, so wenig lässt es sich als ,Maschine’ bezeichnen, wie es vielfach geschieht. Allenfalls ließe es sich mit einem Perpetuum mobile vergleichen. Die Maschine hat ja gerade keine Bewegung in sich, ist angewie­sen auf jemand, der sie belebt. Das Gedicht aber, die gestaltete ’wirklichere Wirklichkeit’ hat eine Eigenbewegung: Diese erhält sich im Prinzip unbegrenzt. Es ist nicht vorhersehbar, ob, noch wann oder auf wie lange sie aktiv wird: Sie kann nach Jahrhunderten plötzlich wieder virulent werden. 

(aus: Hilde Domin, Wozu Lyrik heute: Dichtung und Leser in der gesteuerten Gesellschaft. München: Piper Verlag 1968, S. 16f.)

Zum richtigen Verständnis von Domins Essay

1. Unter "neu verfügbar werdenden Assoziationen" versteht Domin eine Mischung gefühls­mäßiger und gedanklicher Kombinationen, die sich dem Sinn des Gedichtes zu "assoziieren", d. h. anzugleichen versuchen. Der Begriff "Funktion" meint hier, dass Menschen dazu neigen, alles unter dem Gesichtspunkt der Verwertung zu betrachten. Dies schließt aus, dass sie sich über den wahren Wert von Menschen und Dingen klar werden, sie verlieren dann ihr eigentliches Wesen, sind nicht mehr eins, "identisch" mit sich selbst. Gedichte aber können diese "Funktionalisierung" durchbrechen, indem sie den Menschen lehren, über sich selbst nachzu­denken. Sie werden dann auch gebraucht.

2. Ist es wirklich so, dass sich Gedichte nicht verbrauchen wie andere Gebrauchsartikel?
Von Wolfgang Iser stammt die Formulierung, dass der Leser den Text macht.
Das ist vernünftig im Hinblick auf literarische Texte, nicht auf Gebrauchstexte.
Eine klare Gebrauchsanweisung zur Nutzung eines Computers wird jeder Leser gleich lesen, es sei denn, er missversteht sie.Insbesondere Lyrik wird aber nach Auffassung Domins mit ganz unterschiedlichen Assoziationen gelesen, weil der Interpret seine jeweils unterschiedliche Gefühl- und Denkgeschichte in das Gedicht hineinträgt. Weil das so ist, werden Gedichte, deren Sprachgitter offen genug ist, sich nicht verbrauchen.
Aber wie ist es mit Gedichten, die eine überholte Ideologie transportieren?
Hat sich zum Beisiel Schillers „Glocke“ mit ihrer biedermeierlichen Ideologie nicht verbraucht? Hier stößt die weitgehend gültige These von Domin an ihre Grenzen. Ich kann mir eine Neubelebung dieses Gedichts nicht anders vorstellen als durch Parodieen und die sind sicherlich begrenzt variabel.

3. Man kann noch einen weiteren Einwand gegen Domins Gedanken erheben. Sie hat den großen Bereich der Politischen Lyrik wohl nicht im Blick gehabt. Deren Aussage ist nämlich, wenn sie effizient sein soll, nicht vieldeutig, sondern eindeutig. Mehrdeutigkeit ist aber eine Voraussetzung dafür, dass sich Lyrik nicht verbrauchen lässt. Das gilt zum Beispiel nicht für das Gedicht von Louis Fürnberg „ Die Partei“ (1951),

Das Lied der Partei

 
Sie hat uns alles gegeben.
Sonne und Wind und sie geizte nie.
Wo sie war, war das Leben.
Was wir sind, sind wir durch sie.
Sie hat uns niemals verlassen.
Fror auch die Welt, uns war warm.
Uns schützt die Mutter der Massen.
Uns trägt ihr mächtiger Arm.
Die Partei, die Partei, die hat immer Recht!

Und, Genossen, es bleibe dabei;
Denn wer kämpft für das Recht,
Der hat immer recht.
Gegen Lüge und Ausbeuterei.
Wer das Leben beleidigt,
Ist dumm oder schlecht.
Wer die Menschheit verteidigt,
Hat immer recht.
So, aus Leninschem Geist,
Wächst, von Stalin geschweißt,
Die Partei - die Partei - die Partei.
[…] Gekürzt

das sich in seiner Eindimensionalität verbraucht hat. Deshalb gibt es heute auch kaum noch jemanden, der diesem Agitpropgedicht zustimmen kann. Mit dem Absterben der Ideologie wird deutlich, dass dieses Gedicht immer ein Gebrauchsartikel war, aber in einem ganz anderen Sinne als Domin diesen Begriff versteht, nämlich als Gebrauchsartikel, der sich nicht abnutzen lässt.

Ekkehart Mittelberg, September 2013


Anmerkung von EkkehartMittelberg:

Denen, die eventuell meinen, man solle sie mit der kopflastigen Theorie hier verschonen, sei gesagt: Benn, Brecht, Enzensberger, Domin, T.S. Eliot, Ezra Pound u.a. waren alle Praktiker der Lyrik, die es für unverzichtbar hielten, sich des Sinns ihrer Praxis zu vergewissern.

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text


 Dieter Wal (26.09.13)
,magischer Gebrauchsartikel' trifft auch meine Vorstellung vom Gedicht. Carmina im Lateinischen sind Gedichte und Zaubersprüche zugleich. Lyrisches Sprechen und Schreiben hat nach meiner Erfahrung am ehesten diesen Aspekt und wird durch ihn am besten gekennzeichnet. Das kann man als Lyriker am eindrucksvollsten erleben, wenn man lyrisch über Götter schreibt. Die intraspektiv dadurch angestoßenen nachfolgenden Effekte für den Autoren im Lauf der Schreibprozesse und der Zeit danach finde ich beeindruckend. Die dargestellten Mythen beginnen darauf tiefgreifender im Autor zu wirken.

Dein Verständnis von politischer Lyrik teile ich nicht. Das groteske Beispiel dafür ist gut für deine These gewählt, aber spiegelt nicht ansatzweise die Vielfalt und lit. Qualität einer hohen Anzahl politischer Lyrik.
(Kommentar korrigiert am 26.09.2013)

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 26.09.13:
Danke, verzeih mit die fantasielose Antwort. Ich stimme vorbehaltlos zu. Du kennst mich recht gut.
Meine vorbehaltlose Zustimmung gilt aber nicht für das, was du zur politischen Lyrik sagst, Dieter. Die Grundthese Domins ist, dass Lyrik sich wegen ihrer Mehrdeutigkeit nicht verbrauche. Das kann aber für politische Lyrik nur in Ausnahmefällen zutreffen, denn
polische Lyrik will tendenziell den Willen ihrer Leser durch Überredung oder Überzeugung in eine bestimmte Richtung bringen und das erreicht sie nicht mit Mehrdeutigkeit, die verunsichern würde. Politische Lyrik ist eher auf Vereinfachung aus als auf komlexe Darstellung.
Gleichwohl kann sie, gemessen an ihrer Zielsetzung, qualitativ ebenso gut sein wie jede andere Lyrik, fantasievoll und variantenreich. Ein Grenzfall ist die sogenannte Agitproplyrik, die ihrem Wesen nach leugnet, das eine andere Darstellung der Wirklichkeit als die von ihr propagierte überhaupt denkbar wäre. Sie verbraucht sich durch ihre Simplizität am schnellsten. Um das zu zeigen, habe ich das Gedicht von Fürnberg"Die Partei hat immer recht" als totales Gegenbeispiel zu Domins These eingestellt.
(Antwort korrigiert am 26.09.2013)

 Dieter Wal antwortete darauf am 01.10.13:
Danke für deine differenzierte Antwort, lieber Ekkehart.

Wer an POLITISCHER LYRIK interessiert ist, kann sein Buch
[exturl=
http://www.ekkehart-mittelberg.de/InhLyrik.htm]Kommt uns nicht mit Fertigem.
Politische Lyrik aus zwei Jahrhunderten
Gedichte und Materialien ausgewählt und bearbeitet von Ekkehart Mittelberg[/exturl] bestellen. Eigentlich als Schulbuch konzeptioniert bietet es eine Fülle an Material und Betrachtungsweisen. Ekki schrieb auch 1970 einen Fachbuch-Bestseller mit Koautor Klaus Peter unter dem Titel: "Deutsche politische Lyrik 1814 bis 1970 in Vergleichsreihen" im Klettverlag.

 EkkehartMittelberg schrieb daraufhin am 01.10.13:
Vielen Dank für den Hinweis, Dieter.

 loslosch (26.09.13)
ich habe habe domin bisher völlig unterschätzt. sie war zb viersprachig (it., span., engl.), früh politisch engagiert.

44 lange und kurze minuten mit domin, als 81-jährige:  hier.

peinlich, wenn die reporterin das geburtsjahr mit 1912 angibt, statt 1909. antworten auf "was ist lyrik?"

 EkkehartMittelberg äußerte darauf am 26.09.13:
Wie schön, dass du dieses Gespräch mit Domin gepostet hast. Es differenziert und erweitert den von mir eingestellten Essay ungemein. Auch Domin mahnt zum vorsichtigen Umgang mit Adjektiven und Adverbien. Grazie especiale
Ekki
(Antwort korrigiert am 26.09.2013)

 Tintenklexe ergänzte dazu am 30.09.13:
hier an dieser Stelle einfach mal Danke sage euch beiden, fürs Essay und
dieses für mich hochinteressante Gespräch

Liebe Grüße
gabi
ichbinelvis1951 (64)
(26.09.13)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 26.09.13:
Vielen Dank, Klaus. Wie ist es mit deiner Feststellung: "Oft werden lyrische Gedanken auch gebraucht." Es gibt namhafte Lyriker, die es ablehnen, Lyrik als Lebenshilfe zu betrachten, die das Wesen der Kunst darin sehen, dass sie zweckfrei sei. Aber sie machen ihre Rechnung ohne den Leser. Wenn er eines ihrer Gedichte als Lebenshilfe liest, mögen sie ihn zwar für einen Banausen halten, aber sie können es nicht verhindern.
LG
Ekki
LancealostDream (49)
(26.09.13)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 26.09.13:
Grazie, Lance. Wie schön, dass ich dir darin zustimmen kann, dass es auch auf kV "magische "Gebrauchsartikel" gibt, die Schlussverkäufe überdauern. So allgemein geäußert und ohne Nennung von Namen sind vielleicht die schärfsten Kritiker bereit, es stehen zu lassen.
LG
Ekki
Steyk (61)
(26.09.13)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 26.09.13:
Merci, lieber Stefan, auch wenn du dir über die Theorie der Lyrik weniger Gedanken machst, bist du in meinen Augen ein herausragender Lyriker. (Widersprich bitte nicht, ich sage das ex cathedra. ))
In einem Punkte widerspreche ich dir. Ich halte es nicht für Ansichtssache, ob Lyrik ein Gebrauchsartikel ist. Sie ist es in dem Moment, wo sie gelesen wird und es liegt etwas Befreiendes in dieser unpathetischen Aussage von Domin, die sie freilich dadurch einschränkt, dass sich Lyrik (sie meint sicher gute Lyrik) nicht verbraucht.

 autoralexanderschwarz (26.09.13)
Ich verstehe die Stoßrichtung dieses Textes nicht, aber er ist wohl eher eine Antwort auf die Frage "was ist ein literarischer Text?", da aus meiner Sicht kein Kriterium benannt ist, das ausschließlich der Lyrik eigen ist. Das Kriterium der nicht gegebenen Abnutzung (wenn man diese Metapher akzeptiert) erscheint mir zudem ebenfalls nicht schlüssig. Selbst wenn man sich hierbei ausschließlich auf den Inhalt fixiert (ein Blatt Papier nutzt sich ebenso ab wie ein Server oder ein Bildschirm) kann man doch auch hier von einer Abnutzung sprechen, die durch die Zeit gegeben ist. Der Zeitgeist ändert sich ebenso wie die Sprache. So gesehen gehen bspw. bei einem lyrischen Text des Minnesangs definitiv Bedeutungsebenen verloren, wenn ein Leser des 21. Jahrhunderts diesen Text rezipiert, selbst wenn er der Sprache der damaligen Zeit mächtig ist. Damit will ich nicht sagen, dass es keine Metaphern gibt, die durch die Zeit hinweg verständlich bleiben, aber nur in ihrem Bedeutungskern, nicht in ihrer Ambiguität. Ob man das jetzt - wie Nietzsche - als ein "Schwingen" der Metaphern versteht (was ja zumindest die Füllung von Leerstellen durch neue Bedeutungen zulässt) oder aber als Abnutzung wäre wohl ein diskussionswürdiger Punkt.
In diesem Zusammenhang finde ich auch den Begriff des "Dritten" problematisch, weil er suggeriert, dass es einen "objektiven" Leser gibt.

Sehr schön passt m.E. hier der Gedanke Nietzsches.

Denken wir besonders noch an die Bildung der Begriffe. Jedes Wort wird sofort dadurch Begriff, daß es eben nicht für das einmalige ganz und gar individualisierte Urerlebnis, dem es sein Entstehen verdankt, etwa als Erinnerung dienen soll, sondern zugleich für zahllose, mehr oder weniger ähnliche, daß heißt streng genommen niemals gleiche, also auf lauter ungleiche Fälle passen muß. Jeder Begriff entsteht durch Gleichsetzen des Nichtgleichen. So gewiß nie ein Blatt einem andern ganz gleich ist, so gewiß ist der Begriff Blatt durch beliebiges Fallenlassen dieser individuellen Verschiedenheiten, durch ein Vergessen des Unterscheidenden gebildet und erweckt nun die Vorstellung, als ob es in der Natur außer den Blättern etwas gäbe, das "Blatt" wäre, etwa eine Urform, nach der alle Blätter gewebt, gezeichnet, abgezirkelt, gefärbt, gekräuselt, bemalt wären, aber von ungeschickten Händen, so daß kein Exemplar korrekt und zuverlässig als treues Abbild der Urform ausgefallen wäre. Wir nennen einen Menschen "ehrlich". Warum hat er heute so ehrlich gehandelt? fragen wir. Unsere Antwort pflegt zu lauten: seiner Ehrlichkeit wegen. Die Ehrlichkeit! Das heißt wieder: das Blatt ist die Ursache der Blätter. Wir wissen ja gar nichts von einer wesenhaften Qualität, die "die Ehrlichkeit" hieße, wohl aber von zahlreichen individualisierten, somit ungleichen Handlungen, die wir durch Weglassen des Ungleichen gleichsetzen und jetzt als ehrliche Handlungen bezeichnen; zuletzt formulieren wir aus ihnen eine qualitas occulta mit dem Namen: "die Ehrlichkeit". Das Übersehen des Individuellen und Wirklichen gibt uns den Begriff, wie es uns auch die Form gibt, wohingegen die Natur keine Formen und Begriffe, also auch keine Gattungen kennt, sondern nur ein für uns unzugängliches und undefinierbares X. Denn auch unser Gegensatz von Individuum und Gattung ist anthropomorphisch und entstammt nicht dem Wesen der Dinge, wenn wir auch nicht zu sagen wagen, daß er ihm nicht entspricht: das wäre nämlich eine dogmatische Behauptung und als solche ebenso unerweislich wie ihr Gegenteil.
Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen, kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauch einem Volke fest, kanonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, daß sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen, in Betracht kommen.

(Nietzsche: Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne.)

In diesem Sinne stimme ich einer Abnutzung zu, halte aber die Frage, mit welcher der Text überschrieben ist, für nicht beantwortbar.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 26.09.13:
Lieber Alexander, ich danke dir für die Sorgfalt deiner Argumentation. Vielleicht rührt deine Unzufriedenheit daher, dass du von der Poetologie eine begriffliche Trennschärfe erwartest, die sie im Vergleich mit den Naturwissenschaften nicht erbringen kann.
Es ist schon richtig, dass man Domins Kritierium der nicht gegebenen Abnutzung auch auf andere literarische Gattungen übertragen kann, aber es funktioniert dort seltener, und zwar deshalb, weil Domin es mit der Mehrdeutigkeit der Lyrik erklärt. Keine andere literarische Gattung treibt es mit der Polyvalenz so weit. Du könntest jetzt sofort zum Beispiel Kafka für den Roman dagegenhalten, aber bewusste Mehrdeutigkeit ist in anderen Gattungen doch eher die Ausnahme.

Dein Beispiel des Minnesangs für die Abnutzung durch die Zeit hat mich im ersten Moment des Lesens total überzeugt. Inzwischen sind mir Beispiele eingefallen, die das Gegenteil bezeugen, nicht nur im Hinblick auf den Bedeutungskern der Worte, sondern auch auf deren Ambiguität. Das hängt damit zusammen, dass der Minnesang schon für zeitgenössische Lyriker eine hoch stilisierte Lyrik war, deren begriffliche Ambiguität zum Beispiel Neidhart von Reuenthal parodierend in Frage gestellt hat. Und wenn du noch einmal etliche Jahrhunderte zurück gehst bis zur römischen Liebeslyrik, wirst du feststellen, dass diese in guter Übersetzung heutigen Lesern frisch und unverbraucht erscheint.
Nimmst du dagegen die uns zeitlich näher liegende Lyrik des Rokoko, wird diese vermutlich in deinem Sinne abgenutzt wirken, weil sie ebenso wie der Minnesangi n hohem Maße stilisiert ist. Also Abnutzung von Gedichten lässt sich nicht leugnen, aber sie ist nicht so sehr ein Frage der Länge zurück liegender Zeit als spezieller Stilisierung, die heute als unmodern erscheint.

Naja und Nietzsche: Blendend argumentiert. Aber er zieht der Poesie eine Maske über, die philosophische Sehschlitze für die Wahrheit lässt. Poesie aber hat es ihrem Wesen nach mehr mit Illusionen zu tun. Auch da gibt es freilich wieder Ausnahmen.
Du merkst, wir reden von Dichtung, die sich in ihrer Beweglichkeit nicht einfangen lassen will.
Dennoch ist für mich die Frage "Was ist Lyrik" graduell beantwortbar. Wäre sie es nicht, könnten wir uns über Lyrik intersubjektiv gar nicht verständigen.
LG
Ekki

 autoralexanderschwarz meinte dazu am 27.09.13:
Lieber Ekkehart,

vielen Dank für deine umfangreiche Antwort. Ich habe Nietzsche da auch aus dem Zusammenhang gerissen, er redet über Sprache, die ja - egal welchen Lyrikbegriff man anlegt - die kleinere Einheit ist, aus der sich Lyrik zusammensetzt. Ich musste als ich deinen Kommentar las an Heym denken, der in einigen Gedichten den Begriff "Tram" verwendet. Natürlich kann man jetzt als heutiger Leser das Bedeutungsspektrum auf "Straßenbahn" übertragen, aber es ist etwas anderes, weil für uns - die wir gemeinhin keine Kutschen mehr kennen - das Wort eine andere Bedeutung hat. Der Aspekt des Neuen und vielleicht auch Bedrohlichen den Heym hier hineinlegt können wir nicht mehr fühlen, lediglich "nachfühlen". (Das gilt übrigens - du sagst es - ähnlich für Kafka oder Musil.) Wir können den Begriff dahingehend erweitern, indem wir diese Komponente über unser historisches oder biographisches Wissen ergänzen, aber es ist eine andere Wahrnehmung des Begriffs. Wir können uns solchen Begriffen nur annähern, aber sie haben Bedeutungsebenen verloren. Wenn Gryphius uns auffordert zu "leben", werden wir diesen Begriff naturgemäß anders füllen, als es ein Zeitgenosse (natürlich auch subjektiv) getan hätte. Wenn Stramm über "die Schlacht bei Saarburg" schreibt, Marinetti über das "Auto" oder Brecht über "sozialistisches Theater" (du merkst, dass ich das spätestens hier sogar über die - fiktionale - Literatur hinaus erweitere), dann sind dies für uns andere Begriffe geworden, weil sie Bedeutungsebenen verloren haben. Mit Nietzsche "verblasste Metaphern".
Ich will damit nicht sagen, dass man ein Gedicht nicht durch die Zeit hinweg fühlen kann (sonst hätte ich nicht diese Liebe zu solchen Texten), ich sage nur, dass sich Wörter - und damit alles, was aus ihnen besteht - verändern. "Abnutzung" ist auch ein sehr negativer Begriff, den ich so nicht gewählt hätte. Vielleicht können wir uns auf "Veränderung" einigen. Und der Lyrikbegriff:
Mein Satz ist da immer, dass es keine festen Definitionen geben kann, da die künstlerische Freiheit es prinzipiell erlaubt jede Regel
(auf der auch immer eine Definition fußt) zu brechen.

 irakulani (26.09.13)
Ich finde die von dir angeregte Diskussion zum Thema "Was ist Lyrik" hochinteressant, lieber Ekki.

Ein Gebrauchsgegenstand, - das hat mich erst einmal zusammenzucken lassen. Aber bei näherer Betrachtung wird mir der Begriff immer sympathischer. Ein Gedicht, das gebraucht wird, immer wieder und in verschiedenster Weise, ohne dass es seinen Zauber, seine Magie verliert, das scheint mir ein gutes Ziel zu sein. Ein Diamant wird immer ein Diamant bleiben, auch wenn er jedem Betrachter in anderen Farben schillert.

Wichtig ist aber auch, dass du die Grenzen dessen, was man (Dichter/Dichterin) sich wünscht, aufgezeigt hast. Natürlich ibt es themenbezogene Lyrik, die nur im zeitlichen Zusammenhang, den zeitlichen Umständen betrachtet und vertsanden werden kann.

Schön finde ich, dass du dies am Beispiel von Hilde Domin aufzeigst (denn sicher haben sich zu diesem Thema auch Männer ihre Gedanken gemacht).

@loslosch: Danke auch an dich für den interessanten Link dazu!

L.G.
Ira

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 26.09.13:
Es tut mir immer wieder gut, liebe Ira, dass du meine Intention ganz genau verstehst. Es geht mir dabei gar nicht so sehr um die Zustimmung. Das Verstandenwerden ist mir deshalb so wichtig, weil es mir zeigt, dass ich mich zu einem komplizierten Thema verständlich ausgedrückt habe.
Vielen Dank
LG
Ekki

 susidie (26.09.13)
Ekki, bitte verzeih mir, wenn ich es mir grad einfach mache. Ja einfach gut, einfach richtig, einfach wahr Lieben Gruß von Su :)

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 26.09.13:
Vielen Dank, Susi, ich denke auch, dass der Beitrag von Domin gut, richtig und wahr ist.
Liebe Grüße
Ekki

 TrekanBelluvitsh (27.09.13)
Nun, das, was Hilde Domin da schreibt, ist jedoch für alle Literaturformen gültig. Natürlich überrascht es mich nicht, dass das zum Thema Lyrik gesagt wurde, denn - auch und gerade hier auf KV - Lyriker halten und hielten sich schon immer für die besseren Menschen und vor allem für die viel besseren Literaten. Gerade in der heutigen Zeit möchte ich das stark bezweifeln, weil nicht wenige Lyriker verlernt haben, eine Geschichte zu erzählen. Ganz nebenbei: Der Ursprung der Lyrik ist der Versuch (einer nicht schriftlichen Gesellschaft), feste Formen zu kreieren, damit man sich um diese keine Gedanken machen muss und sich auf die Geschichte konzentrieren kann, die weitergegeben werden sollte. Darum entstanden auch strenge Formen wie z.B. die  Kenningar.

Darum sehe ich in diesem Essay nicht nur eine Erklärung, was Lyrik ist, sondern auch den krampfhaften Versuch, die herausragende Stellung der Lyrik über allen anderen Litaraturformen zu postulieren. Diese gewollte Kurzsichtigkeit ist ein ziemliches Armutszeugnis. Erinnert mich ein wenig an Elke Heidenreich, die Fantasyliteratur verteufelt, aber geradezu ins Schwärmen kommt, wenn es um die Oper geht und auch keine Probleme mit dem alten Germanentümeler und Protofaschisten Wagner hat.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 27.09.13:
Danke für deinen Kommentar, Trekan, der mich diesmal nicht überzeugt. "auch und gerade hier auf KV - Lyriker halten und hielten sich schon immer für die besseren Menschen und vor allem für die viel besseren Literaten."
Das ist ein Vorurteil, und ich frage mich, wie es entstehen kann. Ein gutes Gedicht zu schreiben ist einfacher als einen guten Roman oder ein gutes Drama. Aus diesem schlichten Grunde überwiegt Lyrik quantitativ auf allen literarischen Foren und deswegen wird sie auch mehr diskutiert. Aber daraus zu folgern, dass Lyriker sich für die besseren Menschen und Literaten halten, ist nicht belegbar. Ich glaube eher, dass es den meisten Lyrikern so geht, dass sie sofort und gleich ein gutes Gedicht für einen guten Roman hingeben würden, den zu schreiben sie sich nicht in der Lage sehen.
Ich kann auch nicht erkennen, dass Hilde Domin "die herausragende Stellung der Lyrik über allen anderen Literaturformen" postuliert.
Auch dass ihre Gedanken für alle anderen Literaturformen gültig seien, trifft nur bei oberflächlicher Betrachtung zu (siehe meine Antwort an Alexander Schwarz.)
GabrielSiegmann (35)
(27.09.13)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 27.09.13:
Vielen Dank. Abgesehen davon, dass ein perpetuum mobile ein Konstrukt ist, halte auch ich Domins Vergleich damit nicht für geglückt. Denn wenn die Bewegung eines Gedichts nach Jahrhunderten wieder virulent wird, war sie es Jahrhunderte nicht, also war es kein perpetuum mobile, selbst dann nicht, wenn man den Begriff akzeptiert.
Nimbus (38)
(27.09.13)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 27.09.13:
Heike, wenn ich dich richtig verstanden habe, widersprichst du Domins These , dass ein Gedicht ein Gebrauchsartikel sei, nicht grundsätzlich. Aber du fragst danach, wer es wozu gebraucht und bist argwöhnisch, dass es missbraucht wird. Deshalb bringst du die Verantwortung der Verfasser und Leser von Gedichten ins Spiel. Soweit ich andere Äußerungen von Domin kenne, ist diese Art des Weiterdenkens durchaus in ihrem Sinne, also keine Kritik an ihr, falls das jemand so verstanden haben sollte. Domin müsste sich den Schuh auch nicht anziehen, weil ihre Intention etwas Geringerem gilt, das auch ohne deine berechtigte erweiternde Frage schon schwierig genug ist. Sie versucht zunächst nur herauszufinden, was ein Gedicht ist, nicht mehr und nicht weniger.
Ob ihr das nun gelungen ist oder nicht, deine Frage nach der Ethik des Umgangs mit Worten, also auch mit Gedichten, ist ebenso wichtig und unverzichtbar.
Merci
Ekki
chichi† (80)
(27.09.13)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 27.09.13:
Vielen Dank, Gerda. Um ein Gedicht handelt es sich bei Domins Essay ja nicht?
LG
Ekki
chichi† (80) meinte dazu am 27.09.13:
Diese Antwort ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Peer (27.09.13)
So differenziert habe ich das Thema noch nicht betrachtet. Vielleicht könntest du mir noch diesen Satz erschließen:
werden Gedichte, deren Sprachgitter offen genug ist, sich nicht verbrauchen.
.
LG Peer

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 27.09.13:
Danke für die Frage, Peer.
Wenn ein Gedicht bewusst eine Leerstelle lässt, die der Leser ergänzen soll, bezeichnet man das fachsprachlich als Valenz.
Es gibt Gedichte mit mehreren solcher Valenzen, die unterschiedliche Füllungen durch unterschiedliche Leser zulassen. Dafür ist der Ausdruck Sprachgitter ein Bild.
Solche Gedichte mit offenem Sprachgitter werden sich wegen der Unterschiedlichkeit der Füllungen nicht verbrauchen.
LG
Ekki
Fabi (50)
(01.10.13)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 01.10.13:
Merci, Fabi. Mir gefällt dein Vergleich mit dem zu schärfenden Messer.
Liebe Grüße
Ekki
MarieM (55)
(13.10.13)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 13.10.13:
Gracie especiale, Marie. So, wie du es schreibst, fühle und denke auch ich.
Beschwingte Sonntagsgrüße zurück
Ekki
MarieM (55) meinte dazu am 13.10.13:
Diese Antwort ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 13.10.13:
Marie, ich denke, dass es schon einige moderne Lyrikerinnen gab/gibt, die ihr mit dem Reichtum ihres Wortschatzes nicht nachstehen, Nelly Sachs und Else Lasker-Schüler zum Beispiel. Aber ich keinen keine andere, die sich gleichermaßen in der Praxis und in der Theorie der Lyrik so hervorragend geäußert hat.

 harzgebirgler (10.11.17)
worauf es ankommt sagte einst ein dichter
und gegen den sind alle kleine lichter
weil sie sein werk total in schatten stellt
doch welt auch künftig weitreichend erhellt:

"der Vater aber liebt,
Der über allen waltet,
Am meisten, daß gepfleget werde
Der feste Buchstab, und Bestehendes gut
Gedeutet. Dem folgt deutscher Gesang."
(Hölderlin, Patmos)

herzliche grüße
henning

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 10.11.17:
Grazie, Henning, die Worte Hölderlings gefallen mir sehr.
Herzliche Grüße
Ekki
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram