Frühlingserwachen

Kurzprosa zum Thema Begegnung

von  Irma

Die Sonne schien. Endlich wurde es wieder etwas wärmer. Der vergangene Winter war zwar recht mild gewesen, trotzdem sind einige alte Bekannte, die sich spät abends im frostigen Stadtpark schlafen legten, am nächsten Morgen nicht mehr aufgestanden. Vielleicht war ja jetzt die eine oder andere Parkbank frei?

Leicht torkelnd, aber hoffnungsfroh machte ich mich auf meinen Weg durch das frische Grün, dazwischen immer wieder einen kräftigen Schluck vom guten Roten nehmend. Wie in jedem Jahr spekulierte ich zudem auf die parallel zu den Temperaturen ansteigende Spendierfreudigkeit der Leute, die mir - so kurz vor Ostern - bereitwillig das ein oder andere Geldstück in meinen Strohhut legten.

Doch wie sollte es anders sein? Natürlich war meine Bank bereits besetzt. Belagert von einer Horde Fremder. Die ganze Parkwiese war übersät mit Farbtupfern. Soweit das Auge schauen konnte, blühten bunte Kopftücher auf. Sie schossen wie die Krokusse aus dem Boden. Was wollten die alle hier in unserem Land? Ihren Traum von einer besseren Welt erfüllen? Gesellschaft Multicolor - eine wahre Zumutung war das! Schaut doch mich an, dachte ich, dann seht ihr, wo man hier am Ende landet: Auf dem Arsch.

Genau das wollte ich aber jetzt. Ich musste mich setzen. Mein Rucksack drückte schwer auf den Schultern und meine müden alten Knochen schmerzten. Eine der verhüllten Frauen rückte ein Stück zur Seite und klopfte lachend auf den freien Platz neben sich. Ich bemühte ich mich, einen weiten Bogen um die Bank zu machen, was mir aber nicht mehr so recht gelingen wollte. Stolpernd kam ich zu ihren Füßen zu sitzen - mitten auf dem Weg - und wickelte wortlos mein letztes halbes Salami-Brot aus dem zerknüllten Zeitungspapier von gestern. Oha, Schweinefleisch, dachte ich. Das dürft IHR ja sowieso nicht essen!

Irgendein gieriger Köter kam angerannt und wollte mir mein Brot aus der Hand schnappen. Er rannte um mich herum und bellte mich an. Aber nein, seit mein Hasso im letzten Jahr gestorben war, wollte ich nichts mehr teilen. Nicht einmal mit einem Tier. „Halt die Fresse und verschwinde!“, schnauzte ich. „Du hast hier nichts zu suchen!“ Ich hatte ordentlich zu kauen an dem harten Kanten. Den letzten Rest wollte ich wieder ins Papier wickeln für später.

„VIELE TOTE IN MOSCHEE BEI ALEPPO“ sprang mich plötzlich der Titel der Berliner Morgenpost an, und ich griff erneut zu meinem Dornfelder. „Christi Blut, für dich vergossen!“, lallte ich und prostete mir lautstark selber zu, während ich das bunte Treiben um mich herum mit gehörigem Abstand beobachtete und dem Klang der fremden Sprache lauschte.

Eine der Frauen war schwanger. Ihr dicker Babybauch wölbte sich unter dem weiten Umhang. Sie sprach zärtlich mit einem Mädchen und strich ihr liebkosend über die Wange. Wie alt die Kleine wohl sein mochte? Vielleicht so sieben, acht Jahre? Ihr zartgrünes Kopftuch wehte leicht im Frühlingswind. Irgendwie erinnerte sie mich ein wenig an mich selbst, damals auf unserem Hof in Breslau, mit meinem Kopftuch von der Großmutter, in das ich so gerne meine Puppe wickelte.

Für einen kurzen Moment keimte - die Bilder dieser unbeschwerten Kinderzeit vor Augen - ein unbestimmtes Glücksgefühl in mir auf. Fast meinte ich sogar die sanfte Stimme meiner Mutter zu hören, wie sie nach mir, ihrem „Marjellchen“, rief. Ich zuckte unwillkürlich zusammen. Der Rest des roten Weins ergoss sich über meinen schmutzigen Parka und versickerte im Sand. „Mein Gott, was hast DU dir hier wieder geleistet?“, schimpfte ich und spuckte vor mir auf den Boden. „Nicht einmal solch kurze Freuden sind mir noch vergönnt!“

Missmutig wühlte ich in meinen Manteltaschen nach den allerletzten Münzen. Okay, zusammen mit den gesammelten Pfandflaschen müsste es knapp reichen. Also raffte ich mich nochmals mühsam auf und torkelte beim Aldi um die Ecke zum Eingang. Um nicht völlig haltlos durch das Labyrinth der Gänge zu stolpern, brauchte ich etwas zum Festhalten. Und ich hatte Glück! Irgendwer reichte mir seinen Einkaufswagen. Nein, nicht mit einem Chip darin - sondern mit einem Euro! Ich griff mir meine Flasche aus dem Regal und, für die restlichen paar Cent, noch ein Alibi-Brötchen.

Als ich aus dem Laden trat, stand sie unverhofft vor mir. Ihr hellgrünes Kopftuch leuchtete im Sonnenlicht. Die Kleine musste mir unbemerkt gefolgt sein. „Wie heißt du?“, fragte ich. „Ayasha!“, erwiderte sie. „Woher kommst du?“ „Syrien!“, warf sie mir munter zu, und sah mich groß an mit ihren wissenden Kinderaugen, die vermutlich schon weit mehr gesehen hatten, als ihnen zuträglich war. Aus irgendeiner inneren Regung heraus reichte ich ihr die Brötchentüte und, leicht zögernd, sogar den Einkaufs-Euro aus dem Wagen.

Ich dachte an meine eigene Flucht und daran, was Gott meiner Mutter in ihrem Leben zugemutet hatte. Wir mussten damals alles in unserer Heimat zurücklassen. Haus und Hof, die Tiere und sogar meine Großeltern. Sie waren zu alt und zu schwach für die Flucht. Mein großer Bruder ist auch nicht mit uns gezogen, sondern zuvor in den Krieg, kam nicht mehr heim zum Vater. Wie so viele junge Männer, die ihr unschuldiges Blut auf den Schlachtfeldern vergossen.

„Er ist jetzt bei unser aller Vater. Er ist gefallen, aber auferstanden“, waren die tröstenden Worte meiner Mutter. Doch mein Vater konnte fortan keinen Frieden mehr finden. Er wollte nicht mit uns reisen, sondern hat gewartet, wollte bis zum Ende warten auf seinen zweiten, noch immer vermissten Sohn. Wir haben weder ihn, noch meinen Bruder oder meine Großeltern jemals wiedergesehen.

Meine Mutter Maria ist im Oktober 1944 ganz alleine mit mir aus Oberschlesien geflohen. Hochschwanger. Wir hatten nicht einmal mehr einen Pferdekarren, nur einen kleinen Handwagen, dessen Räder irgendwann im tiefen Schnee steckenblieben und zerbrachen. Der Teufel war uns immer dicht auf den Fersen, und wen er einholte, der ging wahrlich durch die Hölle. Das Baby kam irgendwo unterwegs zur Welt. Meine Mutter hatte nichts als ein paar Lumpen, in die sie das Neugeborene bei dieser erbärmlichen Kälte wickeln konnte. Sie hat es den ganzen Weg an ihre Brust gepresst getragen.

Als wir nach langen Wochen endlich in der neuen Heimat im Harz ankamen, hielt sie nur noch mich an der Hand. Uns war kaum Zeit geblieben, uns von meinen kleinen Bruder zu verabschieden. Wir konnten ihm, nachdem er drei Tage hoch fiebernd in den Armen meiner Mutter gelegen hatte, gerade noch ein winziges Holzkreuz auf den eisigen Grabhügel setzen.

Das kleine Mädchen sprang munter vor mir her. Sie schien so fröhlich, so unbeschwert. Langsamen Fußes folgte ich ihr zurück in den Park. Meine Erinnerungen waren schneller als ich und holten mich immer wieder ein. Auch wir waren nicht willkommen, als wir hier ankamen. Wir wurden geduldet, aber wir blieben ‚die Flüchtlinge‘. Immerhin haben wir keine fremde Sprache gesprochen. Und wir haben keinen fremden Gott in dieses Land gebracht.

Genau betrachtet habe ich überhaupt keinen Gott mitgebracht. Er ist irgendwo auf der Strecke geblieben zwischen Oberschlesien und dem kleinen niedersächsischen Ort Othfresen - zusammen mit meinem kleinen Bruder. Vor wem oder vor was sollte ich mich noch fürchten? Tod und Teufel konnten mir keine Angst mehr einjagen. Mein Mann war schon lange tot und ich auf mich allein gestellt. Mein Sohn lebte weit weg in Amerika, er kümmerte sich einen Scheißdreck um mich, ob ich hier verreckte oder nicht. Er war mir ebenso fern wie Gott.

Was zählten schon meine Zweifel, meine Verzweiflung? Wenn ich Mut brauchte, flüchtete ich mich in den Alkohol. Der Teufel war mir längst zum treuesten Wegbegleiter geworden. Je mehr ich mich zu dröhnte, desto weniger musste ich die Stimme dieses unbarmherzigen Gottes hören. IHR habt es eigentlich gut, dachte ich, IHR habt keinen Bruder Jesus, der euretwegen leiden und sterben musste. IHR habt keinen Heiligen Geist, der sich an Pfingsten über euch ergießt und euch jeden Tag benebelt.

Mit dem Ärmel meines Parkas rieb ich über die Flasche Gin, die ich in Händen hielt. Meine Finger glitten vom Kopf den Hals hinab über den gewölbten Bauch. Der Dschinn rief mich, und ich ließ ihn widerstandslos frei. War die Flasche geleert, bot sie genügend Platz, um all meine Erinnerungen hinter dem Korken für eine kurze Weile wegzusperren.

Am Ostersonntag wachte ich schon früh am Morgen auf meiner Parkbank auf. Das Läuten der Kirchenglocken hatte mich geweckt. Die Frühlingssonne schien mir warm ins Gesicht, aber ich hatte Schüttelfrost. Mein Kopf dröhnte unaufhörlich und mir war kotzübel. Plötzlich bemerkte ich, dass meine Hose klitschnass war. Alles stank nach kaltem Urin. Ich wollte aufstehen, doch ich wankte und fiel. Nichts ging mehr. Totaler Absturz. Da lag ich also am Boden, war wieder einmal ganz unten angekommen.

Noch einmal  musste ich an meine Mutter denken, die trotz aller Widrigkeiten ihr Kreuz getragen hatte, immer wieder verzweifelt nach ihrem Standpunkt suchte und sich, neuen Mut schöpfend, wie ein Stehaufmännchen aus ihrem Leid aufrichtete, bis sie irgendwann im Herbst vor fast zwanzig Jahren selig einschlief. In der Hoffnung, mich zu retten, hatte meine Mutter alles auf sich genommen. „Zum Teufel mit dir, Jesus!“, stammelte ich. "Aber nimm mich gefälligst mit!"

Ich brach zusammen und musste mich übergeben. Ich übergab mich. Ich gab mich und alle Verantwortung in Gottes Hände. Langsam spürte ich, wie ich ruhiger wurde, wie sich der Krieg in mir legte und mich ein innerer Friede erfüllte. Da war sie wieder, die Kleine mit dem grünen Kopftuch. Sie stand vor mir und blickte auf mich herab, auf mich und auf die vielen Flaschen um mich herum. Ich schaute benommen in ihre haselnussbraunen Augen und hatte plötzlich das Gefühl, meinen kleinen Bruder in diesem Spiegel zu sehen. Da löste sie das Tuch von ihrem Kopf, und ihr Haar fiel sogleich in weichen schwarzen Locken über ihre schmalen Schultern. Stillschweigend legte sie das Stück Stoff in meinen Hut, der neben mir auf dem Boden stand.

Ich wollte es ihr noch nachtragen, aber sie war schon um die nächste Ecke verschwunden, bevor ich wieder auf die Beine kam. In den folgenden Wochen habe ich sie gesucht. Mein Weg führte mich kilometerweit durch die steinigen Straßen der Stadt - ohne Erfolg. Aber seit diesem Tag trage ich ihr Tuch. Ganz luftig-leicht liegt es auf meinen Schultern.

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Kommentare zu diesem Text


 tulpenrot (20.10.17)
Eine gut und sorgfältig gearbeitete, spannende und lesenswerte Geschichte!
LG
Angelika

 AZU20 meinte dazu am 20.10.17:
Da schließe ich mich Angelika gerne an. LG

 Irma antwortete darauf am 20.10.17:
@tulpenrot: Dankeschön, liebe Angelika. Es handelt sich hierbei um einen Wettbewerbsbeitrag (Projekt der Katholischen Kirche zum Reformationsjahr 2017) zum Thema "Worte aus der Zumutung Gottes". ("Hier stehe ich!" Standpunkte, die bewegen).

Ich freue mich wirklich sehr darüber, dass mein Text bei dir 'angekommen' ist!. LG Irma

@AZU20: Auch ein liebes Dankeschön an dich, Armin! LG Irma

Antwort geändert am 20.10.2017 um 15:08 Uhr

 EkkehartMittelberg (20.10.17)
Ich weiß nicht, ob die beiden Fluchtbewegungen vergleichbar sind, aber dein Text berührt mich dennoch, insbesonderen die wunderschöne Metapher von dem luftig-leichten Tuch.
Liebe Grüße
Ekki

 Dieter_Rotmund schrieb daraufhin am 20.10.17:
Ordentlich geschrieben, aber furchtbar sentimentaler Schluss, der weder authentisch ist noch irgendwie nachvollziehbar wirkt.
Finde ich.

 Irma äußerte darauf am 20.10.17:
@Ekki: Lieber Ekki, nein, die beiden Fluchtbewegungen sind ganz sicher nicht gleichzusetzen. Jede Flucht ist mit ganz individuellen Schicksalen verbunden. Aber mir geht es um die Verbindungen, die dadurch in den Gedanken ausgelöst werden. Von meiner Oma weiß ich, dass sie solche Bezüge hergestellt hat. Und ich freue mich, wenn du sie nachfühlen konntest.

Lieben Gruß und Dank für die Empfehlung, Irma

@Dieter: Ich danke dir für deine Einschätzung, Dieter. Eigentlich habe ich versucht, das Ende offen zu gestalten. Es bleibt offen, wohin das kleine Mädchen verschwunden ist (vielleicht längst abgeschoben?). Und auch auf die Zukunft der Erzählerin wird nicht weiter eingegangen. Für mich scheint wahrscheinlich, dass sie - auch wenn sie kurzzeitig wieder auf die Beine kam - doch weiterhin auf der Straße und irgendwann auf der Strecke bleiben wird. Lediglich in ihrem Kopf wurde durch diese kurze Begegnung etwas in Gang gesetzt.

Mir ging es hier um zwei Menschen, die eigentlich nichts zu geben haben und sich doch für einen kurzen Moment gegenseitig etwas Bedeutsames geben. Etwas Gewichtiges, ganz ohne Gewicht. Ein Einkaufs-Euro und ein leichtes Tuch werden getauscht, neben ein paar einfühlsamen Blicken. Und das hilft für den Augenblick, das schwere Schicksal, den schweren Rucksack, unser persönliches Kreuz, das wir alle zu tragen haben, etwas leichter zu machen. Nicht mehr und nicht weniger.

LG und Dank, Irma

Antwort geändert am 20.10.2017 um 12:42 Uhr
LottaManguetti (59)
(20.10.17)
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 Irma ergänzte dazu am 24.10.17:
Ja, liebe Lotta, mit deinen Streichvorschlägen hast du vollkommen Recht. Sobald ich etwas Zeit habe, werde ich den Text nochmal durchgehen hinsichtlich möglicher Kürzungen.

Bei den Söhnen ist es etwas schwierig, denn es geht ja um zwei ältere Brüder der Erzählerin. Der eine ist im Krieg gefallen, der Jüngere blieb vermisst, weshalb ihn der Vater nicht aufgeben konnte oder wollte. Ich überlege aber auch hier nochmal, wie man das besser formulieren könnte.

Vielen lieben Dank jedenfalls für die konstruktive Kritik und natürlich die zwei Sternchen. Ich drück dich zurück, Irma
matwildast (37)
(18.12.17)
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 Irma meinte dazu am 11.01.18:
Vielen lieben Dank für diesen schönen Kommentar! Auch wenn ich ihn erst jetzt beantworte, ich habe mich sehr darüber gefreut. Ja, ich habe tatsächlich ein wenig aus den Erzählungen meiner (inzwischen verstorbenen) Großmutter von ihrer Flucht aus Oberschlesien eingebaut.

Ich selber hatte eine weibliche Obdachlose vor Augen, allein wegen ihrer starken Identifikation mit dem kleinen Mädchen. Aber es ist gut, wenn das für den Leser nicht so festgelegt ist.

Das mit der Unbestimmtheit ist ein guter Tipp. Ich werde den Text auf jeden Fall irgendwann noch einmal überarbeiten!

Ganz lieben Dank und Gruß, Irma

Antwort geändert am 11.01.2018 um 11:01 Uhr
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