Aus dem Leben einer Einsiedlerin

Skizze zum Thema Abgrenzung

von  blauefrau

Wenn es klingelt, mache ich nicht immer auf. Ich will nicht gestört werden.
An Tagen, an denen ich möchte, dass jemand klingelt, klingelt niemand. Ich wäre dann bereit, jemanden in meine Wohnung zu lassen und seine oder ihre Nähe zu ertragen. Ich hoffe dann, meine Grenzen zu bewahren, bin aber zuversichtlich, mich einzulassen.
Nachbarn empfange ich fast nie; die stören nur. Dann schon eher den Elektriker, den Anstreicher, den Stromableser. Zu denen habe ich ein unbekanntes Verhältnis, und nach einer Wortabfolge gehen diese Menschen,  und ich sehe sie nie wieder.
Neulich, während  einer Choraufführung, sah ich einen Mann im Publikum, zweite Reihe links, der mir bekannt vorkam.
Mir fiel ein, dass es der Mann  war, der mir einmal den Strom abstellen wollte. Ich vergesse keine Gesichter, möchte diese Leute aber nie wiedersehen.
Ich habe das alleinige Recht auf meine Anwesenheit. Ich bin niemand, bei dem Leute andocken können. Und schon gar keine Insel. Auch später nicht.
Am schlimmsten finde ich die Vorstellung, dass Menschen zu meinem Grab kommen und gehen können, wann sie wollen.  Ich beobachte das nur ungern: sie kommen, entfernen Laub von den Grabparzellen, legen Blumenschmuck ab, zünden Kerzen an, sprechen Gebete, murmeln vor sich hin. Wer erlaubt ihnen, eine Verfügungsgewalt über mich oder andere zu erlangen?
Manche Gräber sollte man sperren, vor allem meins. Ich möchte in mir vergraben sein, ganz bei mir. Die anderen mit ihren Schaufeln und Harken stören da nur. Und dann die Gießkannen. Ich will keinen feuchten Sarg, keine Tränen.
Trockenes Laub, ein paar Würmer, das soll meine Umgebung sein.
Was wollt ihr hier?

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Kommentare zu diesem Text


 LotharAtzert (31.01.20)
Glaubst du denn, daß du dich nach deinem physischen Tod noch am oder im Grab aufhalten wirst? Was erwartest du auf dem "Friedhof", außer nächtlicher Ruhe?
Nun ja, für die meisten ist der Körper sowieso Sarg vor dem Sarg.

Wünsche langes Leben
Lothar

 blauefrau meinte dazu am 31.01.20:
Mein lyrisches Ich denkt angesichts der Friedhofsmisere über ihr Dasein am Grab nach.

 AchterZwerg (31.01.20)
Wahrscheinlich ein ironisch gefärbter Text, den ich gleichwohl gut nachempfinden kann ...

ja, ja
der8.

 princess (31.01.20)
Liebe blauefrau,

eine Skizze, die sich angenehm liest. Fast im Plauderton geschrieben. Und gleichzeitig präzisierst du hier eine innere Haltung, die ich noch nie so konsequent auf den Punkt gebracht las wie in diesem einen Satz:
Ich habe das alleinige Recht auf meine Anwesenheit
Klasse!

Liebe Grüße
Hobbyeinsiedlerin princess

 FRP (01.02.20)
Der beste Text seit langem hier. Den unterschreibe ich, - auch inhaltlich. Es geht gar nicht um die Besucher meines Grabes, aber um meine ablehnend antizipierte Haltung zu denen

 BeBa (01.02.20)
Ein toller Text! Ich mag diese Schreibe, ist genau mein Ding!

Eines mal am Rande:
Mich wundert hier auf KV immer wieder, wie viele Leser annehmen, der eingestellte Text sei autobiografisch. Passiert mir auch regelmäßig bei meinen Texten.

LG
BeBa

 Judas antwortete darauf am 01.02.20:
Der Text ist fantastisch.

Das LI = Autor ist allerdings echt ne Plage, vor allem wenn der Text in ich-Perspektive geschrieben ist.

 TassoTuwas (01.02.20)
Das ist die Frage, wie viel Freiraum haben wir noch für ein selbst bestimmtes Leben? Wir kommen ohne gefragt zu werden auf die Welt und werden sie in den allermeisten Fällen ohne Mitbestimmung verlassen. Das lässt sich nicht ändern. Dazwischen kannst du zwar die Tür auf machen oder zu lassen, aber dem Steuerbescheid entgehst du nicht und auch nicht der Kontrolle, ob du die Feuermelder installiert hast und natürlich entsorgst du den Teebeutel in drei verschiedene Tonnen.
Immer mehr Gesetze, Verordnungen, Vorschriften und Erlasse normieren den Alltag. Natürlich nur von Menschen ausgedacht, die die sich um dich sorgen.
Eines ist gewiss, die Luft wird dünner!
LG TT

 blauefrau schrieb daraufhin am 05.02.20:
Danke für eure interessanten Komms.

Liebe Grüße
blauefrau
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