Orangenblüten im Haar

Prosagedicht zum Thema Sehnsucht

von  AvaLiam

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Ich
am steinernen Tor,
dem Meer gegenüber
und hinter mir fällt
das letzte Blatt.

Verhalten streicht die linke Hand
über die Mauer, über das Tor
und es bröckelt.

Tränen fallen
mit dem Rieseln der Zeit
auf einen Boden,
der für mich keiner mehr ist,
der sich mir unter den Füßen entzieht
der sich auftut und jede Zukunft verschlingt,
der mich stürzt ins Bodenlose,
ins Dunkel,
in Melancholie.

Erinnerungen flammen auf
für kurze Bilder
zurück
als alles noch ALLES war
und nichts NICHTS,
als am Morgen die ersten Strahlen
durchs Blattwerk schienen,
durchs Immergrün,
auf Orangenblüten
und sich bündelten
in den schönsten Früchten,
wie sie leuchten
im Klangbild untergehender Sonne
und süß auf den Lippen
kosten

kosten
wie ein ewiges Versprechen,
das man pflückt
wenn es reif ist
und schon durch die Schale
die Sinne verzückt,
um in seiner ganzen Wahr- und Wahrhaftigkeit
zu rinnen die Kehle hinunter,
aus der kein Ton mehr schallt,
zufrieden macht und
nicht zuviel 

nicht zuviel 
verspricht
und hält
am Morgen,
wenn die ersten Strahlen
durchs Blattwerk scheinen,
durchs Immergrün,
durchs Tor, durchs steinerne,
aufs Meer hinaus
wo es in den letzten Worten des Tages
glühend ertrinkt
und was war,
ist wahr
und ist
nicht mehr 

nicht mehr 
als ein Immergrün
ohne Blatt
hinter dem steinernen Tor,
der Mauer,
die, von der letzten Fingerkuppe gestreift,
hinter mir liegen
bleibt 

bleibt
ohne Licht,
bis zum nächsten Morgen
und die Sonne zeigt alles
was bleibt,
denn da ist kein Grün,
sind keine Orangen,
nur die Zeit rieselt
auf staubigen Boden.

Mein Blick
geht aufs Meer hinaus,
weg vom Dahinter
hinter dem Tor
- steinern -

und von irgendwoher
wehen ins Haar mir Orangenblüten.



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Kommentare zu diesem Text

Sätzer (77)
(13.06.20)
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 AvaLiam meinte dazu am 14.06.20:
ja, ein ganzes Leben...und nichts nimmt man mit...nur ein paar Orangenblüten...

Danke dir und liebe Grüße - Ava

 EkkehartMittelberg (13.06.20)
Liebe Andrea, wenn man dieses wunderschöne tieftraurige Gedicht liest, könnte man meinen, die rieselnde Zeit habe alles besiegt, auch die Erinnerung. Aber man täusche sich nicht. Die kriecht oft tief in den endothymen Grund und scheint verschwunden, besiegt von der alles verschlingenden Zeit, die das LyrIch ins Bodenlose zu stürzen scheint. Doch dann kommt irgendetwas, dass die verschütteten Erinnerungen wieder freilegt, oft ein dem LyrIch nicht bewusster Vorgang. Man darf also sagen, dass, solange wir leben, die Zeit kein sicherer Sieger über die Erinnerungen ist, auch wenn es so scheint. Dem entspricht der Schluss des Gedichts: "und von irgendwoher wehen ins Haar mir Orangenblüten."
Das in schönen Bildern schwelgende Gedicht ist eine andere Form des Meistersonetts, indem es das Schlusswort der vergangenen Strophe in der nächsten wieder aufnimmt.
Du hast diese Gedicht Prosagedicht genannt. Doch es ist mit seinen farbigen raumtiefen Bildern und sinnlichen Klängen überaus lyrisch.

 AvaLiam antwortete darauf am 14.06.20:
Geschätzter Ekki,

ich danke dir für die Worte, die mir zeigen, dass mein 1. Versuch, mich "Saudade" anzunähern, nicht versagt hat.

Schön ist auch, dass in diesem Abschied schweren Klang das Schöne, die Erinnerung soviel Kraft haben, dass sie bedeutender sind, als die Leere, die hinter ihnen bleibt.

Ja, die Zeit und die Erinnerungen - als ewige Gegner und doch Partner.
Erinnerungen, die beinahe unerschöpflich sind. Immer wieder können wir von ihnen zehren. Und die Zeit heilt alle Wunden.

Ich wünsche dir immer leuchtende, schöne Erinnerungen. Andrea

 TassoTuwas (13.06.20)
Hallo Andrea,
die Sehnsucht, sosehr sie auch schmerzt, ist eine gewaltige Kraft, die ungeahnte Energien frei setzen kann, die unseren Wünschen neue Wege aufzeigt, die Träume wach hält und Antrieb ist, uns neu zu erfinden.
Und außerdem lässt sie Menschen wundervolle Texte schreiben!
Herzliche Grüße
TT

 AvaLiam schrieb daraufhin am 14.06.20:
Mein lieber Tasso,

du hast sooo Recht. So verzweifelt wir uns auch manchmal fühlen, so stark ist auch die Kraft, die wir aus der Sehnsucht und den Erinnerungen schöpfen können.

Was wäre die Literatur ohne den süßen Schmerz der Sehnsucht?

Ich danke dir und wünsche dir einen unerschöpflichen Quell schöner Erinnerungen.
LG - Ava
Agnete (66)
(13.06.20)
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 AvaLiam äußerte darauf am 14.06.20:
Liebe Agneta,

Der Stein an dem nichts haften bleibt.
Das ist das Bild von dem dieses Gedicht hier lebt. Die Leere wo mal Fülle war, Leben und Farben.
Nicht nur das - der Stein bröckelt.

Doch Orangenblüten wachsen nicht nur an diesem einen Ort.
Manche Sehnsüchte dürfen wir mehrfach im Leben erfahren und ihnen nachspüren. Manchmal auch mit dem Ergebnis der Beständigkeit ihrer Mauern und Tore.

Es freut mich sehr, dass deine Hand über den selben Stein strich wie die meine und ich dich ein Stück mitnehmen konnte in meine Welt.

Herzliche Grüße - Ava
Al-Badri_Sigrun (61)
(14.06.20)
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 AvaLiam ergänzte dazu am 15.06.20:
Liebe Sigi,

ich weiß gar nicht was ich zu deinem Lob sagen soll/kann.

Es war der erste Versuch - mir war bisher der Begriff selbst völlig unbekannt. Natürlich kannte ich das Lebensgefühl von Brasilien, Portugal, Spanien von Filmen, Musik und Erzählungen. Wirklich damit beschäftigt habe ich mich jedoch nie.

So verunsichert war ich dann auch - wollte aber meine Freundin ihren Wunsch aber nicht abschlagen, mich auch mal in dieser Richtung auszuprobieren.

Um so mehr freut es mich, dass es sowohl ihr selbst sehr gefällt wie auch hier die Zeilen noch nicht in den Reißwolf gekommen sind.

Danke dir.
Deine Andrea
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