Narbentiere

Text zum Thema Annäherung

von  Isaban

Gewöhnlich rannte sie morgens erst dann aus dem Haus, wenn man den Bus schon die Hauptstraße hinunter kommen hörte, mit wehenden Haaren und offenem Mantel; sie entzog dem Kasten so spät wie möglich den Strom, in dem Gefühl, sie könnte sonst etwas Wichtiges verpasst haben. Wenn man sie gefragt hätte, sie hätte dieses Wichtige nicht definieren können. Aber es gab sowieso niemanden, der gefragt hätte.
Bei Büroschluss war sie immer eine der ersten, die das Gebäude verließen. Mit ständigem Blick auf die Armbanduhr wippte sie an der Bushaltestelle auf und ab, wechselte alle paar Minuten ungeduldig vom einem auf den anderen Fuß. Manchmal vergaß sie sogar einzukaufen, in ihrem Bestreben, möglichst schnell daheim zu sein. Ihr erster Gang, sobald sie die Wohnungstüre hinter sich geschlossen hatte, führte zum Schreibtisch, wo ihr Zeigefinger dem Computer Leben einhauchte, noch bevor sie sich die Schuhe auszog oder das Bad aufsuchte. Gute Tage waren die, an denen sein Name schon zu lesen war, wenn sie die Internetseite öffnete.

Nie kam das erste Wort von ihm. Nicht, dass er sie nicht beachtet hätte. Wenn sie ihn begrüßte, antwortete er meist recht schnell. Aber nie kam der erste Schritt von ihm, nein, es schien viel mehr so, als ob er jedes Mal erwartete, nicht mehr willkommen zu sein und deshalb etwas Abstand hielt. Als wollte er sicher sein, sich ihr nicht unbedacht mit einem strahlenden Lächeln zu nähern, während sie vielleicht eine geschliffene Axt hinter dem Rücken hielt und nur darauf wartete, dass er einmal vergaß, das Terrain zu sondieren, bevor er die Deckung verließ. Wie ein Tier, das instinktiv bei jedem Zusammentreffen neu prüft, ob es sich in der Gegenwart eines Artgenossen entspannen kann oder ob es zubeißen muss.
Sie hatte keine Axt, nicht einmal ein Taschenmesser. Ihre Worte hätte sie wetzen können, wenn sie gewollt hätte. Wollte sie aber nicht, wollte nicht verletzen, nicht ihn. Meist wäre sie ihm am liebsten um den Hals gefallen, sobald er auftauchte. Das ging natürlich nicht, das hätte den Rahmen ihrer Beziehung gesprengt. So lächelte sie ihm nur per Mausklick entgegen und nahm es auf sich, immer das erste Wort zu sagen. Vielleicht, weil sie nie hundertprozentig sicher war, ob er sonst überhaupt mit ihr reden würde.

Die Unterhaltungen waren spöttisch-freundlich, sehr behutsam, sobald Persönliches angesprochen wurde, lieber witzelnd als fragend, weil sie nicht genau wussten, wie viel der andere von sich preisgeben mochte und ob zu viel Vertraulichkeit vertreiben würde. Manchmal, wenn es nicht so auffiel, kuschelte sie sich in Gedanken bei ihm an, mied dabei alle Themen, die zuviel Gefühl gezeigt hätten und hastige Bewegungen. Es gab ein paar Augenblicke, in denen sie sich umarmt fühlte und ab und zu tippte er etwas, das sie einatmete wie einen Duft, der von innen wärmt. Wärme, die sie still für sich bewahren konnte.
Dann wieder blieb er lange weg oder geriet nur kurz in Sichtweite, um sofort grußlos wieder zu verschwinden. Und wenn er wiederkam sprach sie, wie immer, das erste Wort, damit er wusste, dass er willkommen war. Näher kamen sie sich nie. Wahrscheinlich wollten keiner der beiden etwas von dem riskieren, was sie nie aussprachen. Weder ein Loch in der sicheren Intel-Centrino-Rüstung noch in ihrer Vorstellung von dem, was der andere in ihnen sah.

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Kommentare zu diesem Text

janna (60)
(22.03.08)
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 Isaban meinte dazu am 23.03.08:
Danke, Janna.
Ich freue mich, dass dich der Text so anspricht.
Liebe Ostergrüße,
Sabine

 styraxx (22.03.08)
Ein bewegender Text über eine Beziehung in Zeiten der elektronischen Übermittlung. Eine einseitige Beziehung, geprägt von Misstrauen und Vorsicht; eine Beziehung der eigenen Art, die womöglich in der Einsamkeit gründet - ein Begehren auf Distanz, vielleicht im Wissen darum, dass sie sich nie näher kommen werden. Wahrscheinlich.

Liebe Grüsse
Cornel

 Isaban antwortete darauf am 23.03.08:
Danke, Cornel.
Ich habe lange dran gefeilt und noch viel länger gezögert, den Text einzustellen, weil gerade bei solchen Stories die Gefahr groß ist, dass irgendwer sich darin persönlich angesprochen fühlt und die Zeilen nicht als das betrachtet, was sie sind, sondern versucht ist, irgendwelche realen Bezüge darin zu entdecken oder selbst hineinzukonstruieren, anstatt nur genau das darin zu sehen, was es ist. Ein Text, der beschreibt, wie eine Internetbeziehung aussehen kann und warum manche so darin aufgehen, dass alles "wirkliche Leben" unerheblich wird - und der Preis, der dafür gezahlt wird.
Suchtverhalten und Realitätsverlust.

Liebe Grüße,
Sabine
Jonathan (59)
(23.03.08)
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 Isaban schrieb daraufhin am 23.03.08:
Lieber Jot,
dem Himmel sei Dank, bin ich nicht ganz so theoretisch veranlagt, wie meine Protagonistin.

Der Text ist reine Fiktion, wobei ich natürlich diverse Net-Beobachtungen, Überlegungen, gesuchte Begründungen und, ganz klar, auch irgendwo eigene Erfahrungen auf die beiden Protagonisten übertragen und in die dargestellten Persönlichkeiten mit eingebracht habe, alle Beschreibungen (nach eher männlicher und eher weiblicher Sicht aufgeteilt), allerdings offen und so weit auslegbar gehalten habe, dass sich wirklich viele Internet-User darin erkennen könnten, wenn sie wollten. Fast jeder Mann sieht doch in sich gerne den vernarbten, misstrauischen, einsamen Wolf, fast jede Frau kennt die Rolle der verletzlichen, sanften, zurückhaltenden, liebenden, einsamen Seele, die so viele Romane suggerieren. Im Net kann man fast jede Rolle leben, die man will. Bis man vielleicht von ihr gelebt wird.

Hab vielen Dank für deine Gedanken zu meinem Text.

Liebe Grüße,
Sabine
Elvarryn (36)
(17.03.09)
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 Isaban äußerte darauf am 17.03.09:
Ist doch nur aus ihrer Perspektive geschrieben, Elvchen. Seine würde womöglich vollkommen anders aussehen. Internette Beziehungen bestehen oft nur aus den Spiegelungen dessen, was die Person hinter dem einen Nick unbedingt in der Person mit dem anderen sehen will. Ein Verlieben in die eigenen Vorstellungen vom anderen.

Noch'n paar Grüße,

Sabine
Elvarryn (36) ergänzte dazu am 17.03.09:
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 DanceWith1Life (17.03.09)
Ich erlebe gerade eine Denkverzögerung, das ist nicht wirklich ein zeitlich messbares Phänomen, das ist lyrisch, das liegt an diesem Text.
Ich bin mitgerannt, mit diesen Zeilen, den Schritten und ihrem Widerhall, beide konsequent ausgemalt als Hintergrund für die Bühne, eines Traums, wie mir scheint, eines Traums, den jeder kennt.
Das Stück spielt hier im anorganischem Kunst und Plastik des Bildschirms, fern ab jeder Realität, wie zufällig schimmert genau durch diesen krassen Gegensatz die Sehnsucht nach Verwirklichung durch jedes Bit, jedes Pixel, jedes Atom Unwirklichkeit. Als Sprache des Traums (nicht des Autors) wurde das verwirrendste aller zur Zeit realisierten Kommunikationsmittel gewählt, das Internet, was den eigentlichen Aufschrei der Sehnsucht in eine schier namenlose Nähe gleiten lässt.
Schon ein bisschen "spooky" und verdammt gut geschrieben.
KoKa2110 (42)
(07.05.10)
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KoKa (43)
(10.12.11)
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 Isaban meinte dazu am 10.12.11:
Einer der Texte, die ich selbst auch nach der langen Zeit noch genau so mag, wie kurz nach dem Schreiben. Freut mich sehr, dass er noch mal nach oben geholt wurde. Danke schön!
KoKa (43) meinte dazu am 10.12.11:
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 Isaban meinte dazu am 10.12.11:
KV ist eben eine recht schnelllebige Angelegenheit, heute rot, morgen...
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