Die Besucherin

Gleichnis zum Thema Sehnsucht

von  tulpenrot

Die Besucherin

Die Sehnsucht ist wie eine aufregende Begleiterin, jung und lebendig. Wenn sie ein Mensch wäre, wäre sie sicher eine Frau und hätte wunderschöne lange Haare und einen schelmischen Blick. Sie hätte jede Zeit der Welt.


Sie hatte sich nicht angemeldet, war einfach gekommen. Am Abend.
„Hier bleibe ich“, sagte sie zu ihm. Entschlossen packte sie ihre Sachen aus, räumte sie sorgfältig in den Schrank, und es sah ganz so aus, als wolle sie nicht so schnell wieder abreisen. Er beobachtete ihr Tun verwundert und sprachlos.

„Ich habe Hunger, gib mir zu essen!“, bat sie, als sie fertig war.
Er wollte nicht unfreundlich sein, gab ihr das Beste, was er in seinem Vorrat hatte, und setzte sich mit ihr an den Tisch.
„Bist du zufrieden?“, fragte er.
Wie jung sie war! Welche Lebendigkeit in ihren Gesichtszügen! Zu seiner eigenen Überraschung mochte er sie trotz ihrer Dreistigkeit. Doch anstatt seine Frage zu beantworten, sagte sie: „Ich habe Durst. Gib mir zu trinken.“
Ach ja, etwas zu trinken. Daran hatte er nicht gedacht. Also öffnete er eine Flasche Rotwein – „Trollinger vielleicht?“ „Ja.“ - und schenkte ihr und sich ein. Es war ein guter Wein, fand er. Er beobachtete sie. Abwartend. Unsicher. Leicht zusammengekniffen seine Augen.
„Eine Nacht lang kannst du bleiben“, meinte er vorsichtig. Kein Widerspruch. 
Später, als er nachdenklich im Bett lag, beschlich ihn ein unbehagliches Gefühl. Sie schien voller Überraschungen zu sein. Sein Schlaf war oberflächlich, wachsam.

Es dauerte auch nicht lange, da stand sie plötzlich vor seinem Bett. Ans Abschließen hätte er denken sollen!
„Ich kann nicht einschlafen“, jammerte sie. „Können wir nicht etwas unternehmen?“
„Jetzt nicht. Ich bin müde“, antwortete er unwirsch. „Gehe wieder in dein Zimmer und zähle zehnmal bis zehn.“ Nein, nicht bis hundert, sondern zehnmal bis zehn.
Beleidigt verließ sie seinen Schlafraum, kehrte jedoch bald wieder zurück und weckte ihn erneut.
„Ich kann wirklich nicht schlafen. Erzähl mir etwas, das hilft bestimmt.“
„Erzählen? Es ist halb zwei. Was fällt dir ein!“
„Sei doch nicht so. Hast du keine Idee? Erzähl mir von deinen Wünschen.“
Er brachte es nicht fertig, sie ernsthaft wegzuschicken. Also begann er missmutig von seinen Träumen zu reden, erst zögernd, dann flüssiger, erst von seinen vergangenen, dann von den heutigen, von seinen erfüllten und zuletzt nur noch von seinen unerfüllten Wünschen. Dass seine Stimme dabei immer trauriger und leiser wurde, störte sie nicht. Sie hatte sich an seinem Fußende in ihre Decke eingewickelt und hörte aufmerksam zu, bis aus der Dunkelheit der  Morgen schimmerte.

„Steh auf. Es ist ein herrlicher Morgen, genau richtig für eine Fortsetzung deiner Geschichten.“
War sie in der Nacht aufgeblüht zu rosigem Aussehen? Er betrachtete sie ausführlich. Sie wirkte so frisch. Er erhob sich – was sollte er sonst tun? – gerädert, unausgeschlafen und bereitete für sie beide das Frühstück zu.
„Erzähle ruhig weiter, ich habe Zeit und kann gut zuhören, wie du siehst“, verkündete sie munter und aß mit Wohlbehagen. Er jedoch bekam kaum einen Bissen herunter. Wie im Traum redete er weiter. Fast automatisch. Wie oft hatte er sich all dies schon selber vorgetragen. Ermüdend war es für ihn und schließlich schlief er am Frühstückstisch ein. Für ein Weilchen gab sie Ruhe. Doch am Nachmittag nahm sie energisch seinen Arm, hakte sich bei ihm ein und zog ihn mit sich fort.
„Zeig mir deine Stadt. Ein bisschen frische Luft tut uns gut.“
Hatte sie „uns“ gesagt? „Uns“ klingt wie „eins“. Ein „u“ für ein „ei“. Machte er sich etwas vor? Was wollte sie, was wollte er? Frische Luft tat gut - das leuchtete ihm ein. Und so spazierte er mit ihr durch die Straßen.

Die Sonne hatte alles in ein strahlendes Licht getaucht und viele Menschen waren unterwegs. Sie grüßte mal nach rechts, mal nach links, und er wunderte sich, weshalb sie so viele Bekannte hatte.
„Meine Verwandten“, erklärte sie ihm.
„Hier in dieser Stadt und gleich so viele? Wie heißen sie?“, fragte er.
„Frag mich nicht nach ihren Namen. Ich werde sie nicht verraten. Sie sind ein Geheimnis für Außenstehende.“
„Du weißt sie aber?“
„Ja, schon. Aber weitersagen kann ich sie nicht, denn es ist eine sehr private Angelegenheit zwischen meinen Verwandten und ihren speziellen menschlichen Freunden.“
Er schaute sie fragend an.
„Weißt du“, versuchte sie zu erklären, „die Menschen geben meinen Verwandten Namen, jeder für sich und jeder ganz individuell. Dadurch kommen sie sich so nahe, dass sie sich nicht mehr trennen möchten.“
Eine seltsame Sache – wofür war sie gut?
„Das hilft sogar bei Einsamkeit“, ergänzte sie.
„Mögen sie das denn, solch eine Nähe?“
„O ja, sehr. Ich mag das auch.“
Sie zwinkerte ihm aufmunternd zu.
„Du könntest mir auch einen Namen geben. Oder am besten zehn, nein hundert oder gar tausend!“, rief sie übermütig, „das hilft auch bei dir gegen Einsamkeit.“
„Da fällt mir gar nichts ein.“
„Soll ich dir welche nennen? Zum Beispiel: Mein Ohrwürmchen oder mein Flatterhäubchen oder lieber meine Nachtschwalbe, mein Traum, mein Einundalles. Alles, alles wäre mir recht!“
Wie konnte sie nur so hell lachen! Sie amüsierte sich sicher über ihn. Oder lachte sie ihn sogar aus? Er war verstört und fühlte sich alt. Wie lange es wohl dauerte, bis man nichts mehr weiß vom Liebesduft? Wie alt muss ein Mensch werden?
„Weshalb eigentlich? Ich will dich nicht bei mir behalten.“
„Dann lass uns nach Hause gehen und unsere Sachen packen. Wir wollen ans Meer fahren. Dort ist die Luft frischer, der Wind bläst dir die Stirne wieder glatt, da kannst du nachdenken, ob du mich wirklich loswerden willst“, verlangte sie.

Doch kaum waren sie einige Tage am Meer, wollte sie wieder nach Hause, denn in den eigenen Betten schlief man besser als in fremden, argumentierte sie.  Saß jeder von ihnen lesend in seinem Zimmer, wollte sie auf der Stelle mit ihm einen Spaziergang machen. Waren sie in Gesellschaft, drängte sie ihn nach Hause, um in Ruhe allein mit ihm zu sein. Und seine Arbeit unterbrach sie mit phantastischen Geschichten über ferne Länder. Er machte eine Zeit lang alles willig mit. Ja, er unternahm sogar nichts mehr ohne sie, so hatte er sich an sie gewöhnt. Sie wich nicht von seiner Seite, schob ihren Arm unter seinen, wenn sie tagsüber unterwegs waren, umschmeichelte ihn nachts mit Tanz und Gesang und bewirkte, dass es in seinem Leben abwechslungsreich zuging.  Mit der Zeit aber strengte ihn ihre Umtriebigkeit an. Schon, wenn er sie morgens sah, überlegte er sorgenvoll, welche Vorschläge sie wohl heute machte, und ob sie ihn wieder wie zuvor durch den Tag jagte. Allmählich ließen seine Kräfte nach, und er wurde der ganzen Unruhe überdrüssig.
„Du treibst es zu weit“, beklagte er sich eines Tages. Und am nächsten Tag schimpfte er: „Ich kann dich nicht mehr ertragen. Du musst das Haus verlassen.“
Sie jedoch störte sich nicht an seinen Worten und blieb. Da packte er am übernächsten Tag wütend seine Sachen und zog aus.
„Wenn du nicht gehst, dann gehe ich eben!“, verkündete er mit erregter Stimme. „Mach es dir bequem, aber ohne mich.“
Sie schaute ihm belustigt nach, als er die Straße hinunterlief. Er wanderte entschlossen durch das Tal und über den nächsten Berg, verweilte mal hier, mal dort und beschäftigte sich mit diesem und jenem. Doch jedes Mal, wenn er irgendwo ankam, stand sie plötzlich lächelnd und verlockend vor ihm und hakte sich wie gewohnt bei ihm ein. Er fühlte sich machtlos.

Er bemühte sich angestrengt, ihr aus dem Weg zu gehen. Das gelang sogar. Doch obwohl er ihr nicht begegnete, quälte ihn nun die Erinnerung an ihre Namen wie unstete, bunt gefiederte Vögel, die in die Wolken aufstiegen und wieder herabkamen und sich überall niedersetzten: auf dem Brückengeländer, in den Obstbäumen und zwischen den Büschen entlang seines Weges, sogar auf dem Boden vor seinen Füßen. Ihre Namen hatten Flügel bekommen.
Er versuchte vor ihnen davonzulaufen, sie jedoch flogen unablässig hinter ihm her. Schließlich probierte er, sie einzufangen, er sprang umher, um sie zu ergreifen. Er versuchte es mit Lockmitteln und Fangnetzen. Es half nichts. Und wenn er sie mit Lärm verscheuchen wollte, flatterten sie nur kurz auf und landeten davon unbeeindruckt auf einem anderen Platz in seiner Nähe.  Nach diesem erfolglosen Tun erreichte er bei Sonnenuntergang einen einsam gelegenen See und ließ sich an dessen Ufer nieder.

„Ich fühle mich wie dieser See, aber ohne Ufer, völlig erschöpft“, dachte er und weinte. Der Horizont verschwamm vor seinen Augen, er hatte die Orientierung verloren. Weil er von dem Seewasser trinken wollte, beugte er sich hinab und sah dabei in sein Spiegelbild.
„Weshalb fliehst du vor ihr?“, fragte ihn sein Spiegelbild.
Er trank einen Schluck, bevor er antwortete: „Ich bin am Ende, fühle mich leer und ausgelaugt. So kann es mit mir und ihr nicht weitergehen.“
„Du solltest ihr dankbar sein“, behauptete sein Spiegelbild kühn, „dass sie dich nicht verlassen hat.“
„Das verstehe ich nicht. Auch noch dankbar sein soll ich?“  Er war fassungslos.
„Schließlich bist du durch sie zu vielem gekommen, was du selber nie in Angriff genommen hättest. Ohne sie wärest du längst an Trostlosigkeit und Langeweile gestorben. Wie wäre es, wenn du sie willkommen heißt in deinem Leben?“
„Unmöglich. Sie verwirrt mich.“
„Eben, und genau das tut dir gut, du Langweiler. Komm aus deiner Ecke und schau dir das Leben an. Den ersten Schritt hast du getan und nun geh weiter. Lass dich mit fortreißen! Was verlierst du dabei?“
„Lass mich nachdenken. So schnell bin ich nicht.“
„Gar nichts verlierst du. Ich merke doch, wie es dir im Grunde deines Herzens gefällt, dass sie bei dir ist. Ihre ganze Art belebt dich doch. Die Unruhe tut dir gut.“
„Meinst du wirklich?“
„Ja, das meine ich.“
„Aber merkst du denn nicht, dass es mir zuviel geworden ist? Ich bin am Ende.“
„Nun ja, ein wenig bändigend musst du schon hier und da einmal eingreifen. Aber sie wird es dir nicht verübeln. Du wirst das rechte Maß finden. Schließlich bist du kein Kind mehr, das sich einfach nur treiben lässt oder das überschießend reagiert.“

Die untergehende Sonne hatte über der Landschaft ein mildes Licht ausgebreitet. Die Bäume legten ihre Schatten auf das Gras. Einzelne Vogelstimmen verabschiedeten den Tag. Er beruhigte sich allmählich, beugte sich hinab und trank noch einmal ausgiebig aus dem See. Als er den Kopf hob, entdeckte er zu seiner Überraschung neben seinem Spiegelbild ein zweites, ihres.  Und als ein sanfter Wind über die Wasserfläche strich, verschwammen beide zu einem.


Anmerkung von tulpenrot:

Leider gefällt mir der Schluss noch nicht. Dennoch wollte ich den Text mal zur Diskussion stellen und wie ich euch und mich kenne, wird dann im Laufe der nächsten Tage doch noch was Brauchbares daraus.

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Kommentare zu diesem Text


 Lluviagata (22.02.12)
Ein Mann wird eins mit seiner Erinnerung. Ich finde den Schluss schön, so wie er ist.

 tulpenrot meinte dazu am 23.02.12:
Herzlichen Dank für dein Lesen, das Sternchen und deine Rückmeldung. Aber es sind im Text selber außer am Schluss auch noch Kleinigkeiten zu verbessern, hab ich gestern gemerkt. Ich werde noch dran arbeiten. Dennoch lass ich es mal hier stehen - dann ist es so, wie wenn ein Maler sein Bild mal aufhängt, um aus der Entfernung zu sehen, was man daran noch ändern könnte.
LG tulpenrot

 AZU20 (23.02.12)
"Ihr Gesicht neben seinem" würde ich streichen. Das wärs aber auch schon. LG

 tulpenrot antwortete darauf am 23.02.12:
Danke, Armin, für den Hinweis. Wird gestrichen.
LG
Angelika

 FloravonBistram (02.03.12)
Die Kraft, die in ihm steckt, als "Sie" erwachen und einziehen zu lassen, das ist genau auf den Punkt gebracht.
Eine Geschichte, die mehr als ansprechend im Sinne des Wortes ist.
LG Flo

 tulpenrot schrieb daraufhin am 02.03.12:
Recht herzlichen Dank für diese Einschätzung und für all die Sternchen.
LG tulpenrot
RedBalloon (58)
(01.10.18)
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 tulpenrot äußerte darauf am 01.10.18:
Hallo lieber Ralf,

wie mich das freut!
Danke für Glückwünsche und alle Sternchen!

Kastanienbraune, lange Haare? - ein Traum!

Einen schönen Herbsttag dir!
Angelika
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