Oma

Skizze zum Thema Andere Welten

von  Isaban

Manchmal sehe ich sie, am Ende des Ganges, dort, wo die Schatten sich vom Tagwerk ausruhen. Dezent sitzt sie zwischen ihnen, dezent gekleidet, beinahe unscheinbar. Blaugrün war für sie eine exotische Farbe, Mauve eine königliche, damals, als die Horizonte noch nicht so weit auseinanderklafften. Nie trug sie Rot, das wäre ihr zu mondän erschienen, nichts für sie, auch wenn sie die mondänen Damen in den Zeitschriften insgeheim bewunderte. Sie wusste, wo ihr Platz war und dass es nicht gut ist, aufzufallen in dieser Welt. Manchmal sehe ich sie, am Ende des Ganges, dort, wo die Schatten sich vom Tagwerk ausruhen.

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text


 unangepasste (09.06.19)
Ja, nicht auffallen ... Ich glaube, sie hat Recht.

 Isaban meinte dazu am 09.06.19:
Ein zeitloses Thema.

 franky (09.06.19)
Hi liebe Sabine,

Meine Oma hatte noch ein hellbeige Kopftuch auf, unterm Kinn gebunden und stellte sich vor dem Abschied mir in den Weg und hielt ihre linke Hand geheimnisvoll hinterm Rücken versteckt. Dann schmunzelte sie leicht mit ihren etwas nach unten gezogenen Mundwinkel, das noch von einem leichten „Schlägl“ herrührte und schob mir eine Reichsmark in meine bereits geöffnete Handfläche. Alles so, dass der strenge Opa das nicht merkte. Das geschah ganz ohne Worte, nur mit gütigem Mienenspiel in Omas Gesicht.
Liebe Grüße
von Franky

 Isaban antwortete darauf am 09.06.19:
Hallo franky,

es gab vermutlich sehr viele unterschiedliche Gründe für unsere Omas, immer schön unauffällig zu bleiben.
Hab vielen Dank für deine Rückmeldung.

Liebe Grüße
Sabine

 Regina (09.06.19)
Ganz andere Frauen mit ganz anderen Werten in einer anderen Zeit aufgewachsen.

 Isaban schrieb daraufhin am 10.06.19:
Ja. Und doch: Wer weiß, wie wir am Ende dort sitzen?

 EkkehartMittelberg (09.06.19)
Hallo Sabine, ich lese deinen Text mit gemischten Gefühlen wegen der anderen Welt, in der Oma lebt. Einerseits liebe ich die Welt von heute, die fast grenzenlos frei in Fragen des Geschmacks zum Experimentieren einlädt, andererseits sehne ich mich manchmal in die Welt von Oma zurück, in der die Leute wussten, wo in Platz war, und nicht wenige so wie Oma einen so genannten sicheren Geschmack hatten.
Liebe Grüße
Ekki

 Isaban äußerte darauf am 10.06.19:
Lieber Ekki,

ein "sicherer Geschmack" - was für ein spannender Ausdruck, spricht er doch zugleich unser Sicherheitsbedürfnis an, das Bedürfnis, nirgendwo unangenehm aufzufallen und die Stilfrage.

Menschen, die in ihrem Leben - z.B. durch zwei Weltkriege, Not, Mauerpolitik, Arbeitgeber etc. oder gar in der eigenen Ehe schon erfahren haben, was alles geschehen kann, wenn man den falschen Leuten auffällt, bevorzugen es vielleicht, nicht im Blickpunkt zu stehen. Aber ob es einen sicheren Geschmack gibt? Falls ja, würde ich gerne ganze Kollektionen des entsprechenden Designs an Minderheiten und in Krisengebiete schicken.

Ich danke dir herzlich für deine Rückmeldung und dafür, dass du uns an deinen Gedankengängen teilhaben lassen mochtest.

Liebe Grüße
Sabine

 EkkehartMittelberg ergänzte dazu am 10.06.19:
Liebe Sabine,
ich bin mir mit dem sicheren Geschmack auch nicht so sicher, deshalb mein Attribut: sogenannter. In der Antike schrieb man einigen Menschen einen sicheren Geschmack zu, zum Beispiel Petronius arbiter, der zu Neros Zeit lebte und den man zum Schiedsrichter in Geschmacksfragen ernannte, deshalb die Bezeichnung arbiter.
Wahrscheinlich ist es aber so, dass je pluralistischer eine Gesellschaft wird, sie umso mehr Varianten des Geschmacks zulässt, sodass heute Sicherheit des Geschmacks allenfalls bedeutet, dass man nicht mit nackter Brust und Fliege in die Oper geht. Aber wer weiß, wenn es eine very important person vormacht, zeugt es übermorgen von gutem Geschmack. :)

 niemand (10.06.19)
Was mir an diesem Text so besonders gut gefällt ist diese Achtung der Schreibenden vor einer Persönlichkeit aus einer inzwischen fernen und heutzutage nicht so verständlichen Zeit bezüglich der Frau. Dieser gut geschriebene Text gibt der alten Frau ihre Würde. Man hat Respekt vor etwas, was inzwischen nicht mehr respektvoll zu behandeln wäre, wie ich glaube, oder selten wäre. Die Beschreibung dieser Oma ist und was mir besonders gelungen erscheint, umrahmt von zwei schlichten, jedoch für meine Begriffe poetischen Sätzen und zwar dem ersten und dem letzten. Der Text ist unter Skizze eingetragen, was stimmt, was jedoch, wenn man genau liest und die Fantasie bemüht, eine lange Geschichte zu erzählen vermag. Ich sehe diese alte Frau fast persönlich und empfinde sie sympathisch [was an der respektvollen Art dieses Textes liegt] dass er mir sogar zum Lieblingstext geworden ist. Mit lieben Grüßen, Irene

 Isaban meinte dazu am 10.06.19:
Ja, liebe Irene,

es ist der Respekt vor der Person, die schon so viel erlebt hat und deren Leben und Erfahrungen sie mit einem Wissen, Weitsicht und gleichzeitig mit so viel Rückgrat und Haltung ausgestattet hat, dass sie immer noch aufrecht dort im Schatten sitzt und nie ganz aus den Gedanken ihrer Lieben weicht.

Hab sehr herzlichen Dank für deine Rückmeldung, dich mich auf ihre eigene Weise berührte.

Liebe Grüße,
Sabine

 AZU20 (10.06.19)
War gestern bei Oma. Sie sitzt im Altenheim und stiert vor sich hin. Leider kann es auch so enden. LG

 Isaban meinte dazu am 10.06.19:
Ja, so kann es leider auch gehen, lieber Armin.
Und wenn sie irgendwann nicht mehr da ist, welches Bild hast du dann vor Augen? LG

 AZU20 meinte dazu am 10.06.19:
Ich lasse mich überraschen. LG
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram