Heiner geht heim

Kurzprosa zum Thema Existenz

von  RainerMScholz

Keiner weiß, wo Heiner wohnt. Die Haare hängen ihm strähnig ins Gesicht. Heiner geht heim und es ist Nacht. Heiner reißt die Außenspiegel der Autos auf seinem Weg ab, kratzt mit einem Bierdosenverschluss den Lack ab und pinkelt an Hinterreifen. Heiner geht heim. Die Leute wechseln die Straßenseite. Heiner kann die Leute nicht leiden. Er schreit sie an, spuckt und tritt. Heiner geht heim. Er kotzt in einen schwarzen Vorgarten. Schwarz wegen des fehlenden Lichts. Heiner wischt sich den Mund ab und spuckt auf eine blanke Windschutzscheibe. Überall stehen Fahrzeuge. Wirklich überall. Heiner kann Automobile nicht leiden. Er lässt das Springmesser springen und sticht in einen Reifen. Eine längst herbeigerufene Polizeistreife leuchtet mit ihren Lampen in seine Richtung. Heiner zeigt den Finger, streckt die Zunge heraus und hechtet über einen Jägerzaun. Heiner versteckt sich. Heiner geht heim. Aber erst killt er noch ein Dosenbier, das er in der Lederjackeninnentasche hatte. Er wartet, bis die Bullen weg sind. Heiner hasst … ja, ja, schon klar. Es fängt an zu nieseln. Heiner – nimmt noch einen Schluck Karlskrone, schielt in den sternlosen Himmel, versucht vergeblich sich eine anzustecken und macht sich auf den Weg. Alles dunkel. Der Himmel dunkel. Der Asphalt dunkel. Die Straßen, die Baumskelette, die Fassaden, der Belag der Stadt, alles dunkel, und in Heiner ist es auch dunkel. Dunkel, dunkel, ddddunkel. Trinkdunkel. Seelendunkel. Gedankendunkel. Die Kneipe, aus der er kam, heißt 'Die Dunkel', kein Witz. Drinnen war nur wenig Licht.
Morgen geht er wieder zur Arbeit. Als Nachtwächter. In einer erloschenen Fabrik. Er hat eine Stabtaschenlampe mit vielen Batterien, aber die macht er nicht an. Er starrt durch die blinden Fenster. Da gibt es nichts zu sehen. Alle zwei Stunden muss er eine Uhr stechen. Die macht ein Geräusch. Katschunk.
Heiner hat eine Narbe auf der Stirn. Da ist er betrunken eine Treppe hinabgestürzt. Er weiß nicht mehr wo. Vielleicht in Phantasialand. Am Hinterausgang. Und er hat einen Anker und Ziffern auf dem Unterarm tätowiert. Aber Heiner ist kein Matrose und die Zahl – keine Ahnung, ein Datum, oder etwas Anderes. Blau auf weißer Haut.
Seine Schnürsenkel an den abgewetzten Springerstiefeln vom Flohmarkt sind offen. Oder zerrissen. Heiner hasst die Welt, und die Welt hasst ihn. Unklar, wer damit angefangen hat.
Heiner geht heim.


© Rainer M. Scholz

Möchtest Du einen Kommentar abgeben?
Diesen Text kommentieren

Kommentare zu diesem Text


 minimum (09.10.21)
Tristesse pur. (Und gerade deswegen gerne gelesen.)

 RainerMScholz meinte dazu am 12.10.21:
Der Herbst grüßt in die Blätter.
Danke,
R.

 Dieter_Rotmund (09.10.21)
Dieser Kommentar und die Antworten dazu sind nur für Teilnehmer an diesem Kommentarthread lesbar.

 AchterZwerg (10.10.21)
Wer "Karlskrone" trinkt, kann kein glücklicher Mensch sein. So viel ist schon mal klar.

Die Perspektive des Erzählenden kommt weitgehend ohne Wertung des Geschehens aus. Das hält hier die Spannung aufrecht.

Der Wunsch des Heimlosen nach einem imaginären Zuhause wird durch seine Tätowierung offenbar. Zumindest einmal scheint es etwas wie Zufriedenheit gegeben zu haben ...

 RainerMScholz antwortete darauf am 12.10.21:
Ja, das stimmt (außer das mit der Karlskrone, denn dadurch wird man ja erst glücklich!).
Die Tätowierung habe ich gerade geändert.
Gruß + Dank,
R.

 mannemvorne (10.10.21)
.


.


"Unklar, wer damit angefangen hat."

__„“______Sauber!

_________________________ _DE_speedings_Bums_

Gegrüßt
mv

.

 RainerMScholz schrieb daraufhin am 12.10.21:
Das ist oft unklar. Bei mir war`s Motörhead. Oder rumgekehrt. Kill over.
Gruß + Dank,
R.
Navarone (31)
(12.10.21)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 RainerMScholz äußerte darauf am 12.10.21:
Ja, das stimmt. Das ist ein Trick. Wie Sudoku.
Gruß + Dank,
R.
Möchtest Du einen Kommentar abgeben?
Diesen Text kommentieren
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram