Weil

Kurzprosa zum Thema Familie

von  Isaban

Es lag in der Luft, war zu lange gut gegangen. Sie konnte das Knistern im Nacken spüren. Kein schönes. Wenn beide im Raum waren, atmete sie nicht mehr, seit Tagen, vorsichtshalber. Sie sah sie auch nicht an, ihn nicht und sie nicht und vermied Geräusche, selbst Rascheln. Sie war unsichtbar, war gar nicht da. Das unsichtbare Kind. In dem Augenblick, als sie an seinem Stuhl vorbei ging, erhob er sich und ihr Unterlidmuskel zuckte ertappt, bevor sie ihre roten Socken betrachten konnte. Natürlich hatte er es registriert. Er merkte es immer.

„Räum den Tisch ab!“ Sie kannte das Spiel, zuckte trotzdem, als er einen Schritt auf sie zu machte, fiepste beim Luftholen wie eine zertretene Maus. Sofort kniff sie ihre Lippen zusammen, in den Augenwinkeln die erwartungsvolle Bewegung, mit der ihre Mutter sich vorbeugte und das Zurücklehnen, als doch nichts weiter geschah.

„Mach, was ich dir gesagt habe.“ Leise sprach er. Zu leise und da war der Ton. Da war der Ton und ihr wurde schlecht. Sie sollte besser zum Klo. Der Gürtel mit der großen Schnalle. Ein Nicken, ein großer Bogen, an ihm vorbei, ins Bad, nicht trödeln, nicht denken, zurück an den Tisch. Den Blick auf sein Gesicht gerichtet, griff sie nach der Lieblingstasse ihrer Mutter, hob sie empor, als würde sie ihm zuprosten, holte tief Luft, wartete einen trotzigen Wimpernschlag lang und ließ das Seltmann-Weiden-Stück auf das Parkett fallen. Sein Ausholen sah sie nicht mehr, hatte die Augen längst zugepresst, landete zu einer Kugel zusammengerollt neben den Scherben, knipste sich fort, dorthin, wo sie im warmen Rot ihres Inneninnenkopfes lautlos sang. Biene Maja, Flipper und Hey, Pippi Langstrumpf im Gürteltakt, bis es vorbei war. Für dieses Mal.

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Kommentare zu diesem Text

kata (64)
(11.02.08)
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SemiSuicidal (28) meinte dazu am 11.02.08:
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 Isaban antwortete darauf am 12.02.08:
Danke, ihr beiden Lieben.
Ich stimme euch zu, sowas sollte es nicht geben, sowas sollte verschwunden sein, sollte es besser nie gegeben haben. Und ja, auch die drei Protagonisten sind austauschbar, Vater, Mutter, Tochter, Sohn... Onkel, Tanten, Großeltern, Pflegeeltern, Heimleiter/in - tbc. Hier geht es um den Kreislauf aus Gewalt, Verrat, Ohnmacht.


Es freut mich sehr, dass der Text euch so berühren konnte.

Liebe Grüße,
Sabine
Symphonie (73) schrieb daraufhin am 12.02.08:
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artemidor (58)
(11.02.08)
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 Isaban äußerte darauf am 12.02.08:
Ja, Arti.
Ich hatte gehofft, dass der Text den Leser sehr nah ans Geschehen bringt.
Danke für dein reflektierendes Lesen.

Liebe Grüße,
Sabine

 Martina (11.02.08)
Kann mich hier nur beiden anschließen und nicht verhindern, dass sich Wut in mir breit macht...Lg Tina

 Isaban ergänzte dazu am 12.02.08:
*g* Du wirst immer wütend, wenn ich Prosa reinsetze.
Erinnerst du dich an den Text, wo du dem Protagonisten ein Nudelholz überziehen wolltest?
Ich danke dir für deine Rückmeldung, Tina.
Gut, wenn der Text Emotionen weckt.
Liebe Grüße,
Sabine

 Martina meinte dazu am 12.02.08:
Ja ..lach..das hört sich ganz nach mir an...griins =))

 styraxx (11.02.08)
Ein erschütterndes Prosastück, die nackte Angst geht um. Sehr einfühlsam beschrieben und doch wird kein Blatt von den Mund genommen. Der Text kommt ohne sensationslüsterne Masche aus. Das unsichtbare Kind macht sich sichtbar, indem es das gute Stück Porzellan auf den Parkett fallen lässt.
Erdrückende Ohnmacht transportiert dein Text. Auf subtile Art und Weise wird der Raum einer gestörten Erwachsenenwelt und unschuldigen Kinderwelt angeleuchtet.
Hier wird nicht nur Porzellan zerbrochen, sondern eine gesunde soziale Entwicklung eines Kindes verunmöglicht und dessen Selbst aufs gröbste verletzt. Nicht auszudenken was die Folgen sind. Dein Text hat mich ergriffen, da er sehr authentisch auf mich wirkt – man fühlt mit. Ein wichtiger Text, wie ich finde.

Liebe Grüße
Cornel
(Kommentar korrigiert am 11.02.2008)
(Kommentar korrigiert am 11.02.2008)

 Isaban meinte dazu am 12.02.08:
Vielen Dank, lieber Cornel.
Das ist eine stimmige und interessante Auslegung. Eine gute.
Ich glaube, dafür, dass die Protagonistin diese Tasse ergreift gibt es sehr viele Interpretationsmöglichkeiten.

Vielleicht, weil sie den Mann provozieren will, damit sie es endlich hinter sich hat,
vielleicht, weil sie die Mutter strafen will, die erwartungsvoll mit im Raum ist und Verrat übt,
vielleicht, weil sie auf diese Weise vorgreifen will, auf ihre Weise zuschlagen, bevor er zuschlägt,
vielleicht, unbewusst, weil sie sonst mit ihrer eigenen Moral und Weltsicht nicht mehr klar kommt, wenn es keine Gründe mehr geben muss, warum etwas passiert
vielleicht, um mal deutlich zu zeigen: Das ist es doch, was ihr in mir seht. Na, guckt nur her, ich enttäusche eure Erwartungen nicht, ich bin!
Vielleicht aber auch eine Mischung aus allem, Bewusstem und Unbewusstem, ein Zusammenspiel, bei dem den Eltern neue Gründe geliefert werden und dem Kind ein kleines bisschen Trotz und Unzerbrechliches erhalten bleibt, eine Art Weil.

Hab vielen Dank für deine Rückmeldung. Es ist gut zu wissen, dass der Text berührt.

Liebe Grüße,
Sabine

 DanceWith1Life (11.02.08)
Ich spreche hier im Namen der Luft, ich tue dies ohne Befugnis und aus freien Stücken. Ich bin eigentlich zum Atmen, aber wenn so angefüllt mit so viel Wahnsinn, fällt dies schwer. Wie die drei das immer wieder schaffen, ist nicht nur ihnen ein Rätsel. Ich möchte hier eigentlich keine Partei ergreifen, muss aber darauf hinweisen, das Kind endlich zu schützen, obwohl ich weiss, dass das ein fadenscheiniges Unterfangen ist.
Denn einfach rausschneiden was stört, geht ja nicht, und besser angefüllt als Leer, das ganze Paradoxe Gefühl alles wird in die Luft geschmissen, was soll denn passieren, frag ich mich, Gürteltakt, ein sehr, sehr zynisches Wort. Geradezu Horrorvisionär die Beschreibung der Dichte, der Spannung, und allen ihren Handlangern. Schauder, tief durchatmen, sag ich mir jetzt aber....

 Isaban meinte dazu am 12.02.08:
Danke, Robert.
Es scheint, als hätte die beschriebene Atmosphäre dich eingefangen. Was mehr kann ein Schreiber sich für seinen Text wünschen?

Liebe Grüße,
Sabine
schneerosenkind (38)
(11.02.08)
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 Isaban meinte dazu am 12.02.08:
Vielen Dank, Sandra, für deine Rückmeldung. Wenn dem so ist, dann hat der Text in etwa die Wirkung, die ich in die Zeilen legen wollte.

Liebe Grüße,
Sabine

 Reliwette (11.02.08)
Einerlei ob autobiographisch aufgearbeitet oder anders wahrgenommen: Genau auf den Punkt gebracht: nicht nur aus sozialpädagogischer Sicht oder für jeden Psychologen eine Fundgrube! Das ist Prosa mit background wie ich sie mir wünsche: das betrifft alle Menschen, denn da ist eine Botschaft, die ernst genommen werden muss! Wir haben nämlich auch in Deutschland ein dickes Problem: die Verrohung bzw. den zunehmenden Verlust der Mitleidensfähigkeit vieler, vieler Menschen - nicht nur in Randgruppen!
Der Meermann

 Isaban meinte dazu am 12.02.08:
Lieber Hartmut,
vielen Dank für deine Rückmeldung und deine Begeisterung.
Ich freue mich, dass du auch mit meiner Prosa etwas anfangen kannst.
Liebe Grüße,
Sabine
Symphonie (73)
(12.02.08)
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 Isaban meinte dazu am 12.02.08:
Scht, scht, ob das eine Lösung ist, Gewalt mit Gewalt zu begegnen?

Ich freue mich sehr, dass mein Text derart aufrütteln kann, Ela.
Hab vielen Dank für deine Rückmeldung und dass du uns an deinen Gedankengängen teilhaben ließt, die deutlich zeigen, dass die Zeilen eine gewisse Wirkung haben.

Liebe Grüße,
Sabine

 Hoehlenkind (18.02.08)
Das Geschehen, die Gewalt ist schockierend. Doch der Text ist auch faszinierend, das Kind, seine Sensibilität und sein aktiver Umgang mit der Gewalt, sein Bewahren wenigstens der inneren Selbstbestimmung und Würde. Dadurch ist es auch ermutigend, nicht nur Opfer zu sein, selbst in solchen Situationen der Ohnmacht.
Liebe Grüße, Jobst

 Isaban meinte dazu am 18.02.08:
Vielen Dank, Jobst, für deine Rückmeldung.
Es ist ein schwieriges und komplexes Thema und mein Text ist nur eine winzige Momentaufnahme, die der Komplexität natürlich nicht gerecht werden kann. Vermutlich ist der aktive Umgang, dieses "nicht panisch werden, nicht verzweifeln, nicht einfach nur über sich ergehen lassen" die einzige Möglichkeit, nicht an der Gewalt zu verbiegen und zerbrechen.

Liebe Grüße,
Sabine

 Gothica (21.02.08)
...viel kann ich nicht dazu sagen, denn das haben ja die anderen schon getan und ich kann mich nur anschließen....dein text ist aus dem leben gegriffen, so oder ähnlich passiert es tag für tag....und es ist schlimm....du hast es mit klaren worten geschildert....und man sieht es vor sich wie ein film....es macht angst...es macht wütend....und traurig...

...ich mag ja prosa...und dieses hier ist zwar ernst, durch das thema welches du gewählt hast, aber verdammt gut geschrieben....

lg Alex

 Isaban meinte dazu am 21.02.08:
Danke, Alex.
Es freut mich, dass der Text dich erreichen konnte.
Manchmal ist das, was man erzählen will besser in Prosa aufgehoben, manchmal kann man (ich) besser in Gedichtform zeigen, was man/ich für den Leser bebildern möchte. Die geschilderte Situation passt nach meinem Empfinden nur in die Prosaform.

Liebe Grüße,
Sabine
Elvarryn (36)
(17.03.09)
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 Isaban meinte dazu am 17.03.09:
Ich hatte gehofft, den Stil der Thematik angepasst zu haben. An die unerträgliche Anspannung, das Gedankenhuschen, die Wahrnehmungen aus den Augenwinkeln, an das Wittern, Suchen und registrieren. Schade, wenn es nur egozentrisch rüberkommt, da habe ich wohl die Wirkung der stilistischen Mittel falsch eingeschätzt.
Herzlichen Dank für deine Rückmeldung
und liebe Grüße,

sabine
Elvarryn (36) meinte dazu am 17.03.09:
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Agneta (62)
(20.09.19)
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 Isaban meinte dazu am 22.09.19:
Ja, die hat es schon immer gegeben und die wird es wohl auch zukünftig geben. Soo gründlich ändern sich Zeiten diesbezüglich nie.
Danke für deine Rückmeldung, liebe Monika.
Herzliche Grüße
Sabine
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