"La - Le - Lu" ist doch kein Weihnachtslied

Erzählung zum Thema Gabe

von  TassoTuwas

Unschlüssig glitt sein Finger über die schmalen Rücken der Plattencover.
Er suchte, wusste aber selbst noch nicht genau wonach, kein  bestimmtes Lied, keinen Welthit aus irgendeinem Jahr, keinen Supersong der die Charts monatelang angeführt hatte, nicht den Klassiker der Wunschkonzerte, nicht einmal eine Melodie schwebte ihm vor. Er suchte einen Klang, suchte nach einer Stimme, in die er seine augenblicklichen Gefühle betten konnte. 
Singen war nicht seine Sache, Singen hatte ihm die größte Schmach beschert. Zwei Mal im Jahr, wenn es um die Musiknoten ging, wenn die Klasse in alphabetischer Reihenfolge vorsingen mussten. Mit jedem weiteren Buchstaben sank er mehr in sich zusammen. Er ahnte das kommende Desaster und war wehrlos.
Sein Finger verharrte auf der abgenutzten Pappe der Piaf LP. Damit hatte es seinen Anfang genommen. Er wusste nichts von dieser Frau, was für eine zwerghaft unscheinbare Person sich hinter diesem Gesang verbarg, der ihn in ungläubiges Erstaunen versetzte.
"Nun Seidenkranz,...", drang es hinterhältig freundlich an sein Ohr, "...lass uns teilhaben an deiner Darbietung".
Unruhe entstand um ihn herum, Geflüster und  Gekicher.
Die Piaf passte heute nicht hatte er entschieden. Er wusste zu genau um die Schwermut, die sich in Ihren Chansons verbarg. Er wollte nicht daran erinnert werden, dass die Familie sich längst aufgelöst hatte, dass der Sohn im Streit aus dem Haus gestürmt war, die Tochter mit Mann und Kind am anderen Ende der Welt eine neue Heimat gefunden hatte, und schließlich seine Frau eines Tages in seine Ahnungslosigkeit hinein platzte, sie habe sich neu orientiert.
Da hatte er zum letzten Mal die Piaf gehört.
"Wenn es in die Höhe geht, klingst du wie ein rostiges Sägeblatt und wenn es nach unten geht, wie das Gurgeln eines Gullys. Seidenkranz,  setzen, sechs!"
Die letzten Worte Spreckelsens gingen im turbulenten Durcheinander aus schrillem Lachen, Klatschen und "Zugabe" Rufen der Klasse unter, und er hatte sterben wollen. Spreckelsen hatte die Lacher auf seiner Seite und er seit dem seinen Spitznamen.
Weiter wanderte der Finger. Es ging ihm nicht um diese oder jene Musikrichtung. In den Regalen standen sie gleichberechtigt nebeneinander, Soul und Oper, Country, Volkslied, Gregorianische Gesänge und große Chöre. Es ging ihm einzig um das Erleben der Stimmen, sich hinein fallen zu lassen, in die einzigartige Klangfärbung, eins zu werden mit den Schwingungen der Gefühle.
Das Singen war ihm nicht gegeben, er war talentfrei, eher eine Lachnummer, das wurde ihm regelmäßig bestätigt. Aber sollte das nicht auch Vorteile haben?
Hatte es, denn wenn die, die singen konnten noch zwei Stunden bei der Chorprobe verbrachten, konnte er am Fluss die Steine über das Wasser springen lassen oder Papierschiffe auf große Fahrt schicken, aber war es das wert? Jenny, die Schulschönheit aus der Parallelklasse war im Chor und er hätte  ihr da näher kommen können. Unter dem Strich war er wieder der Verlierer. 
Wie hatte er den kleinen speckigen Blasberg beneidet, wenn er auf der Schulfeier aus dem Chor nach vorn trat und in der von den Eltern bis auf den letzten Platz besetzten Aula mit glockenreiner Stimme das "Ave Maria" in den Himmel schickte. So inbrünstig, dass alle Mütter sich verstohlen die Augen wischten.
Er haderte mit seiner Talentlosigkeit, frug sich, "Was ist so wichtig daran die Töne zu treffen?", und sein Verstand gab ihm die richtige Antwort, "Gar nichts!"
"Gully", das traf ihn ins Herz und als er und Brinkmann nach der Sportstunde die Letzten in der Umkleide waren und Brinkmann "Hör mal Gully..." anfing, da fiel er ihm ins Wort, "Hör du mal zu, dich erkennt man schon aus hundert Metern Entfernung und gleich kriegst du eins auf deinen Zinken, Denk mal drüber nach!"
Brinkmann hatte nicht nachgedacht, ihm sofort eins reingehauen, dass ihm die Lippe aufplatzte, aber dann fing er selbst an zu jammern und betastete sein zertrümmertes Nasenbein. Sie schwiegen beide über das Vorgefallene. Brinkmann war einer der Rädelsführer und nach diesem Vorfall verringerten sich die Hänseleien.   
Nichts änderte das an seinem Unglück, aus dem er sich zu befreien suchte. Dann kam ihm ein Gedanke, " Wenn sich dir etwas in den Weg stellt, und du besitzt nicht die Kraft es weg zu räumen, dann umarme es!"
Er musste sich damit abfinden, von allen Gully nannten zu werden, selbst später, als die Schule längst hinter ihm lag. Die meisten hatten keine Ahnung, wie er zu diesem Namen gekommen war, nicht einmal sein Frau.
"Gully ich geh", waren ihre Abschiedsworte.
Nun besaß er diese Sammlung einzigartiger Stimmen. Stimmen die ihm Hoffnung, Trost und Vergessen bedeuteten.
Er nickte und zog eine LP aus dem Regal. Er hatte sich entschieden, sie vorsichtig auf den Plattenteller gelegt, die Kopfhörer aufgesetzt, und sich in den Sessel zurecht gerückt. Gleich würde er die Starttaste der Fernbedienung drücken und eintauchen in seine Wunderwelt. Er schloss die Augen, er hatte seinen Frieden damit gemacht, ein völlig talentloser Sänger zu sein.
Draußen fiel der erste Schnee.
Ein paar tausend Kilometer entfernt strich eine junge Frau einem Kind über das Haar, das sie gerade in den Schlaf gesungen hatte und erinnerte sich an den Mann, der vor dreißig Jahren fast jeden Abend an ihrem Bett gesessen und ein Gute-Nacht-Lied gesungen hatte. Für sie war er der größte, der beste, der unvergesslichste "La - Le - Lu" Sänger aller Zeiten.

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Kommentare zu diesem Text

matwildast (37)
(22.12.17)
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 niemand meinte dazu am 22.12.17:
Singen ist eine sehr intensive Art seine Gefühle zu spüren und zu äußern, egal ob man die Töne trifft.

Nun, ich denke für Obiges reichte dann doch die eigene
Badewanne, oder Dusche. Wer will denn schon einem Gesang lauschen, bei welchem der Sänger die Töne nicht zu treffen vermag. Und vor allem, wer möchte für eine solche Stümperei auch noch zahlen? Solange man es keinem anbietet,
kann man so laut und so intensiv und so gefühlsbetont singen,
wie einem die Nachbarn und Mitmenschn erlauben.
LG niemand
matwildast (37) antwortete darauf am 22.12.17:
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 TassoTuwas schrieb daraufhin am 22.12.17:
Die Crux bei der Kunst ist, dass es so viele Meinungen wie Menschen gibt und dass die Erklärungen der Experten uns mehr glauben lassen, als sie beweisen.
Gesang und Schauspiel haben den Vorteil, dass Plagiate, anders als bei Malerei, Schriftstellerei, Komposition kaum unerkannt bleiben.
Man kann die "Likes" zählen, aber das sagt nichts aus. Letztendlich ist "schön" immer eine persönliche Empfindung, über die "Andersgläubige" gern lächeln mögen!
Danke für eure Meinung.
TT
Graeculus (69)
(22.12.17)
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 TassoTuwas äußerte darauf am 22.12.17:
Ich hab halt eben immer das Bestreben am Ende irgendwie die Kurve zu kriegen.
TT

 drmdswrt (22.12.17)
Das Ende rührt. Alles zeigt jedoch, dass wir auch mit unseren stärksten Unfähigkeiten in der Lage sind, einen Menschen glücklich zu machen und selbst unvergesslich zu werden.

Musik, nebenbei, ist tatsächlich etwas extrem Wichtiges, was in uns die stärksten Gefühle hervorrufen und nicht zuletzt auch heilen kann. Schön, dass Du Gully in nichts festhängen lässt.
In den Regalen standen sie gleichberechtigt nebeneinander, Soul und Oper, Country, Volkslied, Gregorianische Gesänge und große Chöre.
Es gibt kein Genre, das nicht gut ist. Jede Musikrichtung und jede Epoche ist gut und wichtig.
Wie heißt es bei BJH: »You know for every feeling there's a song.« Und die Suche nach dem richtigen Album zur richtigen Zeit kenne ich nur zu gut. Aber manchmal ist nichts wichtiger als das.

 TassoTuwas ergänzte dazu am 22.12.17:
Das mit der Unfähigkeit , die doch etwas Bedeutendes hinterlassen kann, gefällt mir außerordentlich gut.
Und richtig, nur wer vieles sucht, hat die Chance etwas zu finden!
LG TT

 EkkehartMittelberg (22.12.17)
Tasso, die schönsten Weihnachtsgeschichten erkennt man nicht sofort.
Herzliche Grüße
Ekki

 TassoTuwas meinte dazu am 22.12.17:
Ekki, wenn der Groschen noch vor Ostern fällt, war die ganze Arbeit nicht umsonst ))
Herzliche Grüße
TT

 GastIltis (22.12.17)
Hallo Tasso, eine Geschichte, die nicht nur unspektakulär erzählt ist. Sie wirkt. Nachhaltig und tief. Jedenfalls bei mir. Manchmal lese ich meiner Familie Geschichten vor. Diese wird sicher dazu gehören. Leider nicht zu Weihnachten, weil mein Drucker defekt ist und wir an der Ostsee sein werden. Sein müssen. Warum auch immer. Dann später! Viele liebe Grüße von Giltis.

 TassoTuwas meinte dazu am 22.12.17:
Mein lieber Gasti,
nun kann es Weihnachten werden.
Um diesen Kommentar mach ich noch ein Schleifchen und lege ihn mir unter den Baum.
Herzliche Dank
TT

 AZU20 (23.12.17)
Intensiver Text, aufmerksam gelesen. LG zum Fest

 TassoTuwas meinte dazu am 25.12.17:
Damit war deine Zeit ja nicht umsonst geopfert!
LG und ein schönes Fest
TT
CarlottaB (44)
(28.12.17)
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CarlottaB (44)
(28.12.17)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 TassoTuwas meinte dazu am 06.01.18:
Genau so ist es!
Herzliche Grüße
TT

 harzgebirgler (21.01.21)
lehrer wie spreckelsen sind eh idioten
und lieben die macht durch vergabe von noten.

lg
harzgebirgler

 TassoTuwas meinte dazu am 29.11.21 um 18:33:
Viele Lehrer damals hatten als Offiziere den Krieg verloren
nun schlugen sie mit dem Lineal oder drehten unser Ohren!

LG TT
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