Das Problem des Kriminalromans

Kommentar zum Thema Literatur

von  Graeculus

Wenn ich als Autor in einem Genre schreibe, in dem es schon ein mustergültiges und unüberbietbares Werk gibt, werde ich nervös. Und auch wenn ich kein Musiker bin, stelle ich mir die Frage, die ein Musikproduzent einst an Willy DeVille gestellt hat, als dieser „Hey Joe!“ aufnehmen wollte: „What can you do with this song that Jimmy didn’t?“ Was also kann man da noch machen, was das Machen lohnt? Wie kann man überhaupt nach Jimmy noch Gitarre spielen? Das Problem eines Künstlers.

Nehmen wir als Beispiel das Genre des Kriminalromans. Tausende, Hunderttausende, womöglich Millionen von Büchern erscheinen da. Welches künstlerische Ziel kann ein Autor da noch haben? Es gibt doch schon, unter all diesen Werken, das eine, das man schwerlich übertreffen kann:

Ein Mann erfährt, daß ein Verbrechen geschehen ist. Nicht irgendein Verbrechen, kein Mord aus Eifersucht oder Habgier, sondern das Verbrechen. Als Zuständiger beginnt er zu ermitteln ... und findet schrittweise heraus, daß er selber der Täter ist! Und dies, ohne die geringste Ahnung gehabt zu haben, daß er ein solches Verbrechen beging. Er ist gleichsam unschuldig zu dem wohl schlimmsten Verbrechen gekommen, das ein Mensch begehen kann. Er selbst, der Ermittler, kein anderer!

Und nun muß er mit dieser Verantwortung leben. Seine ebenfalls unwissende, bei der Tat ahnungslose Mittäterin zieht aus der Erkenntnis die Konsequenz des Suizids. Das tut er nicht, auch wenn seine Reaktion kaum weniger radikal ist.

Und um noch eines daraufzusetzen: Es gibt die Ansicht von Interpreten, daß wir alle auf eine gewisse Weise an einem derartigen Verbrechen beteiligt sind. Unwissentlich auch wir. Es geht also – wie große Kunst zumeist – uns, die Leser, selber an, es betrifft uns. Kann man als Künstler mehr erreichen?

Was sollte künstlerisch im Genre des Kriminalromans nach diesem Buch noch kommen? Natürlich, die Leser wollen Unterhaltung, wollen Ablenkung vom Alltag, wollen Stoff. Und den verschaffen ihnen die Lohnschreiber in zahllosen Produkten. Ein triviales Geschäft.

Vereinzelt gibt es dabei durchaus interessante Konstruktionen von Situationen, Motiven und überraschenden Wendungen. Doch die Masse der Whodunit-Produkte kommt nicht einmal in Sichtweite dieses einen Werkes und seiner drei entscheidenden Elemente: Das Verbrechen ist das schlimmstmögliche, der Ermittler selbst hat es unwissentlich begangen, und wir sind vielleicht sogar Mitschuldige. Was also jetzt noch schreiben, das das Prädikat Kunst verdient und doch weder ein Plagiat noch von minderem Wert sein soll?

Von welchem Buch ich da rede? Ein Rätsel.

Ein Rätsel, eines im klassischen Sinne des „Was ist das: ...?“, wird übrigens mit diesem Buch traditionell in Verbindung gebracht, was jedoch insofern irrig ist, als es in ihm gar nicht vorkommt, sondern anderswo erwähnt wird.


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Kommentare zu diesem Text

Taina (39)
(16.05.23, 17:00)
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 Graeculus meinte dazu am 16.05.23 um 17:08:
Nein. Überhaupt nicht.

 Graeculus antwortete darauf am 16.05.23 um 17:10:
Das macht einen Gutteil des Schrecklichen an der Geschichte aus: Die Motive, aus denen das Verbrechen folgt, sind beinahe alltäglich. Nicht zuletzt dieser Umstand rückt die Geschichte so dicht an uns heran. Es sind die äußeren Umstände, die daraus etwas Entsetzliches machen.

Antwort geändert am 16.05.2023 um 17:12 Uhr

 Redux schrieb daraufhin am 16.05.23 um 17:28:
Klingt enorm spannend und auch tiefgründig.
Und das Schlimmste, ich habe keine Ahnung.
Zu vergleichen mit dem Tappen im Dunkeln auf der Suche nach einem Mörder.
Hmmf.
Taina (39) äußerte darauf am 16.05.23 um 17:35:
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 Graeculus ergänzte dazu am 16.05.23 um 17:54:
Ich glaube, ich würde mich dem Rätsel über die Frage nähern, was wohl das schlimmste Verbrechen ist, das ein einzelner begehen kann (also vom kollektiven Verbrechen des Genozids abgesehen); so groß ist die in Betracht kommende Auswahl da ja nicht.

 Graeculus meinte dazu am 16.05.23 um 23:45:
Übrigens meine ich das mit dem schlimmsten Verbrechen zeit- und kulturübergreifend, während manche Vorstellungen dazu ja einem moralischen Wandel unterliegen.

 Graeculus meinte dazu am 17.05.23 um 17:18:
Wenn es zu schwierig ist, möchte ich es einmal so formulieren:

Ein Ehepaar bekommt ein Kind, einen Jungen. Da aufgrund einiger Anhaltspunkte die Aussichten für diesen Jungen sehr ungünstig sind, setzen die Eltern ihn aus.
Der Junge stirbt aber nicht, sondern wird von mitleidigen Menschen gefunden und durch sie aufgezogen. Da der Junge es nicht besser weiß, hält er diesen Mann und diese Frau für seine Eltern.

Zum jungen Mann herangreift, zieht er hinaus, um die Welt zu erkunden und einen Platz darin für sich zu suchen. An einer sehr engen Stelle der Straße kommt ihm ein rücksichtsloser Wagenfahrer entgegen, der ihn einfach zur Seite drängen oder gar überfahren könnte. Es kommt zu einem Streit, in dem der junge Mann den Fahrer erschlägt.
Keine ganz große Sache - ein guter Rechtsanwalt hätte daraus Notwehr oder allenfalls Körperverletzung mit Todesfolge gemacht, falls es zu einem Prozeß gekommen wäre.

Der junge Mann erreicht eine Stadt, die zufällig ein Problem hat, das er zu lösen vermag. Aus Dankbarkeit wählt ihn die Stadt zu ihrem, sagen wir: Bürgermeister, denn der alte ist gestorben. Weil es sich gut trifft, heiratet der junge Mann auch noch die Witwe des alten Bürgermeisters.

Und so hat er, ohne es zu ahnen, das schrecklichste Verbrechen begangen. Nur ist das noch nicht ermittelt - was er dann aus gegebenem Anlaß tut.
Taina (39) meinte dazu am 17.05.23 um 17:43:
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 Graeculus meinte dazu am 17.05.23 um 18:13:
Taina hat die richtige Antwort gefunden.
Das als Kriminalroman zu deuten, ist ungewöhnlich - ich wüßte nicht, daß das vor mir schon jemand getan hätte. Aber es hat diese Struktur! Und es ist ein toller Stoff!

 Graeculus meinte dazu am 17.05.23 um 18:34:
In einem privaten Kommentar hat Taina darauf hingewiesen, daß der Täter nicht die Absicht hatte, ein Verbrechen zu begehen. Das ist wahr, und das meinte ich mit:

ohne die geringste Ahnung gehabt zu haben, daß er ein solches Verbrechen beging

Ist er deshalb kein Verbrecher? "Unwissenheit schützt vor Strafe nicht." Da bekommt man vor Gericht allenfalls mildernde Umstände zugebilligt.

 Graeculus meinte dazu am 17.05.23 um 18:55:
Das Rätsel, das man - abgesehen davon, daß ich aus dem ganzen Werk ein Rätsel gemacht habe - mit ihm in Verbindung bringt, dort jedoch gar nicht vorkommt, lautet in einer andernorts überlieferten Version:

Was ist es, das eine einzige Stimme hat und bald vierfüßig, bald zweifüßig, bald dreifüßig ist?
Taina (39) meinte dazu am 17.05.23 um 21:38:
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 Graeculus meinte dazu am 18.05.23 um 22:51:
In einem Griechischforum gibt es eine anregende Diskussion dazu - falls das jemanden interessiert:

https://www.albertmartin.de/altgriechisch/forum/?view=9508#7

 Graeculus meinte dazu am 18.05.23 um 22:58:
An Taina:

Daß der Protagonist keine kriminelle Energie hatte, ist das, was ich mit seiner Unschuld meine, aus der heraus er schuldig geworden ist, und was das Tragische des Dramas ausmacht. Den eigenen Vater zu ermorden und mit der Mutter Inzest zu treiben, ist insofern ein Verbrechen, als es das stärkste Tabu verletzt, das man aus (meines Wissens) allen Kulturen kennt.

Wie dieser Fall aus heutiger Sicht juristisch zu beurteilen ist, ist eine andere Frage. Würden Ödipus und Iokaste heute verurteilt? Welche Rolle würde es dabei spielen, daß sie das Verbrechen ohne Absicht begangen haben? Eine unter Umständen mildere juristische Beurteilung beträfe jedoch nicht den Tabubruch als solchen. Er ist es, der Iokaste zum Suizid treibt und den Ödipus dazu, sich die Augen auszustechen - nicht die drohende strafrechtliche Veruruteilung.

 Graeculus meinte dazu am 19.05.23 um 22:06:
Für den Fall dessen, was man den weiblichen Ödipus-Komplex nennen könnte, also den Tötungswunsch der Tochter für die Mutter und das sexuelle Hingezogensein zum Vater, hat C. G. Jung den Begriff "Elektra-Komplex" (nach der Elektra eines anderen antiken Dramas, in dem die Tochter ihre Mutter tötet) eingeführt; Sigmund Freud ist ihm hierin nicht gefolgt.

(Habe ich jetzt erfahren.)
Taina (39) meinte dazu am 20.05.23 um 07:21:
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 Graeculus meinte dazu am 20.05.23 um 10:40:
Der Unterschied zwischen Ödipus im Drama und im Ödipus-Komplex der Psychoanalyse, auch zwischen Elektra im Drama und im Elektra-Komplex ist dermaßen eklatant, und weder Freud noch Jung waren ja völlig schimmerlos in der Kenntnis der literarischen Vorlagen, daß sich mir die Frage stellt, warum sie sich dennoch für diese Bezeichnungen entschieden haben.
Ob dem eine bestimmte psychoanalytische Deutung der antiken Mythen zuugrundeliegt?

 EkkehartMittelberg (16.05.23, 17:36)
Hallo Graeculus, ich habe die Lösung. Um das Rätsel nicht durch zu frühe Enthüllung zu gefährden, verrate ich nur, dass es sich um große Literatur handelt.

 Graeculus meinte dazu am 16.05.23 um 17:58:
Wahrlich. Aber in dieser ungewöhnlichen, um Namen, Stellung und Zeit bereinigten Darstellung offenbar nicht ganz leicht zu erraten.

 Quoth meinte dazu am 16.05.23 um 19:36:
Es ist deshalb leicht zu erraten, weil Du, Graeculus, das Rätsel aufgibst, und Dein Mantra ist ja: Es gibt seit der klassischen Antike nichts (relevantes) Neues unter der Sonne.

 Graeculus meinte dazu am 16.05.23 um 22:58:
Auch von dieser Seite kann man an die Sache herangehen. Ein paar zusätzliche Kenntnisse über meine Lieblingsepoche benötigt man dann allerdings schon noch - offenbar verfügst Du - ebenso wie Ekkehart - darüber.

Nichts relevantes Neues unter der Sonne? Nun, das "Wölfchen" war schon neu, das muß ich zugeben.

 Quoth meinte dazu am 17.05.23 um 10:00:
Kriminalroman hat mit Tragik nichts zu tun. Er beginnt mit dem "Fräulein von Scudéry" E.T.A. Hoffmanns und dem "Doppelmord in der Rue Morgue" von E.A. Poe. Dessen Ermittler Dupin ist m.W.  der erste Detektiv der Literaturgeschichte.

 Graeculus meinte dazu am 17.05.23 um 17:28:
Abgesehen von der Randfrage, ob die von Dir genannten Werke bereits Kriminalromane sind (selbstverständlich ist auch das ältere Werk, das ich im Sinn habe, kein eigentlicher Roman): In einem Kriminal"roman" geschieht ein Verbrechen und gibt es dafür einen Täter; dieser Täter wird von einem Ermittler (oder mehreren Ermittlern) gesucht und im Normalfall identifiziert. Diese Struktur hat auch das von mir gemeinte Werk.
Die Tragik besteht darin, daß der unschuldige und wohlmeinende Ermittler herausfinden muß, daß er zugleich der Täter ist und daß es sich dabei auch noch um ein extrem schreckliches Verbrechen handelt.

Das ist nicht die übliche Struktur einer Tragödie, es ist (auch) die Struktur eines Kriminalromans. Im Grunde gehört es in beide Genres.
Daß Literaturgeschichten Hoffmann und Poe als die Ahnherren des Kriminalromans bezeichnen, kann man ja einmal in Frage stellen, oder?

 Dieter Wal meinte dazu am 24.05.23 um 15:16:
Daß Literaturgeschichten Hoffmann und Poe als die Ahnherren des Kriminalromans bezeichnen, kann man ja einmal in Frage stellen, oder?
@Graeculus:


Hielt einmal ungelogen fünf (5!!!) geschlagene Schulstunden mein Mammutreferat über die Entwicklung des Kriminalromans. Zu meiner Entschuldigung kann nur gesagt werden, dass dies mein allererstes Referat war und die Schüler tatsächlich aufmerksam die ganze Zeit zuhörten. Ich sprach frei mit Notizen. Dürfte 40 Jahre her sein. Damals war Quoths Aussage  literaturwissenschaftlicher Standard. Was stört Dich daran? Gibt es einen antiken früheren Kriminalroman?

Ich mag besonders "Der Hund von Baskerville", "Den Namen der Rose", Dürrematt und unter den jüngeren mittlerweile längst aus der Mode gekommenen Kriminalautoren finde ich Simenons eher psychologische Kriminalromane entzückend, von denen mir die Figur Honoré Cuendet (Maigret et le voleur paresseux), " Maigret und der faule Dieb" mit Abstand am besten gefällt.

Welche Kriminalromane findest Du absolut lesenwert?

 Graeculus meinte dazu am 24.05.23 um 15:38:
Inzwischen habe ich im Griechischforum von einem Fachmann erfahren, daß die These, der "König Ödipus" sei einer der Archegeten (so sein Ausdruck) der Kriminalliteratur, eine verbreitete Ansicht ist. Da habe ich anscheinend, wenn auch nicht unbedingt hier, eine offene Tür eingerannt.

Was ist von meiner Kriminalroman-Lektüre in die Kiste mit der Aufschrift "Gut, daß ich das gelesen habe!" gekommen? Am ehesten manches, was mir die Psyche eines Verbrechers verständlicher gemacht hat, dann aber vor allem Romane, in denen der Mörder "einer von uns" ist, ohne daß wir zunächst wissen, wer - also etwa "Ten Little Niggers" und "Mouse Trap" von Agatha Christie.

 Graeculus meinte dazu am 24.05.23 um 15:39:
Unter den Simenon-Romanen ist "Die Katze" mein Favorit, aber das ist ja kein Maigret-, sondern ein Ehe-Roman.
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