Der Traum eines Bibliophilen

Bericht zum Thema Buch/ Lesen

von  Graeculus

Die größte Bibliothek der Antike war die in der von Alexander dem Großen gegründeten Stadt Alexandria am Westrand des Nildeltas. Errichtet worden ist diese Bibliothek von demjenigen Nachfolger Alexanders, dem Ägypten zufiel: Ptolemaios, der bis 282 v.u.Z. regierte. Auf ihn geht die Dynastie der Ptolemäer zurück, welche das Land bis zur Eroberung durch die Römer (Cäsar, Octavian Augustus) beherrschten und deren Herrscher allesamt Ptolemaios hießen, zur Unterscheidung in der Antike mit einem Beinamen und später mit einer Ordinalzahl versehen. Ptolemaios I. Sotēr (der Erlöser, Erretter), Ptolemaios II. Philadelphos (der Geschwisterliebende: er hat seine Schwester geheiratet), Ptolemaios III. Euergetēs (der Wohltäter) usw.

Vor allem Ptolemaios II. und III. waren geradezu fanatische Büchersammler. Sämtliche in Alexandria ankommenden Schiffe wurden auf vorhandene Bücher durchsucht, und die Agenten des Königs durchstreiften die damals bekannte Welt. Um die Bibliothek herum erbauten sie das sog. Museion (den Platz der Musen, wonach heute unsere Museen heißen), in dem sie allen berühmten Wissenschaftlern ihrer Zeit eine Stätte zum Wohnen und Forschen, auch zum Lehren boten; das Museion war also die erste eigentliche Universität mit allen dafür üblichen Fächern.

Um den Umfang der in dieser Bibliothek versammelten Werke anzugeben: Der antike Autor Aulus Gellius spricht von 700000 Schriftrollen. Dazu gehörten, um einige Kostbarkeiten zu nennen: der gesamte Troische Epenkreis (von dem heute nur noch die Ilias und die Odyssee erhalten sind), sämtliche Werke des Persers Zarathustra (heute verloren) sowie eine eigens angefertigte Übersetzung der Heiligen Schrift der Juden ins Griechische: die Septuaginta. Zu den dort tätigen Forschern gehörten Eratosthenes (der als erster den Erdumfang berechnete), Heron (der Erfinder der Dampfmaschine) und zeitweilig sogar Archimedes. Daneben gab es auch viele Philologen und Dichter.

Wie weit die Sammelleidenschaft ging, verdeutlicht die folgende Anekdote: In Athen existierte eine offizielle, sorgfältig überprüfte Ausgabe sämtlicher Dramen von Aischylos, Sophokles und Euripides (also nicht nur die heute noch erhaltenen), welche die Grundlage für jede Aufführung der Dramen in Athen bildete. An diesem kostbaren Werk zeigte sich Ptolemaios III. hoch interessiert; er beantragte seine Ausleihe, um eine Abschrift anfertigen zu lassen. Die Athener waren vorsichtig und verlangten 15 Talente als Pfand – wobei ein Talent ca. 26 kg Silber ausmachte. Ptolemaios hinterlegte den Betrag, ließ das Werk abschreiben, gab den Athenern die Kopie zurück, behielt das Original und ließ das Pfand verfallen.

Sämtliche Dramen des Aischylos, Sophokles und Euripides, von denen wir heute allenfalls ein Zehntel noch haben! Gäbe es eine Zeitmaschine, ich führe nach Alexandria und liehe mir dieses Werk aus – selbstverständlich gegen Hinterlegung eines angemessenen Pfandes. Damit in die Gegenwart zurückzukehren, das brächte mehr als einen Theaterregisseur um den Verstand.

Was aber könnte ich als Pfand hinterlegen? 390 kg Silber habe ich gerade nicht zur Hand. Ich könnte die zehn wichtigsten Bücher aus den verschiedenen Fachgebieten mitnehmen und anbieten, die seit damals erschienen sind. Bücher freilich, mit denen sie damals auch etwas hätten anfangen können.

Welche wären das?

Aber ... bitte gnädigerweise keine historische Darstellung über das spätere traurige Schicksal der Bibliothek von Alexandria. Von zwischenzeitlichen Bränden abgesehen, hat sie ihr Ende gefunden bei der Eroberung Alexandrias durch die Moslems unter Amr ibn al-As im Jahre 640. Dieser fragte den Kalifen Omar brieflich, was er mit den gefundenen Büchern machen solle, und erhielt die Antwort: „Was die Bücher der Bibliothek betrifft, so lautet meine Weisung: Wenn ihr Inhalt mit dem Koran übereinstimmt, sind sie überflüssig; wenn nicht, Frevelei. Geh also und zerstöre sie.“

So wird der Traum zum Albtraum.



Anmerkung von Graeculus:

Buchempfehlung:

Irene Vallejo: Papyrus. Die Geschichte der Welt in Büchern. Zürich 2022

Hinweis: Der Verfasser wünscht generell keine Kommentare von Verlo.

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Kommentare zu diesem Text


 Mondscheinsonate (13.12.23, 18:06)
Nationalbibliothek schenken. Schenkungen sind gang und gäbe. Deinen Text habe ich sehr gerne gelesen, besonders, weil ich Bücher auch sehr liebe.

 Graeculus meinte dazu am 13.12.23 um 18:52:
Die Nationalbibliothek schenken? Ach nein. Erstens wird man die mir wohl selbst mit Deiner Fürsprache nicht aushändigen, zweitens übersteigen die Transportkosten in der Zeitmaschine leicht 390 kg Silber, die ich - wie gesagt - nicht habe.
Nein, ich dachte nur daran: Welches sind die zehn wichtigsten Bücher nach der Antike, mit denen die Gelehrten damals etwas hätten anfangen können? Für die Relativitätstheorie und die Quantenmechanik fehlt ihnen die nötige Mathematik, für Thomas Bernhard die Kenntnis eines Staates namens Österreich usw. 
Aber mit Kopernikus und Galilei hätten sie wohl etwas anfangen können, ebenso mit einigen Philosophen, anderen hingegen nicht.
Das ist soetwas wie eine Variante des Spiels: Welche zehn Bücher nähme ich auf eine einsame Insel mit?

 Mondscheinsonate antwortete darauf am 13.12.23 um 18:57:
Haha, du weißt was ich meinte.
Du, mAn gibt es keine zehn wichtigsten Bücher, das ist subjektiv.

 EkkehartMittelberg schrieb daraufhin am 13.12.23 um 21:34:
Zu meinen zehn wichtigsten Büchern zählt Alberto Manguel: Eine Geschichte des Lesens, die momentan antiquarisch für 2,40 Euro erhältlich ist.                                                   Mit den meisten der dort erwähnten Beispiele hätten die Gelehrten der Antike etwas anfangen können. Ich stelle heute abend eine Besprechung dieses Buches von mir getrennt ein, die zu umfangreich für diesen Faden ist.

Antwort geändert am 13.12.2023 um 21:44 Uhr

 Graeculus äußerte darauf am 13.12.23 um 23:10:
An Mondscheinsonate:

Schauen wir doch mal. Wenn Du jemandem etwas schenkst, dann triffst Du klarerweise eine persönliche Vorauswahl. Zusätzlich denkst Du aber doch an die Interessen und die Aufnahmefähigkeit des Beschenkten. Du schenkst doch Deiner 11jährigen Nichte kein Studienbuch über die Polymerchenie.

Das Gleiche tut ja auch der Handel: Er orientiert sich nicht nur an dem, was er liefern kann, sondern auch an den Bedürfnissen der Verbraucher. Das ist doch der Grund, weshalb es hier im Ort (ich weiß nicht, wie es in Wien damit steht) im Lebensmittelladen so wenig eßbare Insekten gibt.

So habe ich mir das in meinem Gedankenspiel mit den Leuten von Alexandria gedacht: Was könnten die am besten brauchen? Daß Du dabei eine andere Auswahl träfest als ich, klar; aber Du würdest ihnen nicht ein Handbuch über europäisches Recht überbringen, denn was sollten sie damit anfangen?

Wie auch immer, ich hoffe, ich habe ein paar interessante Informationen über die legendäre Bibliothek von Alexandria und ihr trauriges Schicksal rübergebracht.

 Graeculus ergänzte dazu am 13.12.23 um 23:11:
An Ekkehart: Da bin ich gespannt. Das genannte Buch kenne ich nämlich nicht.

 Mondscheinsonate meinte dazu am 14.12.23 um 07:28:
So gesehen, ein BWL Buch.
https://davidson.weizmann.ac.il/de/online/sciencepanorama/die-gro%C3%9Fe-bibliothek-und-der-brand-der-keiner-war

Antwort geändert am 14.12.2023 um 07:29 Uhr

 Graeculus meinte dazu am 14.12.23 um 16:40:
Ein interessanter Artikel. Ich danke für den Hinweis.
Den arabischen Bericht über die endgültige Zerstörung der Bibliothek mit dem berüchtigten Omar-Zitat sieht Frau Vallejo nicht ganz so kritisch, auch wenn er nicht über jeden Zweifel erhaben ist.

 Mondscheinsonate meinte dazu am 14.12.23 um 18:18:
Ich habe auch durch deinen Text nachgelesen. Sehr spannend.

 Graeculus meinte dazu am 14.12.23 um 23:52:
Es ist beeindruckend, was man alles im Internet findet. Beeindruckend und beunruhigend, denn es führt - wie ich fürchte - zum Untergang des Sachbuches. Wer kauft schon noch ein Sachbuch, wenn er annimmt, alle Informationen im Netz zu finden?

 Mondscheinsonate meinte dazu am 15.12.23 um 05:42:
Sachbücher werden die Belletristik überleben.

 Graeculus meinte dazu am 15.12.23 um 22:42:
Nenne mich einen Pessimisten, aber da habe ich meine Zweifel. Was auf dem Buchmarkt noch läuft: Fantasy, Dark Romance, aber keine Sachbücher.
Taina (39)
(14.12.23, 07:29)
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 Graeculus meinte dazu am 14.12.23 um 16:43:
Bamyan und Palmyra sind vergleichbare Fälle: die Intoleranz einer monotheistischen Religion, die alles "Heidnische" als Gotteslästerung ansieht. Nicht nur im Islam: Die Christen haben das Serapeion in Alexandria, den größten Tempel der Antike, zerstört.
Allerdings denken zum Glück nicht alle diese Gläubigen so.
Taina (39) meinte dazu am 15.12.23 um 06:30:
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Taina (39) meinte dazu am 15.12.23 um 06:30:
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Taina (39) meinte dazu am 15.12.23 um 06:30:
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 Graeculus meinte dazu am 15.12.23 um 22:41:
Wenn man - um dieses Thema hier einmal anzuschneiden - Israel jetzt vorwirft, zivile Einrichtungen zu bombardieren, dann muß man sagen: das darf kein Staat im Krieg. ABER: Man muß natürlich auch die Gegenfrage stellen: Benutzt die Hamas zivile Einrichtungen (Krankenhäuser etc.) für militärische Zwecke? Hält sich die Hamas an die Regel, daß Kämpfer als solche erkennbar sein müssen (Uniformen etc.) und daß in Krankenhäusern keine Waffen gelagert, keine Kommandostellen eingerichtet werden dürfen? Das beachtet sie ganz offensichtlich nicht ... und das geht in der Diskussion unter.

Ob auch Bibliotheken unter den Schutz des Völker- und Kriegsrechts fallen?
Taina (39) meinte dazu am 15.12.23 um 23:35:
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 Graeculus meinte dazu am 16.12.23 um 23:01:
Oh! Woher hast Du denn diese Information über die Rolle der UNO? Davon habe ich noch gar nichts gehört.
Stammen die betreffenden UNO-Mitarbeiter aus arabischen Ländern?
Taina (39) meinte dazu am 17.12.23 um 08:52:
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 Graeculus meinte dazu am 18.12.23 um 17:41:
Ein starkes Stück! Die UNO sollte neutral sein.

 Terminator (15.12.23, 00:28)
Und mit dem Tod eines Kulturmenschen verschwindet jedesmal eine neue Bibliothek von Alexandria, weshalb manche zeitgenössischen Humanisten es für eine moralische Pflicht halten, die Technologie der Unsterblichkeit so schnell wie möglich zu entwickeln.

 Mondscheinsonate meinte dazu am 15.12.23 um 05:43:
Gut gesagt.

 Graeculus meinte dazu am 15.12.23 um 22:35:
Für so wichtig halte ich mich nicht. Ich bin nur ein Mensch, aber eine Bibliothek ist für die Menschheit.
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