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Kurzgeschichte zum Thema Verlassenheit

von  RainerMScholz

An den Stamm der unerdenklich alten Silberpappel gelehnt, die mächtig auf dem Kirchhof in den Himmel ragt, wartete Paul schon, ganz in Schwarz gekleidet. Er hatte eine langstielige Rose in der Hand und lächelte leise, versonnen scheinbar, trauernd. Obschon in Dunkel gehüllt, hob er sich ab gegen den in Schatten getauchten Horizont, der sich in die abgemähte Weite der Felder erstreckte vor dem Antlitz der verwitterten schiefen Steinkreuze.
Sandra trat zu ihm.
Er war wie Sand. Sand, der durch das Glas rinnt. Schwarz. Weißer Sandschatten. Weißer Sand. Sand. Weiß. In Schwarz. Gleißende Finsternis des Mondes.
"Ich werde nicht mitkommen."
Er küsste sie auf die Wange.
"Was ist los, Paul?"
"Ich werde nicht mitkommen. Hier, nimm die Rose."
Sandra griff nach dem dornigen Rot.
"Was meinst du, Paul? Meine Eltern werden beerdigt, du weißt doch - .“
"Ich gehe jetzt. Ich werde jetzt gehen."
"Ich verstehe nicht."
"Ich werde gehen. Das ist alles."
Paul küsste zärtlich ihr tränenfeuchtes Gesicht, das keines mehr war - : eine Maske, eine Fratze des Ungeheuerlichen, Grimasse der Verfinsterung. Sandra selbst verschwand aus den Zügen ihres Gesichtes.
"Aber ich verstehe nicht."
Er drehte ihr den Rücken zu und ging den Schotterweg hinab, durch das gusseiserne Tor - und war verschwunden.

"Ich verstehe nicht.", rief die Frau, die einmal Sandra war, doch sie blieb allein. Die Dornen der Rose bluteten in ihre Handfläche. Sie war der einzige Mensch auf der Welt. Die schartigen Blätter der alten knochigen Pappel murmelten im Wind, der von der See kam. Das Flüstern währte ewiglich, wie von unsichtbaren Mündern gesprochen aus sehr weiten Tiefen.

Der Wind wird immer da sein, der weiße Sand der Dünen, die wandern unter den Schatten.



© Rainer M. Scholz

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