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Kurzgeschichte zum Thema Verlassenheit

von  RainerMScholz

Orientierungslos lief sie durch die finsteren Flure, vorbei an abzweigenden verwinkelten Korridoren, stürzte Treppenfluchten hinab, um andere Stiegen wieder zu erklimmen in atemloser Hast, fand sich am Ausgangspunkt wieder. Das war jedenfalls ihre Empfindung. Sie klopfte und hämmerte mit den Fäusten an verschlossene Türen, sah in fremde leere Räume ohne Fenster, blickte in Spiegelglas, das nicht ihr Gesicht zeigte, sondern ein schrecklich anderes, ein fremdes, schemenhaft verzerrtes, wie aus Nebel, aus Eis, eine Fratze aus schartigem Eis. Endlose kaminartige Gänge verlagerten ihren Fluchtpunkt immer weiter nach hinten, je schneller sie lief, fielen perspektivisch in einen unsichtbaren Horizont, bis sie sich zu einem breiten Band verdichteten, das wie eine ewige Spur abzurollen schien. Graue Schwingen wie von riesigen Fledermäusen berührten ledrig ihr Gesicht, zerzausten ihr Haar, doch konnte sie die körperlosen Wesen nicht fassen. Wild schlug sie mit den Armen, nahe der Hysterie, knallte gegen die schorfigen Mauern des Schlosses, in dem sie gefangen war von einer fremden Macht, schlug zu Boden weinend - und erwachte zu dem Tag der Beerdigung.
Mühsam richtet Sandra sich auf, lässt die Beine über die Bettkante baumeln.
Der Boden der Pension, in der sie sich eingemietet hat, seit ihr Elternhaus abgebrannt ist, mit ihren Eltern, ist kalt an den nackten Füßen. Ihre Waden werden zum wächsernen Linoleum des Bodens. Ihr Körper wird wächsern und jedes Gefühl weicht aus ihr hinaus. Seit ihre Eltern verbrannt sind...das wächserne und puppenhafte, das taube Sein das sie ist...geht nicht weg...bleibt es...wird es bleiben...für immer...
Sandra bedeckt ihr Gesicht mit den zitternden Händen, versucht die Trauer zu beherrschen - aber wie, wie soll das gehen? -, den Alptraum der Nacht versucht sie abzuschütteln, oder den, der ihr Leben geworden ist.
Sie schluchzte gedehnt, ihr Oberkörper erbebte, schüttelte sich ohne ihre Kontrolle, - der Leib wehrt sich gegen den Geist, das Undenkbare, Unsagbare. Mit dem Handrücken wischte sie über die Augen und ging ins Badezimmer. Sie streifte das fleckige Nachthemd von den Schultern und wusch sich. Alles fort. Alles fort. Alles. Alle.

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