Sind Sie schon einmal Kafka begegnet?

Anekdote zum Thema Reinkarnation

von  EkkehartMittelberg

Vor 30 Jahren verbrachten meine Frau und ich bei schönstem Wetter einen Herbsturlaub in Alassio an der italienischen Riviera. Plötzlich kamen heftige Winde auf und wir beschlossen über die Route „Napoleon“ heimzufahren.
Wir wollten noch einige Sehenswürdigkeiten besichtigen, aber der Sturm  entwickelte sich zu einem Orkan und wir hörten im Autoradio besorgniserregende Nachrichten, dass der Orkan in Verbindung mit Regenfluten in Küstenorten, die wir gerade hinter uns gelassen hatten, Autos wie Spielzeug von der Straße gefegt hatte. Also gab ich Gas, um dem Sturm davonzufahren.
Am späten Abend befanden wir uns bei tiefer Dunkelheit in dem einsamen Gebiet der französischen Alpen ohne die Aussicht, noch eine größere Stadt mit einem komfortablen Hotel zu erreichen. Ermüdet von der Fahrt durch die regengepeitschte Landschaft beschlossen wir im nächstbesten Hotel mit Restaurant zu nächtigen. Das fanden wir in einem kleinen unbedeutenden Dörfchen. Verlockende Düfte aus der Küche erleichterten uns den Beschluss dort zu bleiben, ohne dass wir uns das Zimmer vorher angesehen hatten. Als wir bemerkten, dass die Betten wirkten, als hätte sie schon vor uns jemand benutzt, war es zu spät.
Wir konnten dem Aroma der Küche nicht widerstehen. Heißhungrig bestellten wir eine ausgiebige Mahlzeit, bevor wir unsere Blicke schweifen ließen. Wir konnten es nicht fassen, aber uns gegenüber saß Kafka. Er unterschied sich von den Bildern, die wir von ihm kannten, nur dadurch, dass sein Blick noch etwas trauriger war.
Er hatte wie wir ein mehrgängiges Mahl bestellt und wir konnten ihn ausgiebig beobachten, zumal er völlig in sich gekehrt von uns keinerlei Notiz nahm. Seine Meditation wurde gestört, wenn der Ober ein neues Gericht servierte. Er nahm zwar das Odeur der verschiedenen Gänge schnuppernd wahr, ließ sie aber alle unberührt stehen und bedeutete dem Ober nur mit einer resignierten Handbewegung, dass er abräumen sollte. Wir bestellten noch ein zweites Dessert, um zu sehen, wie diese Mahlzeit endete.
Schließlich zahlte Kafka ohne Reklamation seine vollständige Bestellung und verließ grußlos, ohne einen der Gäste eines Blicks zu würdigen, das Lokal.
Am nächsten Morgen erkundigte ich mich beim Frühstück nach dem seltsamen Gast. Das Hotelpersonal teilte unser Erstaunen. Er habe beim Frühstück wiederum nichts gegessen. Man habe ihn vorher noch nie gesehen. Der Gast sei abgereist.
Das Werk des wiedergekehrten Kafka und sein Verhalten zeigen eine Parallele. Sie sind schwer zu interpretieren.

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Kommentare zu diesem Text


 tueichler (20.10.21)
Sehr schönes Deschawüh! 😎

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 20.10.21:
Merci, obwohl sich damals noch mehrere Gäste in dem Speiseraum befanden, war uns die Begegnung unheimlich.
LG
Ekki

 harzgebirgler (20.10.21)
er roch wohl lunte schon, kaum auf der welt,
dass unheimliches viel bereit die hält.

lg
henning

 EkkehartMittelberg antwortete darauf am 20.10.21:
Gracias, Henning, das ist nicht auszuschließen. Freilich verriet sein Mienenspiel nichts von dem, was er fühlte und dachte.

LG
Ekki
Tod (56)
(20.10.21)
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 EkkehartMittelberg schrieb daraufhin am 20.10.21:
Merci, Tod. "Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, Horatio, von denen sich eure Schulweisheit nichts träumen lässt" (Shakespeare, Hamlet)

 minimum (20.10.21)
Lieber mit einem apathischen Kafka im selben Restaurant, als mit einem nölenden Böll oder einem bramabasierenden Grass

 EkkehartMittelberg äußerte darauf am 20.10.21:
Gracias, minimum, das können wir prüfen, wenn wir sie im Dichterhimmel treffen.
LG
Ekki

 Graeculus (20.10.21)
Geheimnisvoll! Spannend!

 EkkehartMittelberg ergänzte dazu am 20.10.21:
Grazie, Graeculus. Das freut mich, so sollte die Anekdote wirken.

 AZU20 (20.10.21)
Du hast aber Erlebnisse. Da kann man nur staunen. LG

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 20.10.21:
Merci, Armin, es wäre mir ein Vergnügen, die nächste Reise gemeinsam mit dir zu machen.
LG
Ekki

 AZU20 meinte dazu am 20.10.21:
Darüber reden wir noch mal. LG

 TassoTuwas (20.10.21)
Hallo Ekki,
an Kafka kommt keiner vorbei!
Was er zu seiner Zeit geschrieben hat war so außergewöhnlich, dass es einen eigenen Namen bekam, "kafkaesk".
Herzliche Grüße
TT

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 20.10.21:
Merci, Tasso,
als ich ihn mit 16 Jahren zum ersten Mal las, vergaß ich alles um mich herum.
Herzliche Grüße
Ekki

 Bergmann (20.10.21)
Kafkaessk!
Naheliegender Gedanke: Die Erscheinung des Toten hatte verständlicherweise keinen Hunger. Aber konnte sie denn riechen? Natürlich konnte sie das. In einer Parabel geht alles, - sagen wir: vieles. Meine Interpretation: Kafka ist temporär auferstanden in Ekkis Gedankenwelt. Ekki schreibt seinen Tagtraum auf, um ihn mit uns zu teilen. Nun like ich diese Idee.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 20.10.21:
Gracias, Uli, du kennst mich schon so lange, dass du weißt, dass ich dem Esoterischen nicht besonders verhaftet bin. Aber dieses Erlebnis in dem seltsamen Hotel war so intensiv, dass meine Frau und ich damals geschworen hätten, ihm wirklich begegnet zu sein.
Es war vielleicht gut, dass wir ihn nicht angesprochen haben. Möglicherweise hätte er mit einfältigen Worten unsere Illusion zunichte gemacht.
Herzliche Grüße
Ekki

 AchterZwerg (21.10.21)
"Unsereins" lebt ja in seinem eigenen (in meinem Fall besonders kleinen) Universum.
Und wie sich Edward Hopper in mancher Hotelbar wiederfinden lässt, so auch der göttliche - und deshalb traurige - Kafka.

Jedenfalls: Ein beneidenswertes Erlebnis! Und ich frage mich erbittert, warum ihr mich seinerzeit nicht sofort angerufen habt?

:(

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 21.10.21:
Liebe Piccola,
das ist ein Fehler, den ich mir nicht verzeihen kann. Beim nächsten Dejavue werde ich dich nicht vergessen.
HG
Ekki

 TrekanBelluvitsh (21.10.21)
Ihr hättet den Ober vielleicht fragen sollen, ob er bei Verdun gekämpft hat. Wenn er das bejaht hätte, wäre damit klar gewesen, dass dieses Hotel ein Loch in der Zeit war.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 21.10.21:
Merci für den Rat, Trekan. Das nächste Mal sind wir so schlau.

 Willibald (22.10.21)
Grass, grasser, kafkagrass.
Gruss
ww

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 22.10.21:
Darauf einen dankbaren Böller, Willibald.
LG
Ekki

 Dieter Wal (11.12.21, 21:26)
Anschauliche Beschreibung über Kafka als Autist. Durchaus möglich, wenn man sein Leben, Briefe und Texte kennt. Hätte er 3000 Jahre früher gelebt, wäre er Prophet geworden. So aber wurde er Franz Kafka. Der bedeutendste deutsche Prosaist.

Kommentar geändert am 11.12.2021 um 21:52 Uhr

Kommentar geändert am 12.12.2021 um 19:27 Uhr

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 12.12.21 um 20:03:
Danke für den gescheiten Kommentar, Dieter.
LG
Ekki

 abgetaucht (13.08.23, 14:59)
:unsure: 
.. schön ...

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 13.08.23 um 17:12:
Merci. :)
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