Mein Freund Ernst

Erzählung zum Thema Freundschaft

von  EkkehartMittelberg

Ernst war Bergmann, er fuhr unter Tage die Loren, die die frisch gehauene Kohle zu den Förderbändern brachten. Ernst arbeitete immer in Nachtschicht. So hatten wir im Sommer viel Zeit für unser gemeinsames Hobby: Radtouren.

Wir lernten uns kennen, als ich mal wieder mein Fahrrad mit einem Kohlesack als Entgelt für meine Nachhilfestunden durch die Kolonie der Bergarbeiter schob. Er sprach mich an, ob ich der Sohn von dem Lehrer Mittelberg sei, der ihn unterrichtet hatte. Ernst war Vollwaise und 10 Jahre älter als ich. Ich konnte nach meiner weltfremden Schulbildung auf einem Humanistischen Gymnasium in lebenspraktischen Dingen viel von ihm lernen.

Wie kam es aber dazu, dass aus einer flüchtigen Bekanntschaft Freundschaft wurde? Wir hatten in unserer Stadt einen Lesering, dessen Programm ich wesentlich mitbestimmen konnte. Also sorgte ich dafür, dass von Zola „Germinal“ auf die Tagesordnung kam. Der Roman handelt von Streiks von Bergarbeitern im nordfranzösischen Kohlerevier. Ich lud Ernst zu einem Diskussionsabend des Leserings ein und las u.a. eine bestimmte Stelle aus Germinal vor, die von den Grubenpferdchen unter Tage handelte, die die Loren zogen. Die Pferdchen, die symbolisch für die ausgebeuteten Arbeiter stehen, trotten so dahin und sind fast erblindet, weil sie nicht ins Freie kamen. Doch eines Tages hört man sie unter Tage wiehern. Was war passiert? Gegenüber der Grubeneinfahrt liegt ein Kornfeld und man hatte vergessen, das Grubentor zu schließen. Der Wind weht den Duft des Kornfelds bis in die Sohle, wo die Pferdchen vegetieren, die, der Natur entfremdet, immer noch natürlich reagieren. Ernst, der wie gesagt selbst Loren unter Tage fuhr, konnte erzählen, wie es dort zu seiner Zeit zuging und hatte einen guten Einstand in dem Lesering, in dem einige Mitglieder, wie Ernst durch keinerlei literarische Vorbildung belastet, eifrig in die literarische Welt eintauchten.


Aus dem Lesering ging eine kleine Gruppe hervor, die sich auch zu Theaterbesuchen und zum Tanze traf. Die meisten von uns studierten und unser Geld reichte gerade für den Eintritt. Ernst, der als Bergmann gut verdiente, spendierte uns öfter eine Flasche Wein und die Gruppe wusste seine Großzügigkeit zu schätzen.

Ich wurde zu Hause sehr puritanisch erzogen und benahm mich Mädchen gegenüber recht linkisch.

Ernst, der ein Bellami war, wies mich taktvoll auf manche Dummheit hin und bewahrte mich davor, ein verschrobener Sonderling zu werden.

Nach meinem Studium sahen wir uns nur noch selten, weil ich in Marburg meine Frau kennenlernte. Aber wir trafen uns dennoch weiter regelmäßig mit alten Bekannten aus dem Lesering.

Die Freundschaft mit Ernst hat ein Leben lang gehalten. Er starb an Erschöpfung. Im Ruhrgebiet sagt man: Er hatte die Maloche in den Knochen.



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Kommentare zu diesem Text


 Cathleen (04.12.23, 00:23)
Ein interessantes kleines Lesestück. Ich hätte noch stundenlang weiterlesen können. :)
LG Cathleen

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 04.12.23 um 11:55:
Danke, Cathleen.

LG
Ekki

 AchterZwerg (04.12.23, 05:41)
Lieber Ekki,
diese Erzählung um eine haltbare Freundschaft erfreut mein Herz.
Ebenso der vortreffliche Satz zum Ableben des Bergmanns, der "die Maloche in den Knochen gehabt hatte."

Herzliche Grüße
Piccola

 EkkehartMittelberg antwortete darauf am 04.12.23 um 11:59:
Vielen Dank, Heidrun.
In sanfteren Fällen lebten Bergleute ab, weil sie die Maloche in den Knochen hatten, in schwereren war es die Steinstaublunge.

Herzliche Grüße
Ekki

 Teo (04.12.23, 09:42)
Moin Ekki,
Schön, dass du diese Geschichte nachgelegt hast. 
Ach, es gab komische Vögel auf beiden Seiten dieser Schichten. Der arrogante Oberschulschnösel sowie der oberprollige Macker.
Du beschreibst das Zusammensein mit deinem Freund liebevoll und respektvoll.
Wenn ich dann den Schwachsinn von unserem Virenhirnchen betreffend "besserer Schichten", 
2 -Klassen- Gesellschaft, Gut und Böse,
Reich und Arm lese, verstehe ich, dass selbst Corona einen weiten Bogen um unsere Blitzbirne gemacht hat.
Wirklich nette Geschichte.
Gruß 
Teo
Muckelchen (70) schrieb daraufhin am 04.12.23 um 10:06:
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 EkkehartMittelberg äußerte darauf am 04.12.23 um 12:09:
Merci, Teo,  obwohl es in den 
Fünfziger Jahren in Hamm drei Zechen gab, gingen den meisten meiner Klassenkameraden die Bergleute am Arsch vorbei. Unser Primus freilich studierte Bergbau und war sein Leben lang sozial eingestellt.
Agnete (66) ergänzte dazu am 04.12.23 um 13:22:
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 Teo meinte dazu am 04.12.23 um 13:42:
Ja Schade...eigentlich hast du das doch gar nicht nötig.

 Dieter Wal meinte dazu am 06.12.23 um 16:03:
Unser Primus freilich studierte Bergbau und war sein Leben lang sozial eingestellt.
Novalis!

 willemswelt (04.12.23, 10:17)
beeindruckt mich sehr,Ekki,wie du die Verbindung zu dem Grubenarbeiter geschafft hast,bin auch ähnlich aufgewachsen und tat mich sehr schwer bei den  Gleichaltrigen ,da ich damals auch fast einziger`Studierender`war-Toll,deine Art des Erzählens-
einen schönen Tag für dich,Willem

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 04.12.23 um 17:21:
Gracias, Willem, ich habe vermutet, dass es in unserer Jugend Gemeinsamkeiten gibt.
Liebe Grüße
Ekki

 AZU20 (04.12.23, 11:43)
Bei meinem ähnlichen Werdegangwa ren mir soche Freunde auch nicht fremd. Es war immer schön, wennn die Freundschaft hielt. LG

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 05.12.23 um 18:31:
Vielen Dank, Armin,
ich habe Ähnlichkeiten vermutet

LG
Ekki

 Saira (04.12.23, 13:01)
Lieber Ekki,
 
gute Freunde brauchen Gemeinsamkeiten, müssen aber nicht die gleiche Schulbildung besitzen.
 
Deine Erzählung ist ein liebevoller Rückblick auf einen wunderbaren Freund.
 
Herzliche Grüße
Sigi

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 04.12.23 um 17:26:
Grazie, Sigi,
unterschiedliche Bildungswege können sogar für beide anregend wirken.

Herzliche Grüße
Ekki

 Saira meinte dazu am 04.12.23 um 18:42:
Das möchte ich unterschreiben!
Agnete (66)
(04.12.23, 13:23)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 04.12.23 um 17:31:
Danke, Monika,
so sehe ich es auch.
LG
Ekki

 Aron Manfeld (04.12.23, 17:32)
Hast Du denn schon jemals einen echten Freund gehabt, Ekkehart, nicht nur in der Literatur?

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 05.12.23 um 00:48:
Ja

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 05.12.23 um 00:48:
Ja

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 05.12.23 um 00:48:
Ja

 Dieter Wal meinte dazu am 06.12.23 um 16:09:
Und Du hast mich, Aron!

 plotzn (04.12.23, 21:41)
Eine wunderbares Beispiel für eine lebenslange Freundschaft, Ekki. Solche gibt es leider selten, umso wertvoller sind sie.

Liebe Grüße
Stefan

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 05.12.23 um 00:52:
Merci, Stefan, das erkennen nur die, die es auch erfahren durften.

Liebe Grüße
Ekki

 harzgebirgler (06.12.23, 10:40)
:) :) 
super erzählt, lieber ekki, und gerne gelesen!

...vom bertelsmannschen lesering
dem es um volkes bildung ging
stammte mein erstes lexikon -
ich zehrt' einst mit wonne davon. :D

beste grüße
henning

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 06.12.23 um 18:27:
Gracias, Henning, ich kann mich noch gut an den Lesering von Bertelsmann erinnern. Der Verlag war in den Fünfziger Jahren marktbeherrschend.
Beste Grüße
Ekki

 TassoTuwas (06.12.23, 14:43)
Lieber Ekki,

die Vielfalt des Lebens spielt sich draußen ab. Wer immer nur in seinen Kreisen unterwegs ist, hat eine eingeschränkte Sicht auf die Welt. Menschen, die eine Freundschaft wert sind, kann man in allen Schichten finden. 
Ein Ernst ist mehr wert als hunderte "likes".

Herzliche Grüße
TT

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 06.12.23 um 18:32:
Merci, Tasso,
das sehe ich auch so. Sehr berührend zu diesem Thema ist die Kurzgeschichte "Jenö war mein Freund" von Wolfdietrich Schnurre.

Herzliche Grüße
Ekki

 Dieter Wal (06.12.23, 16:08)
Ernst, der ein Bellami war, wies mich taktvoll auf manche Dummheit hin und bewahrte mich davor, ein verschrobener Sonderling zu werden.
Literaturnerds sind verschrobene Sonderlinge. You're welcome! :)

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 06.12.23 um 18:38:
Hallo Dieter,
sollten wir in die Hölle kommen, werden wir bestimmt einige treffen.

 Dieter Wal meinte dazu am 06.12.23 um 19:01:
Da drängeln sich lauter Literaturnerds. Wer wollte woanders sein?
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