Das Loch

Erzählung zum Thema Sinn/ Sinnlosigkeit

von  EkkehartMittelberg

Es ist ein sonniger Tag im Goldenen Oktober und er läuft vergnügt durch den Herbstwald, dessen Boden mit einer dichten Schicht herabgefallener Blätter bedeckt ist.
Plötzlich gibt der Untergrund unter seinen Füßen nach, und er fällt in die Tiefe. Er hat sich bei dem Sturz nicht verletzt und kann, nachdem noch einiges Laub auf ihn herab gesegelt ist, die Umrisse des Lochs erkennen, in das er gefallen ist. Wenn er sich auf die Zehenspitzen stellt, fehlt etwa ein halber Meter, um sich an der Peripherie des Lochs hoch zu stemmen. Er versucht vergeblich, die Kante des Lochs mit Sprüngen zu erreichen. Danach sucht er umsonst den Boden des Lochs nach Steinen ab, die er aufschichten könnte, um die Höhe für seine Sprünge zu verringern.
Er kann die Funktion des Lochs nicht erkennen. Offensichtlich wurde es nicht von Jägern ausgegraben, denn die hätten an seinem Boden eine Falle für Wild aufgestellt, das in das Loch gefallen wäre. Diese hätte für ihn eine Verletzungsgefahr bedeutet, aber andererseits hätte er darauf vertrauen können, dass die Jäger sich vergewissert hätten, ob sie erfolgreich waren und sie hätten ihn aus seiner bedrohlichen Lage befreit.
Es wurde ihm bewusst, dass er sich selbst aus seinem Verlies nicht retten konnte und dass er auf Hilfe von außen angewiesen war. Er entschloss jetzt um Hilfe zu rufen. Doch er wusste, dass seine Chance gehört zu werden, gering war, denn er hatte bewusst den Wanderweg verlassen und war quer durch den Wald gelaufen, weil abseits vom Wege mehr von dem Laub lag, dessen modrigen Duft er so gerne roch.
Er begann mit Pausen zu rufen, weil ihm klar war, dass er seine Kräfte schonen müsste. Es könnte sehr lange dauern, bis ihn jemand hören würde. Er hatte auch niemanden darüber informiert, dass er im Wald spazieren gehen würde und wo das Waldstück lag. So war er auf den Zufall angewiesen, dass jemand den einsamen Wanderweg in der Nähe des verwünschten Lochs benutzte oder dass Forstarbeiter das Waldsegment, in dem er gefangen war, inspizierten.
Die letzten Strahlen der Abendsonne fielen in das Loch, und er schichtete Laub für ein provisorisches Bett in kalter Nacht auf. Bald war es stockdunkel, und er hörte trostlos das Rascheln der Waldtiere über ihm und die Rufe eines Käuzchen, die ihn nach einem alten Aberglauben an seinen Tod erinnerten, den er bisher aus seinem Denken verdrängt hatte. Schließlich schlief er in den frühen Morgenstunden übermüdet und verzweifelt ein.
Am anderen Morgen meldete sich zum ersten Male der Durst, von dem er wusste, dass er ihn noch schlimmer quälen würde als der Hunger. Die Blätter am Boden des Lochs waren feucht von Tau. Er entschied sich, sie abzulutschen, wenn er den Durst nicht mehr würde aushalten können, obwohl ihm klar war, dass er den geringen Gewinn von Feuchtigkeit mit Magenschmerzen würde  bezahlen müssen.
Er vergrößerte die Intervalle zwischen seinen Hilferufen, um sich nicht zu sehr zu verausgaben. Aber es blieb totenstill, und er begann die Hoffnung zu verlieren, denn Durst und Hunger wurden in den folgenden Tagen so heftig, dass er öfter das Bewusstsein verlor und das Gefühl für die Tageszeit ihn verließ.
Nachdem dieser Zustand tagelang angedauert hatte, verfiel er in ein Delirium, in dem er mit den Fehlern seines Lebens konfrontiert wurde, aber auch Glückszustände erlebte, weil er sich zeitweise gerettet glaubte. Wenn er in die Wirklichkeit zurück fand, wurde seine Verzweiflung um so größer  und er sehnte sich in das Delirium zurück.
Wochen später fanden Pilzsammler seine Leiche in dem Loch.






Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text


 AchterZwerg (02.11.23, 06:39)
Lieber Ekki,

ich lese die überbordende Angst vor dem Tod (oder einer schweren Depression) heraus.
Und den Zweifel an deren Sinn.
Das Alter hält für einige solche quälenden Zustände bereit; andere sehen vielleicht Erlösung im finalen Schlaf ...

Deine Erzählung wirkt qualitativ hochwertig auf mich und ist mit ihrem sachlich-tragischen Schluss aus meiner Sicht vollendet pointiert.

Herzliche Grüße
Piccola

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 02.11.23 um 10:50:
Vielen Dank für deine interessante Interpretation, Piccola. Ich bin gespannt, ob es noch andere Deutungen geben wird.

Herzliche Grüße
Ekki

 Mondscheinsonate antwortete darauf am 02.11.23 um 21:37:
Besser als Zwergi könnte es man nicht auf den Punkt bringen.

 Saira (02.11.23, 09:13)
Hallo Ekki,
 
eine fesselnde und tragische Erzählung, die gar nicht so abwegig erscheint. Es gibt immer wieder Menschen, die sich im Wald verirren und erst durch Zufall, manchmal erst Jahre später, gefunden werden.
 
Liebe Grüße
Sigi

 EkkehartMittelberg schrieb daraufhin am 02.11.23 um 10:53:
Grazie, Sigi. Ja, man kann diese Erzählung auch als Realität nehmen. Auch auf diesem Wege kommt man zur Sinnfrage.

Liebe Grüße
Ekki

 AZU20 (02.11.23, 09:33)
Dieser Text hat es in sich. Der Leser hofft, dass es zu einer -wie auch immer geschehenden- Befreiung kommt. Je länger es dauert, umso mehr leidet man mit bis zum leicht dahingeschriebenen bitteren Ende.
Klasse. Lg

 AchterZwerg äußerte darauf am 02.11.23 um 10:49:
. :) Unsärn Azu!

 EkkehartMittelberg ergänzte dazu am 02.11.23 um 10:56:
Ich wollte den Leser mitleiden lassen. Schön. dass du das erkannt hast, Armin.

LG
Ekki

 uwesch (02.11.23, 10:52)
Könnte man als eine Metapher des Lebens ansehen. LG Uwe

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 02.11.23 um 10:58:
Merci, Uwe. Ich meine auch, dass dieser Gedanke nahe liegt.
So mancher fällt in ein Loch, aus dem er nicht herausfindet.

LG
Ekki
Agnete (66) meinte dazu am 02.11.23 um 12:49:
Diese Antwort ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 02.11.23 um 17:47:
Merci, Agnete,
manchmal ist das Leben gemein und tarnt seine Stolperfallen so raffiniert, dass ihnen selbst der Achtsame anheimfällt. Wir nennen die sinnlose Heimsuchung "Schicksal".

LG
Ekki

 plotzn (02.11.23, 14:40)
Servus Ekki,

wie? Kein Happy End? Dabei hatte es mein armes Herz so sehr herbeigepilchert.
Aber das Leben schreibt nun mal nicht nur Glücksgeschichten. Fesselnd geschrieben.

Liebe Grüße
Stefan

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 02.11.23 um 17:51:
Gracias, Stefan Ich habe nichts gegen Pilcher. Aber es gibt Löcher, die auch sie nicht stopfen kann. Möge uns das Glück davor bewahren.

Liebe Grüße
Ekki

 Graeculus (02.11.23, 14:50)
Gut erzählt. Ich war gespannt, wie die Geschichte ausgehen würde.
Die Frage nach der symbolischen Bedeutung kam dann später.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 02.11.23 um 17:56:
Vielen Dank, Graeculus. Die Geschichten, die das Leben schreibt, brauchen keinen Künstler der Spannung, sondern nur einen Nacherzähler.

 harzgebirgler (02.11.23, 15:43)
hallo ekki,

in so ein loch möcht' fallen wohl kaum wer
denn hoffnung besteht selten dann noch mehr
zumal auch unklar was kommt hinterher. 

lg
henning

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 02.11.23 um 18:00:
Grazie Henning,

wenn das blinde Schicksal so ein Loch für dich bestellt hat, kannst du ihm nicht ausweichen. An diesem Fatum knüpfen Religionen an.

Beste Grüße
Ekki
Muckelchen (70)
(02.11.23, 18:05)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 02.11.23 um 18:23:
Danke für deine aufmerksame Frage, Muckelchen.
Ich hoffe, dass durch den Zeitwechsel deutlicher wird, wie unendlich langsam sich die quälende Zeitspanne für den zum Tode Verurteilten hinzieht.
Zwingend ist dieses Stilmittel nicht. Da hast du recht.

LG
Ekki
Muckelchen (70) meinte dazu am 02.11.23 um 18:42:
Diese Antwort ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.
Teolein (70)
(02.11.23, 21:35)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 02.11.23 um 21:55:
Volker, du gehörst zu den Menschen, die positiv denken.
Die haben einen Schutzengel. :)
Beste Grüße
Ekki
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram