Das unverbrüchliche Festhalten an einer großen Liebe

Erzählung zum Thema Sterben

von  EkkehartMittelberg

Meine Tante Emma bewirtschaftete einen Bauernhof bis an den Rand ihrer Kräfte.
Onkel Ewald war im Zweiten Weltkrieg verschollen und sie gab die Hoffung nie auf, dass er zurückkehren würde. In diesem Fall wollte sie den gut geordneten Hof wieder in seine Hände legen.
Ich verbrachte als Junge fast alle Ferien bei ihr und genoss eine glückliche Kindheit auf dem Lande. Alle und sogar ich dummer Schuljunge wussten, dass Ewald nicht mehr heimkehren würde, aber keiner wagte es, Emma aus ihrer Illusion zu reißen.
Es war rührend zu erleben, wie sich diese Frau an ihre unerschütterliche Hoffnung klammerte. So trank sie zum Beispiel immer wieder aus einer Tasse, auf der in goldschimmernden Buchstaben eingraviert war: „Wenn auch der Hoffnung letzter Anker bricht, verzage nicht“. Bei ihrer harten Arbeit konnte sie kaum die Medien verfolgen. Aber sie versäumte es nicht, den Landfunk und die Suchmeldungen des Roten Kreuzes zu hören. Die Jahre vergingen, doch sie verlor nicht ihren Gleichmut und ihren Humor.
Ich habe sie nie traurig und verbittert erlebt. Im Gegenteil, sie hatte immer Scherze für mich und meine Kusine auf den Lippen und begleitete unsere kindlichen Spiele mit einfallsreichen Ideen, die uns zum Lachen brachten.
Irgendwann war von Ewald nicht mehr die Rede, den Suchfunk gab es nicht mehr, aber die Tasse blieb und das unverbrüchliche Festhalten an einer großen Liebe, obwohl es andere Freier genug gab.
Ich war schon im Schuldienst, als mich meine Kusine wissen ließ, dass ihre Mutter, die vorher nie krank war, im Krankenhaus liege. Ich ahnte Schlimmes und brach sogleich mit meiner Frau auf, um die liebe Tante zu besuchen. Da die Reiseentfernung sehr groß war, hatte Emma nie mit einem Besuch von uns gerechnet. Wer kann beschreiben, wie die alte Frau strahlte, als sie uns in ihrem Krankenzimmer sah. Ich weiß, dass das Wort hier kitschig klingt, aber sie war einfach selig.
Ich begriff instinktiv, dass ihre Tage gezählt waren, wie das oft bei Menschen der Fall ist, die nach Jahrzehnten der Gesundheit plötzlich erkranken. Ich vermute, dass auch Emma ahnte, dass ihr Leben zur Neige ging. Meiner Frau und mir wurde sehr schnell bewusst, dass es sich um einen Abschiedsbesuch handelte. Ich ahnte bis dahin nicht, wie sehr mich meine Tante schätzte. Wir trennten uns mit einem hellen Lächeln im vermutlich beiderseitigen Wissen darum, dass Freund Hein nicht weit entfernt war.

12. 04. 2021






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Kommentare zu diesem Text


 Fridolin (05.11.23, 00:23)
Ich weiß, dass das Wort hier kitschig klingt
Oh nein, keineswegs. Ich wollte, es gäbe mehr solcher Tanten ...

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 05.11.23 um 11:37:
Merci, Fridolin, vielleicht4 wird zu wenig über sie geschrieben.

LG
Ekki

 AchterZwerg (05.11.23, 07:14)
"Bis dass der Tod uns scheidet", zeigt hier seinen wahren Wert.
Bei den Treugläubigen auch die Hoffnung auf ein Wiedersehen im Jenseits ...

Liebe Grüße
Piccola

 EkkehartMittelberg antwortete darauf am 05.11.23 um 11:41:
Grazie, Piccola, das ist einer der Preise für Liebe, dass Menschen Scheidung durch Tod erleben müssen.

Liebe Grüße
Ekki

 tueichler (05.11.23, 08:29)
Eine melancholische Episode erzählt ohne Bitternis des Abschieds. Sehr stimmungsvoll. ‚Freund Hein‘ hört man so selten, dennoch eben nicht Schrecken sondern auch Freund.

 Redux schrieb daraufhin am 05.11.23 um 08:40:
Eine wunderbare Erinnerung. Nein, kitschig sind andere Geschichten..

 EkkehartMittelberg äußerte darauf am 05.11.23 um 11:45:
@tueichler: Ja, Tom, es gibt sie, die Momente, wo der Tod als Freund erfahren wird.

LG
Ekki

 EkkehartMittelberg ergänzte dazu am 05.11.23 um 11:49:
@ Redux: Herbert, es macht mich glücklich, dass diese Geschichte so gewürdigt werden kann.

LG
Ekki

 Mondscheinsonate (05.11.23, 08:56)
Oh, rührend, aber keinesfalls kitschig!

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 05.11.23 um 11:53:
Danke, Cori, auch du hast verstanden, dass es Gefühle gibt, die man von dem Vorwurf freihalten möchte.

LG
Ekki

 Mondscheinsonate meinte dazu am 18.11.23 um 08:54:
Und endlich kam jemand, den sie liebte, zurück. Stell dir vor, wie schön!

 plotzn (05.11.23, 10:14)
Berührend, lieber Ekki!

Das sind die tiefen Glückmomente innerer Verbundenheit.

Herzliche Grüße
Stefan

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 05.11.23 um 11:55:
Gracias, Stefan, das trifft es genau.

Liebe Grüße
Ekki
Teolein (70)
(05.11.23, 10:23)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 05.11.23 um 12:39:
Merci, mein Freund, ich denke, dass es selbst in den schlimmsten Zeiten großherzige Menschen geben wird. Glücklich, wer sie erleben darf.

Liebe Grüße
Ekki

 Saira (05.11.23, 12:47)
Lieber Ekki,
 
du hast uns an einer sehr schönen Erinnerung von dir teilhaben lassen. Deine Tante Emma muss eine starke und liebevolle Frau gewesen sein. Dein Onkel wäre mit Sicherheit unendlich stolz auf sie gewesen, hätte er von irgendwoher auf sie herabschauen können (vielleicht konnte er es ja auch)
 
Sie hat dir viel mitgegeben, denke ich. Unter anderem mehrere tolle Ferien bei ihr auf dem Land und den Blick auf eine unerschütterliche Liebe.
 
Herzliche Grüße
Sigi

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 05.11.23 um 13:45:
Hallo Sigi,
Grazie für diesen einfühlsamen Kommentar.

Herzliche Grüße
Ekki

Antwort geändert am 05.11.2023 um 15:51 Uhr

 harzgebirgler (05.11.23, 17:36)
hallo ekki,

deine erzählung erinnert mich besonders vom titel her an "unverhofftes wiedersehen" von johann peter hebel, die kein geringerer als ernst bloch einst "die schönste geschichte der welt" nannte.

lg
henning

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 05.11.23 um 17:40:
Vielen Dank, Henning,

wer möchte sich Ernst Bloch nicht anschließen?

Herzliche Grüße
Ekki

 TassoTuwas (06.11.23, 11:28)
Lieber Ekki,

hieß es allen Ernstes in der Kirche einmal, oder noch immer, 
"Bis dass der Tod euch scheidet", 
so sagt der Standesbeamte/die Standesbeamtin schmunzelnd, "Bleiben Sie möglichst lange beieinander" (wörtliches Zitat).

Der Fortschritt schreitet über Vieles fort.
Eine Geschichte die nachdenklich macht.

Herzliche Grüße
TT

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 06.11.23 um 15:30:
Gracias, Tasso,
der Tod, als der, der scheidet, ist fast immer mit Bitternis verknüpft. Doch manchmal wird er als Freund Hein begrüßt, der dem Leiden ein Ende setzt.

Herzliche Grüße
Ekki

 Augustus (06.11.23, 13:52)
Literarisch wohl wertvoller wäre doch den Moment einzufangen, als der Soldat den Bauernhof aus Zwängen verlassen musste. Wie reagierte sie da? Mit welchen Diminutiven nahm er ihr die Sorgen ab? Konnte er überhaupt ihre Sorgen abnehmen? Wenn sie an seine Rückkehr glaubte, dann ist dieser Glaube psychologisch interessant, wenn auch spätetestens nach 1945 Realitätsverweigerung und Tatsachenflucht betrieben wird.

ME überwiegen hier die Soldatenpflicht und äußere Zwänge mehr als das verbundene Gefühl der Liebe. Wenn man nicht auf Befehl marschiert ist, wurde man erschossen? War’s Landverrat? 

Es fehlt aber auch an der psychologischen Verarbeitung nach dem Kriegsende.  

Aus literarischen Blickwinkel ist die Bearbeitung solcher Themen weitaus fruchtbarer, gleichwohl es nicht verboten sein sollte, dass kein deutscher aus deutscher Briller auf deutschen Boden den Verlust seiner Liebe auf fremden Boden betrauern könne. 

Es ist daher immer fraglich, wenn äußere Zwänge eine Liebe entreißen, warum man sich nicht für die Liebe aufgeopfert hatte? Aus Pflichtgefühl?

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 06.11.23 um 15:34:
Merci, Augustus,
was du vorschlägst, ist eine andere Geschichte. Ich bezweifle, dass sie literarisch wertvoller wäre.

 AZU20 (07.11.23, 13:07)
Richtiger als Du, lieber Ekki, konnte niemand handeln. Helles Lächeln als Dank. LG

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 07.11.23 um 19:56:
Vielen Dank für dieses nette Kompliment, Armin.

LG
Ekki

 Dieter Wal (25.11.23, 11:52)
Sehr berührend. Ich denke dabei an den letzten Besuch bei unserer Mutter im Krankenhaus.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 25.11.23 um 22:50:
Danke, Dieter, das passt gut zu meinem Text.
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