Der Spaziergang

Prosagedicht zum Thema Erinnerung

von  AchterZwerg

Fünf Stühle an den Tisch gebunden
ein Blatt entflieht dem kahlen Baum
und in den Gassen nistet Wehmut -
es schweigt die Lerche im Geäst

Du schiebst den Rest des Tageslichts
in Vaters zerschlissenes Brillenetui
als lägen dort Worte verborgen
nach denen du lange gefahndet hast

in seiner verschlossenen Miene

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Kommentare zu diesem Text


 Moja (27.02.20)
Melancholie weht mich an, lieber AchterZwerg,
wunderbare Bilder!

Ich holpere ein bisschen bei den vorletzten Zeilen,
beim lauten Lesen kommt mir in den Sinn:

...als lägen Worte dort verborgen
nach denen lange du gefahndet hast...

Wie dem auch sei, ich möchte es wieder und wieder lesen...

Herzlichen Gruß,
Moja

 AchterZwerg meinte dazu am 27.02.20:
Liebe Moja,
ich hätte gern geändert, wenn ich deine Version als Verbesserung empfände.
Doch du bringst jeweils noch eine dritte "stille" Silbe ins Geschehen - also zu den Jamben und Daktylen etwas "Neues."
Ich verstehe aber deine Bedenken recht gut.
Reimlose Verse in frei(er)en Rhythmen sind nicht jedermanns Sache.
Zu meiner Ehrenrettung bringe ich mal ein Beispiel aus dem Nordseezyklus des großen Heine:


...
Aber zur rechten Zeit noch
Ergriff mich beim Fuß der Kapitän,
Und zog mich vom Schiffsrand,
Und rief, ärgrlich lachend:
Doktor, sind Sie des Teufels?
...

Schon der verwies auf eine Lyrik, die alle metrischen Fesseln sprengt und sich in ihren Versen bloß noch auf die Stimmigkeit der Gedanken- und Bilderwelt beruft.
Deshalb habe ich das Teilchen diesmal auch unter "Prosagedicht" verortet.

Vielen Dank und herzliche Grüße
der8.

 Didi.Costaire (27.02.20)
Schweigt die Lerche in der Lärche,
ist der Zwerch bei der Recherche. :)

Schöne Grüße, Dirk

 AchterZwerg antwortete darauf am 27.02.20:
Lieber Dirk,
viel Gezwitscher ist derzeit nicht zu hören.
Kann aber auch daran liegen, dass laufend Bäume umknicken oder gefällt werden ...

Scheißspiel
der8.

 DanceWith1Life (27.02.20)
auf'm Punkt, ja. die Brillenetuis und ihre Handhabung in allen drei Zeiten der Gemeinsamkeit

 AchterZwerg schrieb daraufhin am 27.02.20:
Danke, Dance. :)

 EkkehartMittelberg (27.02.20)
hallo Picola,
schöne Metaphern für deinen Spaziergang der Erinnerung. Je älter man wird, desto mehr Raum nimmt er ein.
Liebe Grüße
Ekki

 AchterZwerg äußerte darauf am 27.02.20:
Danke, Ekki,
ich mag die angebundenen Stühle am liebsten.
Schon irgendwie hart an der Realität ...

Picola

 Oggy (27.02.20)
War es nicht die Nachtigall, und nicht die Lerche?

LG,
Oggy

 AchterZwerg ergänzte dazu am 27.02.20:
Stimmpt! Doch in der Kleinstadtcity hört man die leider nur sehr, sehr selten.

 Artname (27.02.20)
Gefällt mir sehr gut.

Als Schluss drängte sich mir auf:

vorsichtig, als wären dort die Worte,
nach denen du so lange gesucht hast

in seiner verschlossenen Miene

lg

 AchterZwerg meinte dazu am 27.02.20:
Hmm.
Das muss ich, glaub ich, noch ein bisschen sacken lassen. *hüstel

 Artname meinte dazu am 27.02.20:
Musst du nicht! Sind ja MEINE Empfindungen.

MICH berühren fast immer einfache Worte stärker als, sagen wir mal, spezielle. So berührt mich in diesem Falle eben "suchen" besonders. Vermutlich hab ich als Kind nicht im Gesicht meiner Eltern "gefahndet". - Aber das ist mir zu individuell, um es breit diskutieren zu wollen.

Mich berührt dein Gedicht. Das reicht doch.

lg

 AchterZwerg meinte dazu am 28.02.20:
Aber Artname, LyrI ist doch längst erwachsen!

 Artname meinte dazu am 28.02.20:
Aber ja doch Achter, deshalb macht es aus dem kleinen Zwerg ja auch einen Fahnder.

 FrankReich (27.02.20)
Ja, selbst bei den heutigen Spaziergängen kann sich keiner sicher sein, nicht doch noch auf eine Mine zu treten.

Ciao, Frank

 AchterZwerg meinte dazu am 27.02.20:
Genau.
Oder man trifft auf Chinesen, Italiener oder Kölner!
Aha (53)
(27.02.20)
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 AchterZwerg meinte dazu am 27.02.20:
Da liegst du nicht ganz falsch.
Zumindest habe ich die Lust am Schreiben vom Vater "geerbt."
Jo-W. (83)
(27.02.20)
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 AchterZwerg meinte dazu am 28.02.20:
Lieber Jo,
das hängt vermutlich mit dem Kriegsgeschehen zusammen; bei mir schwieg (und verschwieg) besonders der Großvater mütterlicherseits.
Gruß
der8.
Sin (55)
(27.02.20)
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 AchterZwerg meinte dazu am 28.02.20:
Danke schön, Sin.
Mal klappts, mal nicht so ...
Al-Badri_Sigrun (61)
(27.02.20)
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 AchterZwerg meinte dazu am 28.02.20:
Dem Leser die Möglichkeit einzuräumen, meine Gedichte auf seine ureigene Art zu interpretieren, ist mir ein wichtiges Anliegen. Eigentlich das wichtigste überhaupt. :)

Herzliche Grüße
der8.

 eiskimo (27.02.20)
Mich hat das "verschlissene Brillenetui" angepiekst. Damit werden bei mir Erinnerungen wach an Familien-Abende mit Kreuzwort-Räseln oder Brettspielen. Und dann kamen da auch die Brillen zum Einsatz, damals nur bei den Alten. Und was für Brillen... Wir hatten viel Zeit, die Gesichter und Mienen unserer Lieben zu studieren.
Ein inspirierender, fast nostalgischer text!
LG
Eiskimo (Brillenträger)

 AchterZwerg meinte dazu am 28.02.20:
Das stimmt, Eiskimo.
Gern werden ja solche erinnerungsträchtigen Gebrauchsgegenstände wie ein Brillenetue, ein Feuerzeug, eine Uhr etc. von den Hinterbliebenen "ausgesucht". Oder die Dinge suchen sich einen passenden neuen Besitzer ...wer weiß das schon ...

Liebe Grüße
der8.

 BeBa (27.02.20)
Hallo 8.,

ein wunderbar melancholischer Text ganz nach meinem Geschmack. Mit den angebundenen fünf Stühlen hast du mich ja schon. Da kommen so viele Bilder, mögliche Interpretationen.
Na ja, und die letzte Zeile könnte ja fast von mir sein.

Sehr gern gelesen,
BeBa

 AchterZwerg meinte dazu am 28.02.20:
Dein Gefallen an diesem Gedicht überrascht mich nicht wirklich, BeBa.
In Hinsicht auf knappe Formulierungen habe ich ja einiges von dir gelernt. Und das immer wieder g e r n. Das Gute an Foren ist ja die gegenseitige geistige Befruchtung - wenn man sie denn zulassen kann.
Herzliche Grüße
der8.

 harzgebirgler (02.10.20)
und wieder werden bäume kahl
und wirkt die welt bisweil'n aschfahl.

lg
harzgebirgler

 AchterZwerg meinte dazu am 03.10.20:
Und in dieser Saison wirkt alles noch ein bisschen kahler als sonst ...

seufzende Grüße
der8.
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