Doppelter Kräfteschwund

Erörterung zum Thema Lebenseinstellung

von  loslosch

Singuli dies aliquid subtrahunt viribus (Seneca, um die Zeitenwende bis 65 n. Chr.; Epistulae morales). Jeder (einzelne) Tag entzieht uns etwas von unseren Kräften.

Diese Sentenz ist im Kern ein Aphorismus, eine Lebensweisheit. Vereinfachungen sind statthaft, sogar erwünscht, um eine Aussage durch Kürze zu würzen, zu pointieren. Bei näherem Betrachten gleichwohl ein missglückter Gedankensplitter; denn außer der Essenz, menschliches Leben sei zeitlich begrenzt, enthält der Sinnspruch nichts Bedenkenswertes. Leben in seiner Endlichkeit verläuft nicht annähernd linear, Lebenskräfte nach dem Erreichen des Zenits reduzieren sich nicht in voraussagbaren Wellen- oder Schlangenlinien. Eine uralte Binsenweisheit, die Seneca durch Knappheit im Ausdruck übergeht und so den Sinnspruch inhaltlich entleert bzw. verfälscht. Worte aus einem Kontext, von Seneca dem Briefpartner Lucilius zustimmend in den Mund gelegt und keineswegs als Epigramm gedacht. Doch unfreiwillig eine Anleitung, wie man Aphorismen nicht formulieren soll.

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Kommentare zu diesem Text


 TrekanBelluvitsh (30.04.15)
Hm...
ich denke, es kommt in diesem Falle stark auf den Zusammenhang an, in dem dies gesagt wird. Stellt man sich z.B. einen Briefeschreiber an der Westfront im Jahre 1916 vor, kann man das sicherlich so sagen und gut nachvollziehen - und ob dieser Briefeschreiber den Krieg letztlich überlebt, spielt dabei noch nicht einmal eine Rolle.

Darum würde ich dir a) zustimmen, dass man sich im Allgemeinen in den Fallstricken dieses Sprüchleins leicht verfangen kann, aber b) er im Speziellen durchaus eine nachdenkenswerte Bedeutung haben könnte.

 loslosch meinte dazu am 30.04.15:
in einer privaten mitteilung hat solches durchaus seinen platz. wenn alte menschen ihre gebrechen bejammern. das kann tröstlich sein, für empfänger wie absender.
AbrakadabrA (45) antwortete darauf am 30.04.15:
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Graeculus (69)
(30.04.15)
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 loslosch schrieb daraufhin am 30.04.15:
ich will ja nicht zu streng sein mit ihm. kaum ein "gedänklein", das es nicht in spruchsammlungen geschafft hat. ein spiel über bande mit nero ist auszuschließen. der war ja noch keine 30.

 EkkehartMittelberg (30.04.15)
Wenn man dem Spruch glaubt, gewinnt ein anderer "Carpe diem" (Nutze den Tag) noch mehr Sinn.

 loslosch äußerte darauf am 30.04.15:
o ja. jetzt hab ich mich aufgerafft zu verstehen, warum es dann weiter "credula postero" und nicht credulus postero heißt. leuconoe (f.) ist angesprochen.

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