Nachkriegsgeschichten. Die Fresswelle

Erzählung zum Thema Essen/ Ernährung

von  EkkehartMittelberg

Nachkriegsgeschichten. Die Fresswelle
Auf den Hungerwinter 1947/48  folgte in der deutschen Trizone 1948 die Währungsreform und über Nacht gab es zu erschwinglichen Preisen wieder alles zu kaufen, was das Herz begehrte, vor allem früher rationierte Lebensmittel, auf die man so lange hatte verzichten müssen, wie Fleisch und Fett. Steigende Real- und Nominallöhne sowie sinkende Preise für Lebensmittel begünstigten die Entstehung einer Fresswelle in Westdeutschland, die bis zum Ende der 50er Jahre dauerte.
Brennesselsuppe, Rindenbrot und Steckrüben aus den Trümmerjahren wurden jetzt abgelöst durch Schweinebraten, einen Hackbraten, den sog. Falschen Hasen, den Hawaii-Toast, durch Kartoffelsalat mit Würstchen, durch Buttercremetorten und durch opulente Desserts, wie zum Beispiel den sog. Kalten Hund, der aus Keksen, Fett, Kakaopulver und einer Schokoglasur bestand. „Der Pro-Kopf-Verbrauch an Schweinefleisch in der Bundesrepublik steigt zwischen 1950 und 1960 von 19 auf knapp 30 Kilo.“ ( https://www.bz-berlin.de/artikel-archiv/die-fresswelle-nach-dem-groen-mangel-1950er) Die Bundesbürger nahmen in den Fünfziger Jahren im Durchschnitt täglich 3000 Kalorien zu sich. Schärfere Gewürze, etwa das aus den USA eingeführte Ketchup oder Mixed Pickles befeuerten den Appetit, und so trug man in den Fünfziger Jahren selbstbewusst, weil man sich etwas leisten konnte, einen Wohlstandbauch vor sich her. Die rundlichen Figuren des Wirtschaftsministers Ludwig Erhard und des Komikers der Nation Heinz Erhardt schafften ein willkommenes Alibi für die Fresslust, die eine Minderheit erst Ende der fünfziger Jahre mit Diäten zu bekämpfen versuchte.
Man aß immer mehr Tiefgekühltes, und 1955 sehnten sich die Westdeutschen nach keiner Ware so sehr wie nach einem Kühlschrank. Das Essen bestimmte also ihr Bewusstsein ganz entscheidend.
Man könnte meinen, dass sie von der Wirkung dick machender Lebensmittel keine Ahnung hatten, weil sie so bedenkenlos „hinlangten“. Aber das täuscht. Bis gegen Ende der Fünfiger Jahre nahmen sie sich mit ihrer Körperfülle selbst auf die Schippe, ohne die Fresslust wirklich eindämmen zu wollen. Das bezeugt der beliebte Songtext von Heinz Arno Simon aus dieser Zeit:
„Ach, sag doch nicht immer wieder Dicker zu mir.
Nein, ich will das nimmer wieder, nimmer wieder hören von dir.
Mach mir doch das sowieso schon saure Leben damit nicht schwer.
Denn wenn du mich immer wieder Dicker nennst, das kränkt mich so sehr.
Ich nähr mich nur noch von Salat, Rettich und Spinat,
Täglich eine rote Rübe und das alles dir zuliebe.
Ach, sag doch nicht immer wieder Dicker zu mir.“
https://www.lyrix.at/t/hans-arno-simon-ach-sag-doch-nicht-immer-wieder-dicker-zu-mir-d6a
Im Bewusstsein, den Entbehrungen des Krieges und der Jahre danach bis 1948 entkommen zu sein, führte man sich ohne schlechtes Gewissen wegen ungesunder Ernährung seinen Nachholbedarf an schmackhaften Speisen vor Augen. Das galt selbst für Landwirte, die nicht hungern mussten. Ich habe bei meinen bäuerlichen Verwandten zu Ostern und Weihnachten mehrfach erlebt, dass sie unter Scherzen zig Eier und größere Teile von fetthaltigen Torten „verputzten“. Am Ende der Ferien wurden wir Kinder auf die Waage gestellt, um mit Befriedigung eine Gewichtzunahme festzustellen.
Betrachtet man heute, wie sich in den Massenmedien Sendungen über Appetit anregendes Kochen endlos fortsetzen und berücksichtigt man die intensive Werbung für fett- und zuckerhaltige Nahrung, dann kommt man zu dem Ergebnis, dass die Fresswelle für einen Teil der Bevölkerung in den westlichen Industrieländern, die dieser Verführung verfällt, nie aufgehört hat.
© Ekkehart Mittelberg, November 2017

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Kommentare zu diesem Text


 Sylvia (19.11.17)
Lieber Ekki,
mein Vater war noch sehr klein, als er aus Ostpreussen flüchten musste und Dinge erlebte, die ich niemandem gönne. Die Fresswelle kann ich durchaus nachvollziehen. Hält sie bis heute an? Ja, ich denke schon. Mir wird oft übel, wenn ich die Inhaltsstoffe lese. Der sogenannte Wohlstand der Industriestaaten spiegelt sich auf der Waage wieder. Interessant dazu finde ich, meine Eltern kaufen auf Vorrat für schlechte Zeiten, das sitzt ganz tief drin. Naja, jedenfalls denke ich, wir müssen von den ganzen ungesunden Zeugs weg. Problem: man bekommt kaum was ohne Zusätze.
Gerne gelesen
LG Sylvia

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 19.11.17:
Merci, Sylvia, mir geht es auch so, ich kann die Fresswelle für die Nachkriegszeit psychologisch nachvollziehen, für die heutige fällt mir das viel schwerer, wenngleich ich einräumen muss, dass die geheimen Verführer der Werbung unheimlich stark sind.
LG
Ekki
Graeculus (69)
(19.11.17)
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 EkkehartMittelberg antwortete darauf am 19.11.17:
Danke, lieber Graeculus, dein Beispiel für das Renommieren mit exzessivem Fressen ist sehr beeinduckend.
Bei der Fresswelle der Nachkriegszeit war dies freilich nur ein Aspekt, Wichtiger war damals wohl, sich durch nachholendes Schlemmen für Entsagungen psychisch zu entlasten.

Antwort geändert am 19.11.2017 um 01:29 Uhr

 loslosch schrieb daraufhin am 19.11.17:
@graecu: eine legendäre "strecke". honecker würde vor neid erblassen.

 Rothenfels äußerte darauf am 19.11.17:
Auf die Gefahr einer Diskussion hin:
Die Fressorgien der Vormoderne mit den heutigen zu vergleichen hinkt ein wenig, weil die Feste und Feiern vielmehr ein Ausdruck von Reichtum (deutest du ja selbst an) waren, als ein Bedürfnis nach Befriedigung von Entbehrtem infolge einer kargen Zeit. Während die vermodernen Orgien eher eine Sache weniger Reicher waren, ist die Nachkriegsvöllerei auch eher ein Massenphänomen.

 Didi.Costaire (19.11.17)
Dazu schreibe ich mal einen schlanken Kommentar:
Ein gehaltvoller Text, Ekki!
Liebe Grüße, Dirk

 EkkehartMittelberg ergänzte dazu am 19.11.17:
Grazie, Didi, es ist gar nicht so schwierig, einen gehaltvollen Text zu schreiben. Man muss nur wissen, welche Themen sich für gehaltvolle Polster eignen.
Liebe Grüße
Ekki
Sätzer (77)
(19.11.17)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 19.11.17:
Danke, Uwe. Es ist richtig, dass die Anlagen zur Fettleibigkeit durch falsche Ernährung in früher Kindheit gelegt werden.
Heute gehen die größten Gefahren von Geschmacksverstärkern aus, mit denen nicht nur die Zuckerindustrie arbeitet..
LG
Ekki
Stelzie (55)
(19.11.17)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 19.11.17:
Merci, Kerstin, es ist interessant, dass sich der Trend gegenüber den Fünfziger Jahren umgekehrt hat und man heute gesellschaftliches Ansehen nicht durch einen Wohlstandsbauch, sondern durch Schlankheit verkörpert.
Ein Verzicht scheint allgemein Schule zu machen: Der Verzehr von Fleisch ist rückläufig. Ansonsten haben sich die ungesunden Essgewohnheiten eher verstärkt:
"Die Weltgesundheitsorganisation ist alarmiert: Die Zahl extrem dicker Kinder und Jugendlicher hat sich in den vergangenen vier Jahrzehnten mehr als verzehnfacht. Während 1975 weltweit etwa elf Millionen 5- bis 19-Jährige fettleibig waren, waren es im vergangenen Jahr 124 Millionen, berichten die WHO und das Imperial College London im Fachblatt „The Lancet“. Weitere 123 Millionen Kinder seien übergewichtig. Der Trend halte zudem an, warnen die Experten." https://www.welt.de/gesundheit/article169502150/Bald-gibt-es-mehr-fettleibige-Kinder-als-solche-mit-Untergewicht.html
Gerhard-W. (78)
(19.11.17)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 19.11.17:
Danke, Gerhard, ich habe mir falsche Vorstellungen gemacht, weil ich glaubte, dass Klosterschüler reichlich und gut ernährt worden seien. Vielleicht war das aber je nach Orden unterschiedlich.
Meine Enkelin wollte auch mit mir auch zu Mac fahren, aber sie hat schnell begrriffen, dass der Opa bei dieser Adresse blockiert.
LG
Ekki

 princess (19.11.17)
Lieber Ekki,

in den 50er Jahren ging wohl durch den Magen, was in vielen Seelen aus den Erlebnissen davor noch fest hing. Vielleicht wurde zunehmende Körperfülle auch mit dem Gefühl subjektiv wieder wachsender Bedeutung verbunden: Man war wieder wer.

Herzliche Grüße
Ira

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 19.11.17:
Gracie, liebe Ira,
dein Kommentar trifft den sorglosen Umgang mit Übergewicht in den Fünfziger Jahren auf den Punkt. Nicht wenige präsentierten unbekümmert ihren geräumigen Resonanzboden.
Herzliche Grüße
Ekki

 TassoTuwas (19.11.17)
Hallo Ekki,
nach Jahren des Mangels ist das "große Fressen" zu verstehen.
Aber Reste wurden immer irgendwie weiter verwendet
Heute landet zu viel im Abfall, z.B. in den Mülleimern auf Schulhöfen, am Kiosk gibt es leckeres Ungesundes..
Immer noch besser als eine neue Nachkriegszeit!
Herzliche Grüße
TT

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 19.11.17:
Lieber Tasso, es ist richtig, dass heute zu viel im Abfall landet. Aber unsere Überflussgesellschaft schließt zu viele Arme aus.
" Lebensmittel aus der Mülltonne "Was Bioläden wegwerfen, ist unglaublich"

Mülltaucher, auch Containerer genannt, durchstöbern den Abfall von Supermärkten nach Lebensmitteln. Sie ernähren sich von dem, was die Geschäfte wegwerfen - das ist eine ganze Menge. Ihre Aktionen sind allerdings illegal."
http://www.spiegel.de/gesundheit/ernaehrung/containern-lebensmittel-aus-der-muelltonne-a-1009663.html
Herzliche Grüße
Ekki

 TrekanBelluvitsh (19.11.17)
Essen ist und war eben mehr als nur Energiezufuhr. Es ist ein Prozess über den sich Gesellschaft definiert, ganz gleich, in welcher Situation sie sich befindet. Darum wirkt ein Mangel auch so tiefgreifend. Beim Einzelnen hinterlässt er den Eindruck, gesellschaftlich nicht wertvoll zu sein, weil er/sie von ihr durch den Ausschluss von den gesellschaftlich akzeptierten Speisen, sich letztlich vom gesellschaftlichen Leben abgekoppelt sieht. Die Gesellschaft sieht sich bedroht bzw. existiert als solche nicht, weil ihr ein Definitionsmerkmal fehlt.

Und in dem von dir beschriebenen Beispiel geht es nur um eine recht kurze Hungerperiode, die mit dem was z.B. im ersten Weltkrieg in Deutschland oder im Winter 1944/45 in dem noch von der Wehrmacht besetzten Teil der Niederlande ereignet hat, gar nicht vergleichbar ist.

So braucht man kein Prophet zu sein, um zu erahnen, was teilweise jahrzehntelange Hungerkatastrophen mit einzelnen Landstrichen in Afrika anrichten: der Hunger, selbst wenn er Vergangenheit ist, wird den Weg zu einer friedlichen Gesellschaft in Zukunft extrem erschweren.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 19.11.17:
Merci,Trekan. Ja, die Fresswelle von 1948 in Deutschland ist ohne den vorausgegangenen Hunger nicht denkbar, der freilich nur für kurze Zeit herrschte. Du hast Recht, daran zu erinnern, welche politischen Risiken heute größere Hungerperioden weltweit bedeuten.

 AZU20 (19.11.17)
Ich erzähle gerne davon, auch mit dem Hintergedanken, Fressen heute wieder in Essen zu verwandeln. Ökologie tut Not. LG in den Sonntag

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 19.11.17:
Danke, Armin, wenn wir heute von der Entstehung der Fresswelle erzählen, haben wir meistens jüngere Zuhörer, die Hunger nur theoretisch aus großer Entfernung kennen.
LG
Ekki
Sinshenatty (53)
(19.11.17)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 19.11.17:
Grazie Sin, wir leben in einer glücklichen Zeit, denn sollte ich dir mit meinen Schilderungen Appetit gemacht haben, ist der Kühlschrank gleich in der Nähe.
LG
Ekki

 Rothenfels (19.11.17)
Handelt es sich hier wirklich um eine Erzählung?
Ich vermisse irgendwie die fiktionalen Elemente und fühle mich eigentlich sehr informiert (das soll keine negative Kritik sein - ich habe hier wirklich was gelernt!). Aber irgendwie reicht mir der Kommentar am Ende noch nicht aus, um es als Erzählung gelten zu lassen. Das Verhältnis stimmt irgendwie noch nicht.

Mir gefällt aber dein Gedanke, hier einen Bezug herzustellen, sehr gut. Gerade mit der aktuellen "Zuckergetränkesteuer"-Diskussion. Allerdings stimmt für mich - wie gesagt - das Verhältnis noch nicht ganz. Der Aktualitätsbezug ist noch zu knapp.

Finde ich.
LG,
TvR

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 19.11.17:
Merci, du hast Recht, im strengen Sinne handelt es sich hier eher um einen Bericht als um eine Erzählung. Mein Bestreben, persönliche Erfahrungen aus dieser Zeit, zum Beispiel das Wettessen bei meinen Verwandten auf dem Lande, einen repräsentativen Hintergrund zu geben, hat mich zum Bericht verführt.
LG
Ekki

 Rothenfels meinte dazu am 19.11.17:
Ahja, ein Erfahrungsbericht. Ja, das passt gut.
Liebe Grüße,
TvR
Sabira (58)
(19.11.17)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 19.11.17:
Grazie, Sabira, in den ersten Monaten nach der Währungsreform glaubte ich wirklich im Schlaraffenland zu sein. Nicht, dass meine Mutter stets aufwändig kochte, aber damals waren fast alle Einladungen mit Essen verbunden, weil man sich freute, seinen Gästen wieder etwas Gutes vorsetzen zu können.
Du verweist mit Recht auf die Gefahren falscher Ernährung heute, die auch nach meiner Beobachtung mit der Berufstätigkeit beider Elternteile zusammenhängt. Man kann es ja verstehen, dass es sich manche erschöpfte Mütter und Väter mit ungesunden Schnellgerichten einfach machen.
Liebe Grüße
Ekki

 GastIltis (19.11.17)
Hallo Ekki, ich stehe ein wenig neben der Handlung. Warum? Weil diese Welle uns nur in einigen Paketen (keine Handelsware) ansatzweise erreicht hat. Und ob der Inhalt, adressiert an die Kriegerwitwe (meine Mutter, die schwer zu tun hatte), noch im Originalzustand ankam, war kaum zu erkennen. Als ich 19 war, habe ich 60 kg gewogen; inzwischen 15 zugenommen. Bei mittlerer Körpergröße. Aber ich war auch immer sportlich aktiv. Also: ich stehe knapp daneben.
LG von Giltis.
PS: bitte keine Weihnachtspakete zusenden!

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 19.11.17:
Merci für deinen humorvollen Kommentar, Giltis. Obwohl nach der Einführung der Währungsreform die Löhne sitiegen und die Preise fielen, hat die Fresswelle damals nicht alle erreicht. Es ist wichtig, dass du unpathetisch indirekt darauf hinweist.
LG
Ekki

 harzgebirgler (20.11.17)
hans-arno simons song hört' ich als kind
sehr gern und oft - wie doch die zeit verrinnt! -
und "anneliese" von ihm ebenfalls
dank geliebten schelllackplattenschalls...

herzliche abendgrüße
henning

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 20.11.17:
Merci, Henning, du bist als einziger auf den Song von Hans-Arno Simons eingegangen, der das Fressverhalten der Fünfziger Jahre so liebenswürdig ironisch auf die Schippe nimmt.
Herzliche Grüße zurück
Ekki
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