Geschlechtsdiskriminierende Paragraphen im Strafgesetzbuch?

Glosse zum Thema Gerechtigkeit/ Ungerechtigkeit

von  Graeculus

Der § 175 war ein solcher, denn er sah eine Bestrafung ausschließlich für männliche Homosexuelle vor. Zum Glück gibt es diesen Paragraphen nicht mehr – ein Umstand, der allerdings nicht die Frage beantwortet, warum im deutschen Strafrecht die weibliche Homosexualität nicht verfolgt wurde.

Der § 218 bestraft den Schwangerschaftsabbruch. Das gilt – anderen Annahmen zum Trotz – auch heute noch; allerdings sieht der Staat gemäß § 218a und § 219 in bestimmten Fällen von der Bestrafung ab, läßt also Ausnahmen zu. Da an einem illegalen Schwangerschaftsabbruch auch ein männlicher Arzt beteiligt sein kann, spricht der § 218 nicht von einem bestimmten Geschlecht.

Dann haben wir den § 183 (1), und dort werden wir fündig: „Ein Mann [sic!], der eine andere Person durch eine exhibitionistische Handlung belästigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft.“
Wie es scheint, hat noch niemand gegen diese Geschlechtsdiskriminierung protestiert. Die allgemeine Vorstellung ist halt die von einem Mann, der im Park gegenüber einer „anderen Person“ plötzlich seinen Mantel öffnet und zeigt, was er vermeintlich Erregendes, jedenfalls Erregtes darunter trägt.

Hinweis: Der Verfasser wünscht generell keine Kommentare von Verlo.

Möchtest Du einen Kommentar abgeben?
Diesen Text kommentieren

Kommentare zu diesem Text


 Terminator (18.08.21)
Ursachen sind wohl verschieden: dass Männer öffentlich keine Schwänze zeigen dürfen, liegt an der Angst anderer Männer vor dem Schwanzvergleich und am Ekel eines Mannes, "seine" Frau oder Tochter würde einen nackten fremden Mann sehen. Keine Geschlechtsdiskriminierung, sondern ein Paragraph von Männern für Männer.

Was die Bestrafung männliche Homosexualität angeht und die Nichtbestrafung weiblicher, da handelt es sich um Gynozentrismus: die Frau will das alleinige Sexualobjekt des Mannes sein. Die Frau will die Sexualität des Mannes kontrollieren. Deshalb wird nicht nur männliche Homosexualität verfolgt, sondern auch emotional zu enge Bindungen in Männerfreundschaften werden beschämt: die sollten Angst haben, dass man sie für schwul hält. Wo Homosexualität längst nicht mehr bestraft wird, herrscht deshalb immer noch Homophobie.

 Graeculus meinte dazu am 18.08.21:
Ein Paragraph von Männern für Männer - das stimmt; man muß bedenken, daß es Männer waren, die solche Gesetze wie den § 183 gemacht haben.
Aber widerspricht diese Tatsache nicht Deiner Argumentation im zweiten Abschnitt? Auf das, was die Frau sein will, kommt es unter diesen Umständen ja nicht an.

 tueichler (18.08.21)
Wenn §183(1) für Frauen Gültigkeit hätte, dann müsste wohl jede Table-Dance-Bar schließen, da diese ja beklanntlich von ausgeprägtem Exhibitionismus leben 😂

 Graeculus antwortete darauf am 18.08.21:
Gäbe es da nicht das Verb "belästigt" im Gesetz. Ich nehme nicht an, daß sich die Besucher solcher Bars durch die Darbietungen belästigt fühlen.

Anders steht es bei der russischen Gruppe Pussy Riot, die sich provokanterweise in einer Kirche entblößt hat.

Aber spontan denkt man bei weiblichem Exhibitionismus natürlich an solche Fälle, wie Du sie erwähnst.

 Regina (18.08.21)
Muslimische Kleidung vermeidet den weiblichen Exhibitionismus. Aber das ist schon wieder too much.

 EkkehartMittelberg schrieb daraufhin am 18.08.21:
Hallo Graeculus,
kann es sein, dass man bei der Abfassung des §183(1) weiblichen Exhibitionismus auf den von dir beschriebenen Park-Exhibitionismus reduzierte und deshalb für unerheblich hielt?
Ist es möglich, dass man männlichen Exhibitionismus deshalb mit Strafe bewehrte, weil man vermutete, dass er in Gewalt umschlagen könne, der weibliche aber nicht?

 Graeculus äußerte darauf am 18.08.21:
An Regina.
Muslimische Kleidung vermeidet ihn bei Frauen, ist aber etwas kurzatmig bei der Frage, wer wen dadurch belästigt.

 Graeculus ergänzte dazu am 18.08.21:
An Ekkehart:

Laut StGB-Kommentar von Thomas Fischer ist Deine erste Vermutung zutreffend: Der Gesetzgeber hielt ihn für unerheblich, nämlich extrem selten
Daß er vorkommt, belegt die russische Frauengruppe Pussy Riot, die sich als Provokation in einer Kirche entblößt hat ... und dafür in Rußland auch bestraft worden ist.

Vgl. den Artikel "Femen" bei Wikipedia.

Nun, es mag selten sein, und das größere Rätsel ist sicherlich die Frage, warum weibliche Homosexualität nie im § 175 beinhaltet war.

 Willibald (18.08.21)
Die Begründung/Argumentation des Bundesgerichtshofes von 1957 liest sich im Spiegel ausführlich und soziokulturell spannend:

Anwalt Hesse hatte seine Verfassungsbeschwerde vornehmlich auf zwei Argumente gestützt:

> Der Paragraph 175 verstoße gegen das Gleichheitsprinzip des Grundgesetzes, da er gleichgeschlechtliche Unzucht nur bei Männern, nicht aber bei Frauen bestrafe.

> Der Paragraph 175 beschränke das im Grundgesetz garantierte Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit.

Um Klarheit über diese Fragen zu gewinnen, hatten die Karlsruher Verfassungsrichter sich zunächst von einem halben Dutzend prominenter Gutachter - Mediziner, Soziologen und Kriminologen über den neuesten Stand der Forschung unterrichten lassen.

Die Gutachten der Sachverständigen zeigten zwar, daß die Experten weiter davon entfernt sind als je, über das Wesen der Homosexualität einig zu sein. Trotzdem aber wurde erneut deutlich, was die Strafrechtsreformer schon seit langem wissen: daß nämlich die Mediziner ganz überwiegend den Paragraphen 175 (nicht jedoch den Paragraphen 175a) für ungerecht oder doch zweckwidrig halten.

Zum ersten Mal beantworteten diese Experten auch die Frage, ob es sachlich gerechtfertigt ist, zwar männliche Verirrungen, nicht aber die lesbische Liebe zu bestrafen. Professor Kretschmer, der Direktor der Universitäts-Nervenklinik Tübingen, verneinte einen Unterschied zwischen männlicher und weiblicher Abirrung, soweit es sich um die Frage der sozialen Gefährlichkeit, der Bedrohung von Personen oder Rechtsgütern handele. Grundsätzlich, so erläuterte Professor Graßberger, Leiter des Wiener Universitätsinstituts für Kriminologie, gefährde der einzelne homosexuelle Akt die sozialen Interessen bei Mann und Frau in gleicher Art.

Das Gericht bekannte sich jedoch in seinem Urteil zur gegenteiligen Auffassung. Es stellte fest, das Grundgesetz sei hier nicht anwendbar, weil »die Eigenart der Frau als weibliches Geschlechtswesen und die Eigenart des Mannes als männliches Geschlechtswesen den Tatbestand so wesentlich verschieden prägen, daß das vergleichbare Element - die anormale Wendung des Triebes auf das eigene Geschlecht - zurücktritt und lesbische Liebe und männliche Homosexualität im Rechtssinne als nicht vergleichbare Tatbestände erscheinen«.

Maßgebend für diese Entscheidung war die Annahme, daß die Prostitution für die männliche, nicht aber die weibliche Homosexualität spezifisch sei, was von allen Sachverständigen bestätigt wurde. Weitere prinzipielle Unterschiede zwischen weiblicher und männlicher Homosexualität sah das Gericht in der Tatsache, daß »der lesbisch veranlagten Frau das Durchhalten sexueller Abstinenz leichter« gelinge als dem Manne, und daß »zwischen einer lesbischen Beziehung und einer zärtlichen Frauenfreundschaft kaum eine Grenze zu ziehen ist«. Daran knüpft das Gericht den überraschenden Schluß, daß »infolgedessen . . . Frauen, wenn weibliche Homosexualität unter Strafe gestellt würde, der Gefahr

der Erpressung in weit höherem Maße ausgesetzt (wären) als Männer«.

Mit dem Hinweis auf die Erpressungsgefahr für Lesbierinnen, der offenbar die Straffreiheit lesbischer Liebe rechtfertigen helfen soll, gibt das Gericht einer Zweckmäßigkeitserwägung Raum, die es - ausdrücklich und betont - im Bereich männlicher Homosexualität nicht gelten lassen will. Denn daß die soziale Gefährdung männlicher Homosexueller nach Ansicht der meisten Kriminalisten eine Folge der Strafandrohung und der sich daraus ergebenden Gefahr der Erpressung ist, darauf ging das Gericht mit keinem Wort ein.

Mehr noch aber als an den eigenartigen Konstruktionen, mit dem die Verfassungsrichter sich über das Gleichheitsprinzip hinweggesetzt hatten, nahmen die Rechtsgelehrten der »Großen Strafrechtskommission« an der Begründung Anstoß, mit der das Verfassungsgericht den Homosexuellen das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Artikel 2 des Grundgesetzes) versagte.

In der Verfassungsbeschwerde, über die das Gericht zu befinden hatte, war vorgebracht worden, Paragraph 175 widerspreche diesem Grundrecht, denn es sei »eine gewaltsame Einengung der Existenz gleichgeschlechtlich empfindender Menschen - deren Eigenheit in den meisten Fällen angeboren ist -, wenn man ihnen nicht die Möglichkeit gibt, diese Empfindungen in die Tat umzusetzen«. Insbesondere bestehe kein öffentliches Interesse daran, »die freiwillige Ausübung homosexuellen Verkehrs unter Erwachsenen unter Strafe zu stellen«.

Mit dem Hinweis auf dieses allgemeine Persönlichkeitsrecht hatte der Anwalt die Verfassungsrichter in die Enge getrieben; sie mußten zugeben, daß zu der vom Grundgesetz »gewährleisteten freien Entfaltung der Persönlichkeit... auch das Gebiet des Geschlechtlichen« gehört.

Um gleichwohl die Verfassungsbeschwerde abzuweisen, bedienten sich die Karlsruher Richter einer rechtlich einigermaßen bedenklichen Argumentation. Sie räumten zwar ein, daß es einen »letzten unantastbaren Bereich menschlicher Freiheit« gebe, »in den einzudringen also dem Gesetzgeber schlechthin verwehrt ist«, und daß »auch Vorgänge, die sich in ,Kommunikation' mit anderen vollziehen«, in den engsten Intimbereich fallen und »dem Zugriff des Gesetzgebers entzogen sein« können. Ob das aber der Fall ist oder nicht, hängt nach Karlsruher Lehre ausschließlich davon ab, »ob der Sozialbezug' der Handlung intensiv genug ist«.

Für die Frage, wann ein Eingriff des Gesetzgebers in den unantastbaren Bereich menschlicher Freiheit intensiven Sozialbezugs halber zulässig ist, »kann es nun von großer Bedeutung sein«, so erläuterten die Richter, »ob die in Frage stehende Handlung gegen das Sittengesetz verstößt«.

Am Zopf des Sittengesetzes zogen sich die Karlsruher Richter, wenn auch mit einiger Mühe, aus der Verlegenheit. Sie gaben zwar zu, daß Schwierigkeiten bestehen, »die Geltung eines Sittengesetzes festzustellen«, erklärten aber kategorisch: »Gleichgeschlechtliche Betätigung verstößt eindeutig gegen das Sittengesetz.«

Die Richter erläuterten auch, woher sie die Maßstäbe für sittliches Verhalten ziehen, nämlich aus den Lehren der beiden großen christlichen Konfessionen, die allerdings, anders als die Karlsruher Richter, keinen Unterschied zwischen weiblicher und männlicher Homosexualität machen und überdies auch - außerhalb der Ehe - normale sexuelle Beziehungen als unsittlich verurteilen.

Die Verfassungsrichter störte es offenbar auch nicht, daß sich zumindest eine der großen christlichen Konfessionen vor einiger Zeit mit dem Problem der Homosexualität besonders gründlich befaßt und dabei aus dem christlichen Sittengesetz wesentlich andere Folgerungen gezogen hatte als das Bundesverfassungsgericht.

Der »Römisch-Katholische Beratungsausschuß«, der in England unter dem inzwischen verstorbenen Erzbischof von Westminster, Bernard Kardinal Griffin, über die Probleme der Homosexualität beriet, stellte in seinem 1956 veröffentlichten Schlußbericht fest: »Es ist nicht Sache des Staates, in den höchstpersönlichen Bereich einzugreifen ... Dinge, die zwar sittlich verwerflich sind, die aber das Gemeinwohl nicht berühren, gehen den irdischen Gesetzgeber nichts an.«

 ext. Link

 Graeculus meinte dazu am 18.08.21:
Danke für diesen Hinweis. Leider lagen die lichtvollen Argumente nicht auf der Seite des Bundesgerichtshofes, dessen Ausführungen - nicht nur aus heutiger Sicht, wie mir scheint - eher peinlich sind.

Ich hätte nicht gedacht, daß ich einmal einem Erzbischof applaudieren würde.

 TrekanBelluvitsh (18.08.21)
Rupert Scholz (CDU), Verteidigungsminister 1988/1989, war in jener Zeit der Meinung, dass die Richter in der Militärjustiz der Wehrmacht völlig korrekt gehandelt hätten. Demnach sollte man unter Juristen nicht weniger Deppen erwarten.

 Graeculus meinte dazu am 18.08.21:
Man ist versucht, von Juristen logisches Denken zu erwarten, aber auch sie sind (a) Kinder ihrer Zeit und (b) dem Eigentinteresse (Klasseninteresse?) verhaftet.

Wie Terminator schon schrieb, werden Gesetze traditionell von Männern gemacht.
Erklärt das den Umstand, daß Homosexualität nur unter Männern verboten war?

 TrekanBelluvitsh meinte dazu am 18.08.21:
Wie Terminator schon schrieb, werden Gesetze traditionell von Männern gemacht.
Erklärt das den Umstand, daß Homosexualität nur unter Männern verboten war?[7quote]Der Staatsanwalt, der Bill Clinton wegen seiner Affäre mit Monica Lewinski anklagte, musste sich zuerst schlau machen, was Oralverkehr war. Er, konservativ und streng religiös, wusste es nicht. Darum: Nein, ich denke es nicht bzw. ja, aber aus einem Grund, der die Dummheit der Paragraphenmacher widerspiegelt: Sie konnten sich Homosexualität zwischen Frauen nicht vorstellen.

 Graeculus meinte dazu am 18.08.21:
Dann kannten sie wohl Sappho von Lesbos nicht. Überrascht mich das?

 TrekanBelluvitsh meinte dazu am 19.08.21:
Nun, dass Männer, die das Geschäft der Juristerei betreiben, eines, das vorgeblich Jahrtausende alt ist, und sich dennoch als gut christlich versteht, weil es zum Kanon der klassischen Bildung gehörte und lange in Klöstern gelehrt wurde - wenn also solche Männer, die sich (auch) als gute Christenmenschen defininieren, "heidnische" Geschichten und Legenden nicht kennen bzw. wenn sie diese kennen, sie nicht ernst nehmen, überrascht mich nicht.

Vorchristlichen Geschichten können nicht wahr sein, weil sie ja nicht in der Bibel stehen. Denn was in der Bibel steht, ist wahr - und was heute nicht mehr für alle Christen gilt, galt bis vor gar nicht so langer Zeit noch für alle: Es ist buchstäblich wahr. Was wiederum bedeutet, das antike vorchristlich bzw. heidnische Geschichten nicht wahr sind.

 Graeculus meinte dazu am 19.08.21:
Kann man Juristen (bis zur Zeit der Abschaffung des § 175) als christlich geprägt ansehen?
Nun, sie mußten Latein können und hatten sicher überwiegend ein humanistisches Gymnasium besucht. Da dürfte/müßte ihnen die Antike auch anders begegnet sein.
Und viele haben sich dem Nationalsozialismus ergeben - nicht sehr christlich.

Daß sie den Hirschfeld und den Krafft-Ebing gekannt haben, nehme ich hingegen nicht an.

 TrekanBelluvitsh meinte dazu am 19.08.21:
Ich würde Jura schon als christlich geprägt betrachten. So entstand die erste "Strafprozessordnung" durch die Inquisition. Auf diese geht z.B. das Recht des Angeklagten auf einen rechtlichen Beistand zurück. Überhaupt prägte das Inqusitionsverfahren den bis heute gültigen Ablauf von Prozessen. Auch die Revision bzw. die höhere Instanz wurde in der Inquisition geschaffen. Das dieses theoretische Gebilde in vielen Fällen nicht eingehalten wurde, steht auf einem anderen Blatt.

Und als diese Systematik sich dann auch an weltlichen Gerichten durchzusetzen begann, fand man unter dem dort tätigen Personal selbstverständlich viele Kleriker, weil diese das nötige Wissen und die Lese-und Schreibefähigkeit besaßen.

Des weiteren hat Rechtsprechung ja etwas mir Ethik zu tun. Und die ist in Europa seit ca. 1.200 Jahren christlich geprägt. Der Zusammenhang wird auch deutlich, wenn man christliche Denker wie Thomas von Aquin oder ca. 500 Jahre später Thomas Morus heranzieht. Ihr Denken war immer wieder juristisch geprägt, bzw. haben sie versucht, christliche Ethik in juristische Formen zu gießen. (Wenn ich mich recht erinnere, so forderte Thomas von Aquin z.B. ein Händelverbot für Sonntage.)

In so einer geistigen Umgebung dürften Geschichten und Legenden aus der "heidnischen" Antike eher anekdotenhaften Charakter haben, bzw. nur dann herangezogen worden sein, wenn sie die christliche Deutung unterstützen. Von sich aus sinnstiftend wurde die Antike an sich nicht rezipiert. Und die Verehrung, die Aristoteles im MA bei vielen Denker widerfuhr, darf man sicher nicht mit einer Wertschätzung für die gesamte Antike verwechseln.

(Das ist meine Einschätzung.)

 Graeculus meinte dazu am 19.08.21:
Die Frage ist also, woher die Juristen - jenseits bildungsbürgerlicher Kenntnisse - ihre Werte bezogen haben.
Da fällt mir die von Rousseau entwickelte Konzeption der Menschenrechte ein. Sagen wir: die Aufklärung. Auch Robespierre und Danton waren Juristen.
Aber, hm, sie waren keine Sexualrevolutionäre.

 TrekanBelluvitsh meinte dazu am 20.08.21:
Aber, hm, sie waren keine Sexualrevolutionäre.
Womöglich ist es einfach eine Machtfrage. Mit nichts kann man direkter in das Leben von Menschen eingreifen als mit Sexualmoral. Und sie so, im persönlichsten Bereich überhaupt, auf sich einschwören. Das ist gerade bei Extremisten - religiösen UND weltlichen -zu beobachten. Ironischerweise zeigt es auch, wie sehr diese Extremisten vom Thema "Sex" besessen sind. Die Islamistischen Taliban sind ein Beispiel dafür.

Die Frage ist also, woher die Juristen - jenseits bildungsbürgerlicher Kenntnisse - ihre Werte bezogen haben.
Die älteste christliche Sammlung von Gesetzestexten liefert da eine Erklärung: die 10 Gebote. Wie alle Gesetze sind diese nämlich reaktiv, d.h. es sind Reaktionen auf Missstände.
Offtopic: Interessanterweise ist das, was Menschen als Missstände ansehen, im Kern gleich, unabhängig von Religion, Ideologie etc. So kenne ich z.B. keine Gesellschaft in Vergangenheit und Zukunft, die das Töten eines Gesellschaftsmitglied NICHT ahndete. Die Frage war immer, wer als Teil der Gesellschaft definiert wurde, und wer nicht. Wobei selbst für das Töten von Menschen außerhalb der Gesellschaft Gründe fabriziert wurden. Auch wenn diese im Kern zumeist gleich waren: Sie bedrohen die Existenz der Gesellschaft und das zumeist aktiv. Dafür wäre der Antisemitismus ein Beispiel.
Dieser reaktive Charakter macht die Juristerei systematisch konservativ, weil zum Vergleich älteres juristisches Verhalten herangezogen wird. Was - in meinen Augen - ganz klar eine Argument für ein kodifiziertes Recht ist. Die Politik kann gesellschaftliche Strömungen aufgreifen und in Gesetzesform gießen. Ihr Bild von Gesellschaft entsteht, im Gegensatz zur Juristerei, nicht allein anhand der Verstöße der Gesellschaftsmitglieder.

 Graeculus meinte dazu am 20.08.21:
Daran ist vieles richtig - mir ist lediglich aufgefallen, daß die beiden populärsten französischen Revolutionäre Juristen waren.

Gilt das nicht auch - Du weißt es vielleicht besser - für einige Repräsentanten der US-amerikanischen Revolution?
Abraham Lincoln war jedenfalls Jurist.

Soweit die Juristerei auf älteren Gesetzen und Präzedenzfällen beruht, ist sie natürlich strukturell konservativ.
Für die Naturrechtslehrer unter den Juristen gilt das vielleicht nicht, sofern sie sich gegen positives Recht stellen.

(Ein Drama um diesen Gegensatz ist die "Antigone" des Sophokles.)

 Lluviagata meinte dazu am 10.09.21:
Hallo, werter Graeculus,

ich habe mir vorgenommen, Dich wieder mehr zu lesen, wenn es denn meine knappe Zeit zulässt.
Dich lesen und die Kommentare, die unter Deinen Werken wachsen,das alles ist sehr lehrreich und mega interessant.

Liebe Grüße
Llu ♥

 Graeculus meinte dazu am 10.09.21:
Das kann mich nur freuen, liebe Regenkatze - so von Prosaist zu Lyrikerin.
Deine Gedichte mit ihrer oft melancholischen Grundstimmung sprechen mich an. Und zum Lesen habe ich - Rentner, der ich bin - genügend Zeit. Daß Rentnersein beinahe unvermeidlich mit Altsein zusammenhängt, fällt dann schon in den Bereich der Melancholie.

 AlmaMarieSchneider (20.09.21)
Viele Gesetze stammen noch aus der Zeit des Patriarchats.
Was Frauen möchten ist selten berücksichtigt (§218) und wenn kommen wieder von der Kirche erzwungene Korrekturen.
§183(1) Also mir als Frau ist das ehrlich gesagt egal, wenn sonst keine weitere Belästigung erfolgt. Dabei geht man ja mit Stalkern recht lässig um. Eine echte Belästigung. Da scheinen unsere Kirchen kein Interesse daran zu haben.

 Graeculus meinte dazu am 20.09.21:
Es bleibt die Frage, warum in Zeiten des Patriarchats ausschließlich Männer für ihre Homosexualität bestraft wurden und nur Männer für Exhibitionismus. Eine rechte Erklärung habe ich dafür nicht.

 AlmaMarieSchneider meinte dazu am 21.09.21:
Ich kann mir nur denken, dass Männer da auf die Bibel zurück greifen. " Der Manne soll nicht beim Manne liegen" ist meistens die Begründung. Von Frauen steht dies nicht in der Bibel. Exhibitionismus: Gesetze wurden von Männern gemacht. Eventuell wollen sie nicht dass ihre Frauen so einen "Kerl" zu Gesicht bekommen. Mögliche Vergleiche schätzen Männer nicht und Frauen hatten sowieso kaum Rechte. Warum brauchten Frauen noch bis in die 70er Jahre bei einer Konto-Eröffnung die Genehmigung vom Mann?
Nächtliche Grüße
Alma Marie
.

 Graeculus meinte dazu am 21.09.21:
Das Verbot der Homosexualität stammt aus der Bibel undbezieht sich auch da nur auf Männer, ja. Nun, die Bibel entstammt ebenfalls einer patriarchalen Tradition.
Daß Männer es nicht mögen, wenn Frauen Vergleiche anstellen, kommt sicher beim Gebot der Jungfräulichkeit bis zur Ehe und beim Verbot des Ehebruchs zum Tragen.
Weiter oben hat jemand vermutet, man habe Frauen einfach keine eigene Sexualität zugetraut und deshalb die lesbische Liebe nicht in Betracht gezogen.

Mußten Frauen in der frühen BRD nicht auch für die Aufnahme einer Berufstätigkeit das Einverständnis des Mannes haben?

 AlmaMarieSchneider meinte dazu am 21.09.21:
Mußten Frauen in der frühen BRD nicht auch für die Aufnahme einer Berufstätigkeit das Einverständnis des Mannes haben?


Ja, das auch noch. Zum Teil war ja einem Bauern die Kuh wertvoller als seine Frau.
Da gibt es doch so ein Gebet. Mir fällt es nur nicht ein.

 Graeculus meinte dazu am 21.09.21:
"Gott erhalte mir meine Gesundheit und die Arbeitskraft meiner Frau."?

 AlmaMarieSchneider meinte dazu am 21.09.21:
Jaaaa, genau. :)
Die Kultur von Afganistan war auch bei uns noch nicht so weit entfernt. Was müssen diese Frauen jetzt durchmachen.

 Graeculus meinte dazu am 21.09.21:
Treffer.
Was derzeit in Afghanistan geschieht, speziell mit den Frauen, ist einfach nur entsetzlich. Ein anderes Wort fällt mir dafür gar nicht ein. Daß das im 21. Jahrhundert noch möglich ist! Es ist zum Weinen.
Clara (37)
(10.02.22, 15:46)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.
Palimpsest (37) meinte dazu am 10.02.22 um 16:11:
Diese Antwort ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.
Clara (37) meinte dazu am 10.02.22 um 20:23:
Diese Antwort ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Graeculus meinte dazu am 11.02.22 um 00:18:
Deine Hypothese, Clara, würde mir spontan mehr einleuchten, wenn nicht z.B. im antiken Griechenland homosexuelle Beziehungen gezielt gerade zur Stärkung der militärischen Wehrkraft eingesetzt worden wären, etwa in Thebens "Heiliger Schar", aber beleibe nicht nur dort. Der Gedanke war der, daß Liebesbeziehungen unter Soldaten nicht nur jedem Rekruten ein orientierendes Vorbild an die Seite stellen, sondern auch den Mut befördern, denn man will sich ja nicht vor dem Geliebten blamieren.
Gerade unter Soldaten dürften zu allen Zeiten homosexuelle Beziehungen verbreitet gewesen sein.
Es ist aber möglich, daß christliche Gesetzgeber (Tugendwächter) sich gerade daran gestört haben. Da sei, so mögen sie gedacht haben, die Gefahr am größten.
Insofern kann ich Deiner Hypothese - unter einer christlichen Prämisse - doch etwas abgewinnen. Ja, Dein Gedanke ist gut!
Clara (37) meinte dazu am 11.02.22 um 07:41:
Diese Antwort ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Graeculus meinte dazu am 11.02.22 um 15:43:
Deine Hypothese ist wirklich gut.
Bei der Beurteilung Deines Zusatzgedankens möchte ich unterscheiden zwischen heidnischer Kultur (die nicht dieses, sondern nur ein anderes Tabu in Sachen Homosexualität kannte: daß der Ältere sich zum passiven Teil machte) und der jüdisch-christlichen (die von Anfang an die Homosexualität verurteilte).

Die Thebaner mit ihrer "Heiligen Schar" haben in der Tat eine katastrophale Niederlage gegen die Spartaner erlitten, doch die Spartaner dachten im Hinblick auf Homosexualität nicht wesentlich anders, d.h. sie kannten das gleiche Prinzip.
Sobald die Armeen ebenso wie der Staat christlich wurden (also seit dem 4. Jhdt. u.Z.), gab es eben dieses neue Tabu, und da wird man kein offenes Bekenntnis von Soldaten zur Homosexualität, erst recht keine Zählungen erwarten dürfen.

Wir kommen, so meine Meinung, ohne die christliche Prämisse nicht weiter; aber unter dieser Prämisse erschien Homosexualität unter Soldaten (d.h. Männern) verwerflich.

Übrigens gibt es im Amazonen-Mythos (also bei einer rein weiblichen Armee) keine mir bekannten Berichte über lesbische Beziehungen.
Clara (37) meinte dazu am 11.02.22 um 16:23:
Diese Antwort ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.
Palimpsest (37) meinte dazu am 11.02.22 um 18:04:
Diese Antwort ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Graeculus meinte dazu am 12.02.22 um 17:37:
An Clara:

Das ist nicht schlimm. So oder so werde ich Deine Hypothese im Sinn behalten, d.h. den Zusammenhang zwischen Verbot der Homosexualität und ihrer (von Gäubigen unterstellten) Gefahr für die Wehrfähigkeit.
Möchtest Du einen Kommentar abgeben?
Diesen Text kommentieren
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram