Der gute Rat

Glosse zum Thema Einsicht

von  Graeculus

Rat, subst. masc. Die kleinste gängige Münze.
(Ambrose Bierce: Das Wörterbuch des Teufels)

Wenn ich Leuten sage, daß ich ein Problem habe, kann es nicht fehlen, daß jeder von ihnen sofort, geradezu reflexhaft, sich mir mit einem guten Rat andient. Das beruht bei weitem nicht immer auf einem Verständnis meines Problems und funktioniert auch völlig unabhängig davon, ob ich um einen Rat gebeten habe. Oft steht es ja so, daß man bloß einmal etwas aussprechen möchte, in der Hoffnung, dadurch werde etwas leichter oder für einen selbst wenigstens klarer.


Es versteht sich, daß die Ratschläge obendrein sehr unterschiedlich ausfallen, oft geradezu gegensätzlich, so daß, wer sie alle befolgen wollte, in die Lage käme, in verschiedene Himmelsrichtungen gleichzeitig zu laufen.


Was soll das? Geht es in Wahrheit darum, sich für einen Moment dem anderen überlegen zu fühlen – ein warmes Gefühl, das dann vielleicht noch ein paar Stunden nachglimmt? Ein preiswert erkauftes Gefühl jedenfalls, denn ein Ratschlag ist billig und verpflichtet den Ratgeber zu nichts.


Nein. Die guten Ratschläge sollte man, zusammen mit den guten Vorsätzen, in einen Sack stecken, mit Steinen beschweren und ins Meer versenken, wo es am tiefsten ist.


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Kommentare zu diesem Text

Totti_Kompotti (45)
(27.10.22, 14:04)
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 Graeculus meinte dazu am 27.10.22 um 16:17:
Das ist eine gute Antwort auf die allermeisten guten Ratschläge: Hältst Du mich tatsächlich für so dumm, daß ich nicht schon selbst darauf gekommen wäre, wenn es denn hülfe?

 EkkehartMittelberg (27.10.22, 14:17)
Wer sich selbst keinen guten Rat erteilen kann, versucht es gerne bei anderen.

 Graeculus antwortete darauf am 27.10.22 um 16:18:
"Arzt, heile dich selber!" - so darf man hier wohl einmal die Bibel zitieren.

 Verlo schrieb daraufhin am 31.10.22 um 00:32:
"Philosoph, verstehe dich selbst!"

 LotharAtzert (27.10.22, 14:32)
in der Hoffnung, dadurch werde etwas leichter oder für einen selbst wenigstens klarer.
Also das gehört in die Toilette.

 Graeculus äußerte darauf am 27.10.22 um 16:19:
Viele tun es so. Um keinen guten Rat zu geben, stelle ich es einfach fest und lasse es auf sich beruhen. Die Ratgeber freilich sollten diese Möglichkeit zumindest in Betracht ziehen. Oder?

 Regina (27.10.22, 16:31)
Wenn einer sagt, er habe ein Problem fühlen sich viele aufgerufen, Ratschläge zu erteilen. Oft ist das Wichtigtuerei.

 Graeculus ergänzte dazu am 27.10.22 um 21:22:
Meine Vermutung geht in diese Richtung: Nicht das Mitgefühl, sondern daß der Ratgeber sich höher zu stehen wähnt, ist das entscheidende Motiv. Allerdings darf man das nicht uneingeschränkt verallgemeinern.

 Quoth (27.10.22, 17:27)
Ich bin sicher, auch Du hast schon mal einen guten Ratschlag erhalten.
Doch, ein Ratschlag verpflichtet den Ratgeber, Verantwortung für ihn zu übernehmen. Was übrig bleibt, sind unverbindliche und womöglich leichtsinnige Empfehlungen.  Gruß Quoth

 Graeculus meinte dazu am 27.10.22 um 21:24:
Doch, ein Ratschlag verpflichtet den Ratgeber, Verantwortung für ihn zu übernehmen.

Du hast dann offenbar andere Erfahrungen gemacht als ich. Denn das habe ich höchst selten erlebt.
Das hieße ja: jemand übernimmt Verantwortung für die Folgen seines Tuns! Sollten normale Menschen in dieser Hinsicht so anders sein als z.B. Politiker?
Fetzen (38)
(27.10.22, 17:30)
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 Graeculus meinte dazu am 27.10.22 um 21:21:
Tocotronic kannte ich nicht; aber die Vorsicht bei Menschen, die zu wissen behaupten, was gut für uns sei, ist offenbar nicht generationenabhängig.

 harzgebirgler (27.10.22, 17:45)
schritte da der geheime rat
und 'dichterfürst' wohl mit zur tat?!

 Graeculus meinte dazu am 27.10.22 um 21:19:
Also, wie Goethe darüber dachte - den meinst Du sicherlich -, das weiß ich nicht. Soweit ich informiert bin, besaß er Taktgefühl. Und jemandem einen Rat aufzudrängen, ist doch taktlos, oder?

 harzgebirgler meinte dazu am 28.10.22 um 11:43:
da geb' ich dir voll recht:
das fänd' selbst goethe schlecht!

 Graeculus meinte dazu am 31.10.22 um 14:58:
Ja, Goethe verstand etwas von taktvoller Zurückhaltung. Und die Engländer sagen: "Keep your distance!"

 niemand (27.10.22, 19:22)
Dieser Text mutet ein wenig seltsam an. Ich sage es mal lax, da jammert ein Protagonist andere Menschen damit voll, dass es ihm nicht gut geht, ohne dass diese ihn darum baten und beschwert sich
gleichzeitig, dass diese Menschen sich verpflichtet fühlen ihm Ratschläge zu erteilen, um welche er sie nicht gebeten hat. 
Nicht nur das, sondern er attestiert denen , welche er ungebeten vollgejammert hat, schlechte, bis egozentrische Absichten.

LG niemand

 Graeculus meinte dazu am 27.10.22 um 21:18:
So kann man das sehen. Aber ich gestehe, daß mir die Reaktion "Alter, hör auf zu jammern!" lieber ist als so mancher triviale Ratschlag, bei dem ich reagiere, wie Totti_Kompotti es oben beschrieben hat.

Soweit ich mir erinnern kann, hast Du Dich - jedenfalls mir gegenüber - stets von solchen Zumutungen ferngehalten.

Übrigens gilt die von mir geäußerte Kritik auch mir selber, d.h. ich ertappe mich selbst bei dieser Schwäche und ermahne mich, dann einfach zuzuhören und Rat erst dann zu geben, wenn ich darum gebeten werde.

 Bergmann meinte dazu am 28.10.22 um 20:01:
Schwierig das alles. 
Ich kann nur von mir selbst reden: Einen guten Rat gab ich mir oft selbst, aber manchmal auch einen schlechten.
Oft habe ich mir nicht geglaubt.
Manchmal merkte ich nicht einmal, dass ich mich betrog, manchmal spürte ich es ein bisschen.
Es kam aber auch vor, dass ich meine Entscheidung für die beste halten musste. Eigentlich ist es so, dass ich mich berate, indem ich mich entscheide. Und meine Entscheidung geht auf einen Willen zurück, den ich längst hatte, den ich mir nur noch bewusster machen musste, um mich dann zu entscheiden. 
Nicht selten stellte sich erst post factum heraus, dass mein Rat = meine Entscheidung gut war oder schlecht. 
Tja, und auch nicht selten war eine Entscheidung gut und schlecht zugleich. 
Ich habe selten auf andere gehört, und das war alles in allem gut. Ob es besser war als umgekehrt, das weiß ich nicht, und das will ich auch nicht wissen. Ich will auch nicht in den Himmel kommen. Was ich dort erkenne, könnte die Hölle noch übertrumpfen. 
Ich fühle mich sehr wohl in meinem Leben, auch in meinem Alter. Ich habe mich also offenbar insgesamt gut beraten. Leider weiß ich keinen Rat gegen den Tod. Gegen ihn kann ich mich aber derzeit noch entscheiden. Ob es dabei bleibt, weiß ich nicht. Das Leben ist fluid.

 Graeculus meinte dazu am 30.10.22 um 20:45:
Zu niemand möchte ich noch sagen, daß der "Mensch mit dem Problem" gar nicht von großem Bedürfnis, anderen etwas vorzujammern, beseelt sein muß; es genügt die dahingesprochene Prase: "Wie geht es dir?" Man kann das als Phrase an sich abperlen lassen; falls man aber darauf wahrheitsgemäß antwortet "schlecht", ist alles weitere absehbar und der Weg zu den guten Ratschlägen ein sehr kurzer.

Wenn man auf sein Leben zurückblicken und mit den eigenen Entscheidungen zufrieden sein kann (die große Popularität von Frank Sinatras "I Did It My Way"!), ist man gut dran. Schützt es auch vor der Frage, ob all das diese Anstrengungen wert war? Was ist letztlich dabei herausgekommen?
Taina (39)
(28.10.22, 20:12)
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 Graeculus meinte dazu am 30.10.22 um 20:48:
Von Problemen zu erzählen wirkt wie eine Frage um Rat.

Nein! Da bin ich anderer Ansicht. Oft hat schon das Erzählen selbst eine Funktion. Wenn jemand einfach nur zuhört!
Vielleicht wollen manche wirklich einen Rat - doch das können sie ja dann zusätzlich artikulieren.
Taina (39) meinte dazu am 31.10.22 um 00:07:
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 Graeculus meinte dazu am 31.10.22 um 15:02:
Es wird ein Impuls ausgelöst, irgendwie zu helfen.

Vielleicht ist das der Grund. Der Wunsch zu helfen (vom Christentum heilig gesprochen) ist aber, wie wir seit Nietzsche wissen, etwas psychologisch sehr Komplexes und hat viel damit zu tun, daß man sich dabei in einer Position von oben herab befindet. Und vollends das Helfer-Syndrom ...
Nein, das ist alles nicht unbedenklich. Besser erscheint es mir, (nur) dann zu helfen, wenn man um Hilfe gebeten wird. So auch mit den guten Ratschlägen.

 Verlo (31.10.22, 00:31)
Graeculus:

Oft steht es ja so, daß man bloß einmal etwas aussprechen möchte, in der Hoffnung, dadurch werde etwas leichter oder für einen selbst wenigstens klarer.
Wozu braucht es dazu (damit es leichter und klarer werde) einen anderen Menschen, dem du dann eine Reaktion vorschreibst (zuhören und schweigen)?

 niemand meinte dazu am 31.10.22 um 10:40:
@ Verlo
Du hast es gut auf den Punkt gebracht. Gleiches frage ich mich auch.
Und wenn diese "zuhören und schweigen-Reaktion" nicht eintritt, besagten Zuhörer noch den schwarzen Peter zu schieben in Richtung
der will sich nur groß/wichtig  tun .... ich sehe es eher umgekehrt.
Der Jammernde braucht die Zuhörer als Statisten für seinen Auftritt.

 Verlo meinte dazu am 31.10.22 um 10:49:
niemand:
 
Der Jammernde braucht die Zuhörer als Statisten für seinen Auftritt.
niemand, du hast den Punkt mit einem Körner vertieft.

Das wird Graeculus nicht gefallen. 

Bin gespannt, wie er reagiert.

(PS: wie er reagieren würde, hätte ich es geschrieben, kann ich mir vorstellen. Aber Frauen gegenüber ist er weniger "mutig".)

Ein echter Alter Grieche wird die Kritik annehmen und die richtigen Schlußfolgerungen ziehen.

 Verlo meinte dazu am 15.11.22 um 15:22:
Nun sind bereits zwei Wochen vergangen.

Greaculus hat sich wie ein echter Held verhalten und das kleine Problem ignoriert.

War ja ohnehin nur eine Verschwörungstheorie.

 Naja (22.12.22, 10:43)
Für mein Gefühl geht es oft darum, Stille nicht aushalten zu können. Aus vielerlei Gründen: Stille wird mit unnütz verbunden, auch mit Unhöflichkeit ... einfach nur Zuhören wird nicht als Hilfe gewertet.
Und was gäbe ich manchmal für Stille, bei einem Spaziergang im Park z.Bsp., wenn ich in die Natur mit ihren Klängen, Gerüchen und .... eintauchen möchte, stattdessen aber vollgeschnattert werde, dass ich weglaufen möchte! Aber ich antworte brav, zwinge mich zum Zuhören, möchte nicht unhöflich sein. 
Liebgrüß!

 Graeculus meinte dazu am 22.12.22 um 15:21:
Man muß doch, um nicht unhöflich zu wirken, etwas sagen. Auch das ist sicher ein Motiv für so manchen gutgemeinten Ratschlag, denn das wirkt ja immer interessiert.

einfach nur Zuhören wird nicht als Hilfe gewertet.
Ja.


Wie schrieb Wilhelm Busch zu den Vorzügen des Einsamen?

Niemand gibt ihm weise Lehren,
Die gut gemeint und bös zu hören.
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