Haben Sie auch manchmal Appetit auf Kitsch?

Essay zum Thema Kunst/ Künstler/ Kitsch

von  EkkehartMittelberg

Manchmal bin ich scharf auf Kitsch.

Ich war auf der Oberstufe des Gymnasiums, als ich mich zum ersten Male bei diesem Bedürfnis ertappte und dachte: „Ekki, tickst du noch richtig?“, um meinen Appetit sogleich wieder zu verdrängen. So lebte ich einige Jahre mit einem schlechten Kitsch-Gewissen, bis ich allmählich nachsichtiger mit mir wurde. Heute gehe ich mit meinen Anwandlungen zum Kitsch gelassener um, aber ich beobachte mich noch, wann, wie und worauf sie sich einstellen.

Meine erste Beobachtung war, dass die Natur selber Vorlagen liefert, die, wenn sie naturgetreu gemalt werden, eben Kitsch darstellen, wenn man darunter mit Walther Killy ein Zuviel versteht.

Meine zweite Beobachtung galt stereotypen Motiven des Kitsches, zum Beispiel die Zigeunerin als verlockende Kellnerin, der röhrende Hirsch im romantischen Wiesengrund oder musikalisch die „Försterliesel“.

Meine dritte Beobachtung ging tiefer und wurde durch das in den Fünfziger Jahren außerordentlich erfolgreiche Buch von Karlheinz Deschner „Kitsch, Konvention und Kunst“ ausgelöst, dass mich gegen Kitsch in der Literatur erfolgreich immunisierte und meine Sensibilität für die Lächerlichkeit von literarischem Kitsch weckte.

Kitsch in der Malerei hatte bei mir schon als Schüler keine Chance. Damals war ich sogar hypersensibel, denn selbst Frauenbilder von Renoir empfand ich als grenzwertig.

Aber ich war schon als Schüler von Zeit zu Zeit anfällig für kitschige Musik und bin es immer noch.

Jetzt sollte ich ein paar Beispiele dafür geben, aber dann riskiere ich, dass gute Freunde kein Wort mehr mit mir wechseln. Mein Zips auf Kitsch ist kein Dauerzustand. Wenn ich ihn gestillt habe, stellt sich schnell Überdruss ein und ich glaube, er sei verschwunden. Aber das ist eine Selbsttäuschung, denn hinter dem Mundharmonika-Motiv aus „Spiel mir das Lied vom Tod“ lauert „Der Junge mit der Mundharmonika“.

Sie merken schon, ich versuche nichts zu beschönigen und verstehe mich selbst als Beobachter nur zum Teil.

Meine Fragen an Sie:

- Lieben sie außer Brahms auch gelegentlich Kitsch?

- Sind Sie bei allen Künsten kitschanfällig oder sind Sie durch eine besonders "gefährdet", so wie ich durch Kitsch in der Musik?

Meinen Sie als Liebhaber/In der schönen Künste, dass man gegen Kitsch immunisieren sollte oder halten sie gelegentlichen Kitschgenuss für legitim, erfrischend und amüsant?




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Kommentare zu diesem Text

Taina (39)
(07.04.22, 07:36)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 07.04.22 um 10:06:
Mir scheint, wir sind uns darüber einig, Taina: Ein bisschen Frieden ist ein fauler Kompromiss, ein bisschen Kitsch erträglich.
Liebe Grüße                                              Ekki

 harzgebirgler (07.04.22, 09:05)
"über farben und geschmack kann man nicht streiten" -
prinzipiell läßt sich darauf auch bestens reiten!

lg
henning

 EkkehartMittelberg antwortete darauf am 07.04.22 um 10:13:
Du hast recht; Henning. Dennoch mögen es manche heiß:
Sie erregen sich über kitschigen Geschmack.
Er geht ihnen leider voll auf den Sack.
Einfühlsame Grüße
Ekki

 TassoTuwas (07.04.22, 09:54)
Hallo Ekki,

mein Kunstlehrer sagte vor vielen, vielen Jahren, "Kitsch ist, wenn du dich schämts zuzugeben, dass es dir gefällt".
Natürlich liegt diese Geschmackslatte bei jeden in einer anderen Höhe.

Herzliche Grüße
TT

PS. Ich weiß, Scham war früher!

 EkkehartMittelberg schrieb daraufhin am 07.04.22 um 10:18:
Hallo Tasso,
dein Kunstlehrer war ein Menschenkenner.
Hier gilt das Sprichwort:
Kitsch ist Silber,
Schweigen ist Gold.   :P
Herzliche Grüße
Ekki

 AZU20 (07.04.22, 13:39)
Gibt es Kitsch wirklich? LG

 EkkehartMittelberg äußerte darauf am 07.04.22 um 15:03:
Hallo Armin,
wenn du ihn zu oft rezipiert hast, weißt du es.  :)
Liebe Grüße
Ekki

 AchterZwerg (07.04.22, 16:37)
Lieber Ekki,
gern will ich mich ebenfalls outen.
Ich war und bin für sozialromantischen Kitsch anfällig (Aus dem Weg Kapitalisten, die letzte Schlacht gewinnen wir (sprich "wia)", die alten Hanns Eisler-Lieder oder auch Shanties. Selbst für Freddy Quinn. :D
Vor allem aber habe ich eine Schwäche für die sog. "Lieder aus der Küche" ("Still im Aug erglänzt die Träne" etc.). -
Das Wissen um Kitsch bewahrt leider nicht davor.

Schön, dass wir auch dieses Laster teilen!

Piccola

 EkkehartMittelberg ergänzte dazu am 07.04.22 um 17:21:
Grazie, Piccola, wir teiien dieses Laster nicht nur im Allgemeinen, sondern auch in den konkreten Beispielen. Dieser Tage wurde ein Freund von mir zu den Klängen von "La Paloma" beerdigt.
Herzliche Grüße
Ekki
Agnete (66)
(07.04.22, 19:10)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 09.04.22 um 11:16:
Merci, Agnete, es scheint sich an den Perspektiven etwas geändert zu haben. Wir sehen Kitsch nicht nur aus der ästhetischen, sondern auch aus der sozialpsychologischen Perspektive und da hat er natürlich seine Berechtigung.
LG
Ekki

 TrekanBelluvitsh (07.04.22, 21:18)
Mich graust es vor "Fans", die jede kritische Distanz zu ihrer - gan gleich wann oder wie lange - bevorzugten Kunst verloren haben. Ob es sich dabei um Kitsch, Schalke 04, Josef Beuys, Panzer oder Serdar Somuncu handelt ist mir eigentlich gleich. Es ist eine Spielart der Heldenverehrung und die finde ich - im besten Fall - eindimensional.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 07.04.22 um 23:37:
Hallo Trekan, da wird dir jeder Vernünftige zustimmen. aber das Interessante ist, dass man Kitsch trotz kritischer Distanz mögen kann, freilich nur gelegentlich, sonst wäre die kritische Distanz nicht glaubwürdig.

 RainerMScholz meinte dazu am 08.04.22 um 15:57:
Kitsch geht am Ende immer gut aus. Oder man kann dazu schunkeln, oder es fliegt im Weltraum in eine bessere Zukunft. Der Hirsch an der Wand hat es allerdings hinter sich, aber Kitsch ist auch eher egozentristisch als empathisch.
Grüße und ein schönes Wochenende mit viel Sonnenschein, heiteren Zimbelklängen und - ich brech´ hier ab,
R.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 08.04.22 um 20:52:
Merci, Rainer, ich sehe, du bleibst sauber  :D
Heitere Grüße
Ekki

 Isensee (08.04.22, 20:58)
Rotwild, Birken, Bach irgendwo und ein Hügel mit Steilklippen und mehr Ramen als Bild. Da schlägt mein kitschherz Purzelbäume. Aber umzäunte.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 09.04.22 um 09:41:
Merci, Isensee. Wenn sie umzäumt sind, bleiben sie im Rahmen. Das ist okay.

 FrankReich (16.04.22, 10:22)
Na klar, auf den Inhalt eines Osternestes z. B., der ist dann allerdings auch schnell gegessen.
👋😂

Ciao, Frank
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