Über das Parodieren von Weihnachtsliedern

Essay zum Thema Weihnachten

von  EkkehartMittelberg

Zu meiner Jugendzeit in den 50er Jahren waren Weihnachtslieder in einem ganz anderen Maße präsent als heute. In Kaufhäusern wurden sie unablässig rauf und runter gespielt, in den Radioprogrammen täglich dargeboten und in den Schulen sowie privat gesungen.
Meine Eltern meinten uns Kindern mit dem Intonieren von Weihnachtsliedern eine Freude zu machen und luden auch Bekannte zum Mitsingen ein, die die Gefühlsseligkeit mancher Lieder durch falsches Singen noch verstärkten.
Mir ging diese Sentimentalität auf die Nerven und es entlastete mich, wenn ich irgendwo eine Parodie auf Weihnachtslieder hören konnte. Ich wuchs in einer von Bergarbeitern geprägten Stadt auf und bekam gelegentlich in Kneipen Parodien mit politischen Hintergrund zu hören, zum Beispiel

„O Tannenbaum ! O Tannenbaum!

O Tannenbaum ! O Tannenbaum!
Der Kaiser hat in Sack gehaun.
Da kauft er sich ´nen Henkelmann
und fängt bei Krupp als Dreher an.
O Tannenbaum ! O Tannenbaum!
Der Kaiser hat in Sack gehaun.

O Tannenbaum ! O Tannenbaum!
Der Wilhelm hat in Sack gehaun.
Auguste muß Kartoffeln stehl´n,
der Kronprinz muß Granaten drehn.
O Tannenbaum ! O Tannenbaum!
Der Wilhelm hat in Sack gehaun.

Ruhrgebiet , Weihnachten 1918“  (Quelle: https://weltexpresso.de/index.php/lust-und-leben/8759-o-tannenbaum-o-tannenbaum )

oder
„Zu Beginn des Ersten Weltkriegs stand das Lied [„Stille Nacht, heilige Nacht“] im Zeichen der Mobilmachung und transportierte propagandistische Kampf- und Siegesfantasien:

Stille Nacht, heilige Nacht,
Deutschland ist mobil gemacht!
Frankreich liegt in grosser Not,
Russland schlagen wir mausetot,
England kommt noch dran,
England kommt noch dran!
Zu den angenehmeren Aspekten von Popularität gehört die humoristische Verballhornung des Liedes. Am ZPKM finden sich amüsante Belege, etwa: „Stille Nacht, heilige Nacht, Bettche kracht. Dippche stinkt. Christkindche kimmt“ oder „Stille Nacht, heilge Nacht, Martin hat a Schwein geschlacht. Er hat och gute Wurscht gemacht“. [...]

Dass viele Aneignungen politischer Natur seien, verwundere nicht: „Das christliche Fest Weihnachten hat politische Dimensionen, etwa weil es die Themen Armut, Flucht und Vertreibung genauso in das Bewusstsein rückt wie eine universelle Friedenssehnsucht“, resümiert Fischer. Insofern sei die Frage „Stille Nacht, traurige Nacht, hast du Brot mitgebracht?“ durchaus eine christliche und weihnachtliche. Umgekehrt zeigen die Parodien aus der Zeit des Ersten Weltkriegs, dass die Popularität des Liedes genutzt wurde, um für Krieg und Gewaltherrschaft zu werben.“

Michael Fischer: Stille Nacht, traurige Nacht- Hast du Brot mitgebracht?  https://idw-online.de/en/news642778

Moderne Parodien von Weihnachtslieder sind weniger politisch motiviert, wenden sich aber gegen überfrachtete Gefühlsseligkeit, so zum Beispiel von Wolfgang Petry „Am Weihnachtsbaume da hängt ne Pflaume“ (Quelle:
https://www.youtube.com/watch?v=T8Sv8Xuw7y8
                                                oder
„Das Lied (Leise rieselt der Schnee) wurde wiederholt als Vorlage spöttischer Parodien genutzt. So sangen etwa Schulkinder in den 1980er Jahren:
Leise rieselt die Vier
auf das Zeugnispapier.
Horcht nur, wie lieblich es schallt,
wenn mir mein Vater ’n paar knallt![8]
Eine weitere Parodie schrieb 1969 der Kabarettist Dieter Süverkrüp.[9] Auch aus der DDR ist eine Parodie aus dem Jahr 1988 überliefert, die einen möglichen Unfall im (nicht in Betrieb gegangenen) Kernkraftwerk Stendal zum Thema hat.“ (Wikipedia: Leise rieselt der Schnee)
Heute höre ich den öffentlichen Medien keine Weihnachtslieder mehr. Jetzt, wo die Berieselung aufgehört hat, ist mein Bedürfnis nach Parodien von Weihnachtsliedern geschwunden. Im Gegenteil, ich höre gern wieder ein Weihnachtslied und habe im Internet nach guten Vertonungen recherchiert. Eine Empfehlung möchte ich meinen Lesern nicht vorenthalten: Mahalia Jackson: Silent night, holy night,  das man sich bei Spotify kostenfrei anhören kann.

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Kommentare zu diesem Text


 Regina (22.12.20)
Die Kinder sangen auch:
Leise rieselt der Schnee,
Christkind kommt im VW,
hört nur, wie lieblich es kracht,
es hat einen Unfall gemacht.

 AchterZwerg meinte dazu am 22.12.20:


Hätts den Daimler doch genommen,
wär es heil herausgekommen!

Antwort geändert am 22.12.2020 um 08:41 Uhr

 EkkehartMittelberg antwortete darauf am 22.12.20:
@Regina und Achter Zwerg: Merci, diese Parodien kannte ich nicht.

 AchterZwerg (22.12.20)
Ja, ja,

der alternde Mensch zeigt mehr und mehr Verständnis für Tradition. - Und diese ganze hiesige Weihnachtsshow ist nun einmal urdeutsches Kulturgut, wenn sie auch auf der viel älteren ägyptischen Wintersonnenwende beruht, die von altersher als Geburtstag der Göttter herhalten musste. Und bestimmt auch wollte.
Unsere Weihnachtslieder sind in der Tat anrührend schön.
Die Parodien nicht minder - nur ohne Anrührung.

Zwinkergrüße
Lillith

 Dieter_Rotmund schrieb daraufhin am 22.12.20:
Man nennt es "altersmilde".

 EkkehartMittelberg äußerte darauf am 22.12.20:
@Lilith: Grazie, d' accord.
Agnete (66)
(22.12.20)
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 EkkehartMittelberg ergänzte dazu am 22.12.20:
Gracias, Agnete, mach weiter so. Weihnachten soll zwar besinnlich sein, aber es braucht auch Leben in der Bude. :)

 TrekanBelluvitsh (22.12.20)
Bekannte Lieder für politische Propaganda zu gebrauchen ist natürlich ein beliebtes Vorgehen. Man erspart dem Zuhörer nicht nur eine neue Melodie, teilweise kann man sogar den Text antizipieren.

Und: Heutzutage gibt es doch noch  Weihnachtliedparodien.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 22.12.20:
Merci, Trekan, schön, dass du noch moderne Parodien entdeckt hast.

 AZU20 (22.12.20)
Ich habe die Parodien noch einmal genossen, wollte ihnen dann aber keine oben drauf hauen. Mir geht es eben ähnlich wie Dir. LG

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 22.12.20:
Danke, Armin, es ist klar, dass wir für Parodien noch empfänglicher wären, wenn wir mit der Intensität beweihnachtet würden wie in den 50er Jahren.
LG
Ekki

 harzgebirgler (22.12.20)
es sind schöne reminiszenzen
die hier in dem beitrag aufglänzen.

lg
henning

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 22.12.20:
Gracias, Henning, so soll es sein, denn nichts ist so erhaben, dass sich nicht Parodien daran laben.
LG
Ekki

 Graeculus (22.12.20)
Zu Mahalia Jacksons Version von "Stille Nacht, heilige Nacht", die Du mit Recht empfiehlst: Da kann man (zumindest ich) verstehen oder empfinden, was Religiosität ist - unabhängig davon, ob man selbst bereit ist, sich dieser intensiven Erlösungssehnsucht hinzugeben.

 Graeculus meinte dazu am 22.12.20:
Vergleichbar intensiv, allerdings ohne Bezug zu Weihnachten und deshalb nur am Rande erwähnt: "Sometimes I Feel Like a Motherless Child" in der Interpretation von Van Morrison.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 22.12.20:
Hallo Graeculus, vielen Dank, dass du mich auf den bemerkenswerten Van Morrison verwiesen hast. Von dir erfahre ich immer wieder etwas Neues.
Wusstest du, dass "Sometimes I feel like a motherless child" auch von Mahalia Jackson interpretiert wird.

 Graeculus meinte dazu am 22.12.20:
Es war mir nicht mehr in Erinnerung, daß auch Mahalia Jackson dieses Lied interpretiert hat. Jetzt, da Du es sagst ... ja, natürlich. Es ist ein Spiritual und liegt auf ihrer Linie.
Morrisons Interpretation ist freilich eine andere, sehr aufregende. Gesang und Begleitung steigern sich in geradezu nervöser Weise bis kurz vor einen Höhepunkt (die Rückkehr in Gottes Schoß o.ä.) und brechen dann - resignierend? - ab. Der Sänger erreicht diese Versöhnung nicht. Mahalia Jackson hingegen ruhte in ihrem Glauben.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 22.12.20:
Ja, eine gute Interpretation der beiden sehr unterschiedlichen Varianten.

 TassoTuwas (22.12.20)
Hallo Ekki,
eine gute Parodie ist immer eine Verneigung vor dem Original.
Über schlechte Parodien lohnt kein Wort!
Herzliche Grüße
TT

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 22.12.20:
Vielen Dank, Tasso, das stimmt. Man muss sich eine gute Parodie erarbeiten.
Herzliche Grüße und angenehme Festtage
Ekki

 Didi.Costaire (22.12.20)
Hallo Ekki,

der Gesang findet ja jetzt mehr im Stillen statt in diesen Corona-Zeiten.

Vor mich hin summende Grüße,
Dirk

♪♫ Stihille Nacht, heilige Nacht,
Gottes Sohn Owie lacht... ♫♪

Kommentar geändert am 22.12.2020 um 18:26 Uhr

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 22.12.20:
Merci, Dirk. beim Deutschen Sprachatlas in Marburg (Namenforschung)erzählte man sich die Anekdote, dass jemand angerufen habe, der wissen wollte, ob es auch die Namensvariante Owe statt Uwe mit der Koseform Owie gebe. :)
Frohe Festtage
Ekki

 Moja (23.12.20)
Lieber Ekki,
in meinem Tagebuch von Weihnachten 1982 findet sich folgender Eintrag - ich notierte diese parodistischen Liedzeilen
der Neuen Deutschen Welle, Punk im Weihnachtslied:

• Leise rieselt die Vier auf das Zeugnispapier. Hört nur, wie schön die Ohrfeige knallt.

• …einmal im Jahr haben wir uns lieb, erst morgen beginnt wieder Krieg…

• Oh, Tannenbaum, wie welk sind deine Blätter…, wie bist du traurig anzuschauen

• Erster Advent, das erste Lichtlein brennt, zweiter Advent, das zweite Lichtlein brennt, dritter Advent dito, fünfter Advent, nun hast du Weihnachten verbrannt

Irgendwann hatte ich das Weihnachtsgedudel auch satt, sogar im Supermarkt in Gambia erklang Rudi, das Rentier.

Gehen wir das Fest gelassen an,
ich wünsche Dir schöne besinnliche Weihnachtstage - warum auch nicht,

Monika

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 23.12.20:
Vielen Dank für die Bereicherung der Parodien, Monika.
Ich wünsche dir ebenfalls ein frohes Weihnachtsfest.
Ekki

 harzgebirgler (11.12.21, 15:49)
die weihnachtslieder bringen was zum klingen
ins uns - das wird wohl kaum wer je bewingen.

lg
henning

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 11.12.21 um 20:23:
Merci, Henning, das stimmt. Man kann sie nicht kaputt parodieren.
LG
Ekki
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