Examen bei einem Professor, der dich nicht kennt.

Ansprache zum Thema Wahrnehmung

von  EkkehartMittelberg

Es ist wohl normal, dass man sich mit zunehmendem Alter immer häufiger an besondere Ereignisse aus seiner Schul- und Studienzeit erinnert.

Ich wollte 1964 als Altphilologe in Marburg mein Examen in Latein machen. Das war damals sehr schwierig und mit vielen meiner Kommilitonen teilte ich die Furcht, es nicht bestehen zu können. Diese Furcht wurde noch durch die Entwicklung zur Massenuniversität gesteigert und wir waren uns sehr sicher, dass wir zu einem Professor ins Examen gehen mussten, der uns nicht kannte, dem es also nach unserer Vorstellung relativ gleichgültig war, ob wir das Examen bestehen würden oder nicht.

Ich hatte damals einen Studienfreund, der als Original galt. Er verkündete vollmundig: “Lass das mal meine Sorge sein, ich werde erreichen , dass der Professor uns kennt.“ Ich hatte das Versprechen schon wieder vergessen und mich mit dem Risiko eines anonymen Examens abgefunden.

Eines Tages gingen der originelle Kommilitone und ich auf einem der sehr schmalen Bürgersteige in der Marburger Altstadt und auf diesem kam uns der Professor entgegen, der auch seinerseits ein zerstreutes Original war. Er schaute gedankenverloren vor sich hin.

Doch mein Kollege, anstatt der Autorität den Weg freizugeben, blieb abrupt vor dem Ordinarius stehen. Dieser schaute entgeistert und verwirrt, wer ihm den Weg versperrte. Mein Kollege blickte jedoch auf seine Schuhe hinunter, schaute ihm strahlend ins Gesicht und sagte begeistert: „Herr Professor, Sie haben aber schöne Schuhe, so feine Schuhe habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen.“ Der Gelehrte war völlig entgeistert, lächelte schüchtern und entgegnete: „So, meinen Sie? Kennen wir uns irgendwoher?“ Das kleine Studenten-Original antwortete: „Aber sicher, Herr Professor, wir sind eifrige Teilnehmer in ihrem Hauptseminar, wo ich die wunderbaren Schuhe schon bewundern durfte. Übrigens mein Begleiter ist der Herr Mittelberg und ich bin der Herr X.“

               Der Kommilitone hat Wort gehalten. Auf der nächsten Seminarsitzung kannte uns der Herr unserer Schicksale persönlich und er hat unsere Namen bis zu unseren erfolgreichen Examina nicht vergessen.








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Kommentare zu diesem Text


 Saira (29.10.23, 07:42)
Lieber Ekki,
 
hätte ich an der Seite deines Kollegen gestanden, wäre ich wahrscheinlich im Erdboden versunken. Diese Anbiederung wäre mir peinlich gewesen.
 
Welch ein Glück, dass der Vorfall offenbar keine negativen Auswirkungen auf eure Examina hatte.
 
Schmunzelgrüße
Sigi

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 29.10.23 um 10:33:
Merci, Sigi,
ich habe mich natürlich auch gefragt, weshalb der Professor so freundlich auf die plumpe Anbiederung reagierte. Er war als einsamer Einzelgänger bekannt, der angeblich weder zu Frauen noch zu Männern sexuelle Kontakte hatte. Weil er auch keinen Austausch auf anderen Ebenen suchte, muss er vereinsamt gewesen sein. Vielleicht wollte er das plumpe Kompliment meines Kommilitonen als solches gar nicht wahrnehmen und freute sich, außerhalb seines Fachgebiets angesprochen zu werden.
Eines ist sicher: In den frühen sechziger Jahren gab es mehrere verschrobene Originale unter den Professoren, die meistens Studenten auf Abstand hielten und von ihnen autoritätsfixiert behandelt wurden.

Liebe Grüße
Ekki

 Mondscheinsonate (29.10.23, 10:35)
Schön geschrieben. Ich hab das ständig. Wir kennen uns nie, außer BR von den Konferenzen.

 EkkehartMittelberg antwortete darauf am 29.10.23 um 10:52:
Liebe Mondi,
ich habe in meinem Leben aus besonderen Gründen mehr Examina als üblich bestehen müssen. Darunter waren auch Prüfer, die mich nicht kannten. Bei den Unbekannten gelang es mir fast nie, für einen Moment die Initiative im Gespräch zu übernehmen, indem ich die Aufmerksamkeit des Prüfers auf Gebiete lenkte, in denen ich mich stark fühlte. So gesehen waren für mich die "anonymen" Examina tatsächlich die schwierigeren. 

LG
Ekki

 Mondscheinsonate schrieb daraufhin am 29.10.23 um 13:01:
Sind sie, absolut. Du bist nur eine Nummer.

 Dieter_Rotmund (29.10.23, 13:23)
Ich bin eigentlich kein Freund von Autobio-Texten, aber diese kleine Anekdote habe ich gerne gelesen.

 EkkehartMittelberg äußerte darauf am 29.10.23 um 19:14:
Danke, Dieter, ich höre die Ausnahme natürlich gern.

 harzgebirgler (29.10.23, 18:23)
:) :) :) 
"Vielleicht gibt es überhaupt keine schlechtere Gelegenheit, sich von einer vorteilhaften Seite zu zeigen, als grade eine öffentliches Examen. Abgerechnet, daß es schon widerwärtig und das Zartgefühl verletzend ist, und daß es reizt, sich stetig zu zeigen, wenn solch ein gelehrter Roßkamm nach den Kenntnissen sieht, um uns, je nachdem es fünf oder sechs sind, zu kaufen oder wieder abtreten zu lassen: es ist so schwer, auf ein menschliches Gemüt zu spielen und ihm seinen eigentümlichen Laut abzulocken, es verstimmt sich so leicht unter ungeschickten Händen, daß selbst der geübteste Menschenkenner, der in der Hebeammenkunst der Gedanken, wie Kant sie nennt, auf das meisterhafteste bewandert wäre, hier noch, wegen der Unbekanntschaft mit seinem Sechswöchner Mißgriffe tun könnte. Was übrigens solchen jungen Leuten, auch selbst den unwissendsten noch, in den meisten Fällen ein gutes Zeugnis verschafft, ist der Umstand, daß die Gemüter der Examinatoren, wenn die Prüfung öffentlich geschieht, selbst zu sehr befangen sind, um ein freies Urteil fällen zu können. Denn nicht nur fühlen sie häufig die Unanständigkeit dieses ganzen Verfahrens: man würde sich schon schämen, von jemanden, daß er seine Geldbörse vor uns ausschütte, zu fordern, viel weniger, seine Seele: sondern ihr eigener Verstand muß hier eine gefährliche Musterung passieren, und sie mögen oft ihrem Gott danken, wenn sie selbst aus dem Examen gehen können, ohne sich Blößen, schmachvoller vielleicht, als der, eben von der Universität kommende, Jüngling, gegeben zu haben, den sie examinierten."
(Kleist, Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden, 1805)

LG
Henning

 EkkehartMittelberg ergänzte dazu am 29.10.23 um 21:28:
Hallo Henning,
immer wieder verblüfft mich dein Wissen. Den Aufsatz von Kleist habe ich bisher nie mit Examina in Verbindung gebracht.

Besgte Grüße
Ekki

 plotzn (29.10.23, 19:31)
Servus Ekki,

so ähnlich funktioniert Werbung. Vielleicht etwas subtiler und unauffälliger, aber der Mensch ist halt kein rein rationales Wesen...

Liebe Grüße
Stefan

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 29.10.23 um 21:31:
Vielen Dank, Stefan,
daran habe ich gar nicht gedacht.

Liebe Grüße
Ekki

 TrekanBelluvitsh (30.10.23, 01:59)
Was du da in Form eines Schwankes erzählst, ist leider bitterer Ernst. Es mag in jedem Berufszweig gelten, doch gerade in der Wissenschaft (und der Kunst!) ist man ohne Beziehungen aufgeschmissen bzw. selbst die Mittelmäßigen werden durch Beziehungen Experten.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 30.10.23 um 12:19:
Hallo Trekan,
selbstverständlich stimme ich dir zu, mein Freund. Ich freue mich sehr, nach so langer Zeit wieder von dir zu hören.
Ich hoffe, dass wir wieder öfter Kontakt haben.
Alles Gute
Ekki
Teolein (70)
(30.10.23, 12:30)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 30.10.23 um 12:37:
Merci, Teo,
ich räume ein, dass ich mich wegen der unvermuteten Ansprache meines Kollegen geschämt habe.
Aber ich bin sicher, dass selbst das plumpe Kompliment den weltfremden Professor aus tiefer Vereinsamung gerissen hat. Anders kann man es nichgt deuten, dass er uns danach freundlich behandelt hat.
Beste Grüße
Ekki
Teolein (70) meinte dazu am 30.10.23 um 12:45:
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Taina (39) meinte dazu am 30.10.23 um 13:15:
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Teolein (70) meinte dazu am 30.10.23 um 13:24:
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Taina (39)
(30.10.23, 13:06)
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 GastIltis (30.10.23, 15:45)
Lieber Ekki,
dein Beispiel ist schon interessant. Wir waren im Studium Bauingenieurwesen insgesamt etwa zweihundert Studenten, die bis zum Vordiplom alle die gleichen Fächer zu absolvieren hatten. So gehörte auch das Fach Elektrotechnik dazu. Weil die Vorlesungen an einem Sonnabend stattfanden, hatte ich nicht eine einzige davon besucht. Die Prüfung fand in der Faschingszeit statt. Ich habe das wohl schon einmal geschrieben. Alle zweihundert Prüflinge warteten in einem Saal zur schriftlichen Prüfung, zu der der Professor und die zwei Assistenten etwa zehn Minuten zu spät kamen. Wir Studenten hatten inzwischen das schöne Lied von Ernst Neger angestimmt: „Schnaps, das war sein letztes Wort, ...“ Zu meiner Ehre muss ich gestehen, dass ich das Fach mit einem „Gut“ überstanden habe. Hier hatte es sich gelohnt, einmal nichts zu tun!
Herzlich Gil.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 30.10.23 um 21:17:
Gracias Gil, dein Kommentar ist nicht minder interessant. Du hast einmal nichts getan und da passt das alte Sprichwort: "Den Tüchtigen unterstützt das Glück."
Herzliche Grüße
Ekki
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